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Freitag

Gewaltfreiheit wirkt! - 60 gewaltfreie Siege aus den vergangenen hundert Jahren

Gewaltfreiheit wirkt!
60 Erfolge gewaltfreien Handelns aus den vergangenen hundert Jahren

Das Folgende ist eine Auswahl besonders berichtenswerter Beispiele gewaltfreier Aktionen. Allerdings ist Gewaltfreiheit bei näherer Betrachtung ganz normal. Im täglichen Leben – wie auch zwischen Staaten – werden Streitigkeiten üblicherweise gelöst, ohne auf Gewalt zurückzugreifen. Erinnern wir uns also daran: Gewalt ist die Ausnahme – Gewaltfreiheit ist die Regel.

1. Transvaal, Südafrika 1907-14 – Gandhi führt eine Kampagne für die Rechte der Inder in Transvaal zum Erfolg, indem er sich weigert, ungerechte Gesetze und Einschränkungen einzuhalten.

2. Brasilien 1910 – Friedenschluss zwischen europäischen Siedlern und dem Stamm der Chavantes. Beim ersten Versuch wurden 25 unbewaffnete Freiwillige, die General Rondon geschickt hatte, umgebracht. Beim zweiten Versuch wurde Frieden erreicht.

3. England 1915-18 – die Standhaftigkeit der Kriegsdienstverweigerer im Ersten Weltkrieg, selbst vor der Bedrohung, in Frankreich an der Front exekutiert zu werden, erbrachte ihnen das verbriefte Recht, nicht töten zu müssen.

4. Indien 1918-47 – neben vielen anderen gewaltfreien Kampagnen gegen die britische Herrschaft wandte sich Gandhi gegen die Salzsteuer und führte 1930 einen symbolischen Marsch ans Meer, um Salz selbst herzustellen. Die Briten reagierten häufig mit brutaler Gewalt gegen den gewaltfreien Aufstand, aber 1947 wurde die Unabhängigkeit erlangt.

5. Ruhrgebiet, Deutschland 1923 – passiver Widerstand gegen französische und belgische Besatzung verhinderte den Abtransport von Kohle, wie er als Reparationsleistung von Deutschland gefordert wurde.

6. Nordwest-Grenzprovinz, Indien 1929 – Abdul Ghaffar Khan bildete aus den traditionell ungezügelten Paschtunen eine große disziplinierte gewaltfreie Armee, die der britischen Herrschaft widerstand.

7. England 1932, massenhafte Übertritte auf gesperrtes Land führten im nordenglischen Hügelland (Peak District) zunächst zu Verhaftungen, dann zur Bewegung für Zugangsrechte zum britischen Moor.

8. Liberia 1932 – das Land war vom Bürgerkrieg zerrissen. Ein Vermittler des Völkerbundes war in der Lage, die Wurzel des Problems zu erkennen, die Krieg führenden Stämme zu entwaffnen und den Konflikt zu beenden.

9. Norwegen 1942 – Lehrer weigerten sich mit dem pro-nationalsozialistischen Quisling-Regime zusammenzuarbeiten. Viele von ihnen wurden /inhaftiert / in Konzentrationslager gebracht. Doch schließlich wurde die Verpflichtung, in den Schulen die Nazidoktrin zu unterrichten, zurückgenommen. Ausführlicher Bericht zu diesem Ereignis

10. Dänemark 1943 – SS Truppen schafften es nicht, die weit verbreitete Nicht-Bewegung der Nichtzusammenarbeit und Streiks gegen die Nazibesetzung zu stoppen. Fast alle 7000 jüdischen Bürgerinnen und Bürger wurden durch die widerständige Bevölkerung Dänemarks gerettet.

11. Berlin, Deutschland, 1943 – „Arische“ Ehefrauen deutscher Juden erreichten die Freilassung ihrer Ehemänner durch andauernde Mahnwachen vor dem Gebäude in der Rosenstraße, in dem die Männer festgehalten wurden.

12. Bulgarien 1943 –Leiter der orthodoxen Kirche in Bulgarien widersetzten sich während des Zweiten Weltkriegs erfolgreich der Deportation von Juden.

13. Guatemala 1944 – Diktator General Ubico wurde durch friedliche Studentendemonstrationen sowie durch Streiks, die die Hauptstadt lähmten und der Polizeigewalt trotzten, gestürzt.

14. Workuta, UdSSR, 1953 – ungefähr 250.000 politische Gefangene wurden in Lagern gehalten und gezwungen, unter schrecklichen Bedingungen in den Kohlebergwerken zu arbeiten. Die Gefangenen streikten und blieben trotz blutiger Vergeltungsmaßnahmen standhaft, bis man die Bedingungen verbesserte.

15. Alabama, USA 1955 – nachdem sich Rosa Parks geweigert hatte, in einem Bus mit Vorrangplätzen für Weiße ihren Sitzplatz aufzugeben, begann in Montgomery die Kampagne für Gerechtigkeit in Rassenfragen mit einem Busboykott, der ein Jahr dauerte.

16. Sizilien, Italien 1956 – Danielo Dolci organisierte einen ‚umgekehrten Streik‘, um auf die mittellosen Menschen aufmerksam zu machen. Arbeitslose stellten ihre Arbeitskraft kostenlos zur Verfügung und bauten Straßen, obwohl die Behörde am Ort widersprach.

17. Nagaland, Indien 1964 – Kirchenführer stellten sich an die Spitze von Versuchen, eine friedliche Lösung in Auseinandersetzungen mit den indischen Regierungstruppen zu finden.

18. Zypern 1964-74 – rund 10 Jahre hielten UN Blauhelme den Frieden zwischen türkischen und griechischen Zyprioten aufrecht (und wiederum nach der Teilung der Insel): eine ihrer mehr als 50 Friedensmissionen.

19 Kalifornien, USA 1965 - 70 – César Chávez, ein christlicher Community Organizer, führte Gewerkschaften unter den ausgebeuteten Wanderarbeitern ein. Ein nationaler und internationaler Weintraubenboykott bewegten die Anbauer dazu, sich auf Verhandlungen für bessere Arbeitsbedingungen einzulassen.

20. Nordirland 1968-1998 – obgleich die gewaltfreie Kampagne für Bürgerrechte durch paramilitärische Gewalt sabotiert wurde, konnte die stille Arbeit der Corrymeela Gemeinschaft und ähnlicher Gruppen Brücken über die Grenzen der Konfessionen hinweg bauen und so den Weg zu einem Waffenstillstand und einer Beilegung der Kämpfe bahnen.

21. Ahmedabad, Indien 1969 – Shanti Sena Friedensbrigaden stellten sich in Krawallen zwischen Muslime und Hindus und erreichten nach 4 Monaten geduldiger Versöhnungsarbeit Frieden.

22. Larzac Hochebene, Frankreich 1970-1981 – Demonstrationen, auch mit Schafherden in Paris unter dem Eiffelturm, brachten die Regierung dazu, ihre Pläne zur Ausdehnung eines Truppenübungsplatzes über das ganze Weideland zurückzunehmen.

23. Culebra, Puerto Rico 1971-1975 – Einwohner besetzten ein Schießübungsgelände der US Marine, stellten eine als Symbol geltende Kapelle wieder her und störten Militärübungen, bis die Insel als Zielgebiet aufgegeben wurde.

24. Baltimore, USA 1971 – (a) Kanus mit Friedensleuten aus Philadelphia stoppten ein Schiff, das Waffen für den Krieg nach Pakistan bringen sollte. Die Küstenwache half zwar die Blockade zu durchbrechen, aber die erzielte Öffentlichkeit führte dazu, dass die Waffenlieferungen gestoppt wurden. Eine ähnliche Taktik wurde genutzt (b) in Neuseeland 1976-1984, wo ein „Friedensgeschwader“ atomgetriebene Schiffe daran hinderte, in den Hafen von Auckland einzufahren, und (c) in Australien 1989-90 gegen den Import von Holz aus dem Regenwald, der dann reduziert wurde.

25. Vorgebirge des Himalaya, Indien 1972 – „Treehuggers“ (Menschen, die Bäume umarmen) aus 200 Dörfern verhinderten mit einer Reihe von Aktionen am Ort die Abholzung und Holzauktionen.

26. Whyl, Deutschland 1974 – Leute aus der Gegend besetzten den für ein Atomkraftwerk vorgesehenen Bauplatz länger als ein Jahr lang und verhinderten so den Bau – endgültig.

27. Sao Paulo, Brasilien 1974 – als Arbeiter einer Zementfabrik, denen ihr Lohn vorenthalten wurde, zu streiken begannen, wurden sie als Kommunisten diffamiert. Ihre über 7 Jahre andauernde Auseinandersetzung im Dialog mit den Eigentümern sorgte für viel Öffentlichkeit. Als schließlich Fahrer als Streikbrecher damit drohten, Streikende zu überfahren, schritt die Polizei ein. Die Arbeiter erhielten ihren Lohn.

28. Tschechoslowakei 1977 – die Charta 77 für Menschenrechte zu unterschreiben, erforderte viel Mut, führte aber 1989 zur „samtenen Revolution“ und der Wiederherstellung der Demokratie.

29. Buenos Aires, Argentinien 1977-1983 – die Mütter von der Plaza de Mayo, deren Kinder entführt worden waren, ignorierten Bedrohungen und hielten eine wöchentliche Mahnwache aufrecht, die Menschenrechtsverletzungen sichtbar machte und dabei half, Demokratie herzustellen.

30. Alagamar, Brasilien 1980 – Zuckerbarone eigneten sich Land an. Die Enteigneten kehrten zurück, um für den Eigenbedarf anzubauen, doch wurde es vor der Ernte ausgerissen. Die öffentliche Meinung unterstützte die Kleinbauern und die Regierung gewährte ihnen in großem Umfang Land.

Polen 1980-1989 – Solidarność, die Gewerkschaft die bei dem Streik auf einer Danziger Werft entstand, benutzte religiöse und nationale Gefühle, um eine Opposition aufzubauen und die kommunistische Regierung gewaltfrei zu stürzen.

32. Ungarn 1980-1989 - der schrittweise Wandel von einer totalitären zu einer demokratischen Regierung führte zu den Grenzöffnungen und der Kommunismus stürzte wie ein Soufflé in sich zusammen.

33. Niederlande 1982 – eine Volksbewegung von 400.000 Menschen demonstrierte gegen die Stationierung von Cruise Missiles.Keine wurden dort aufgestellt.

34. Nicaragua 1983-1990 – fast 4.000 Menschen aus US-amerikanischen Friedensgruppen kamen als „Zeugen für den Frieden,“ um in Dörfern zu leben, die von Angriffen der Contra Guerilla bedroht waren, die ihrerseits von den USA bewaffnet und trainiert wurden.

35. Philippinen 1986 – unter atemraubender Anspannung widersetzten sich Massen von Zivilisten drei Tage lang dem Militär, zogen es schließlich auf ihre Seite und erreichten so nach 13 Jahren Kriegsrecht den Sturz von Diktator Marcos. Ausführlicher Bericht zu diesem Ereignis

36. Baltische Republiken 1988-1991 – Litauer, Letten und Esten nahmen an der 600 km langen Menschenkette teil, die ihre drei Hauptstädte verband. Als sich Litauen für unabhängig erklärte, schickte die Sowjet-Union Panzer, aber die Menschen blieben standhaft ohne zu Gewalt zu greifen, und die Truppen zogen schließlich ab. In Estland sammelten sich große Menschenmassen in Riga und sangen traditionelle estnische Volkslieder (die in der Sowjetunion verboten waren): die „singende Revolution“. Alle drei Staaten erzielten ihre Unabhängigkeit ohne Gewalt.

37. Ostdeutschland 1989 – Gebetsversammlungen, die seit 1981 in der Leipziger Nikolaikirche abgehalten wurden, breiteten sich über das Land aus und die kommunistische Regierung wurde zum Rücktritt gezwungen, was den Weg zu freien Wahlen öffnete. Es gab kein Blutvergießen.
Ausführlicher Bericht zu diesem Ereignis

38. Kasachstan 1989-1991 – Großdemonstrationen und politische Lobbyarbeit gegen ein Atomtestgelände führten zum Teststopp und zur Schließung des Geländes.

39. Mosambik 1989-1992 – die in Rom ansässige Gemeinschaft Sant‘Egidio, die aufgrund ihrer humanitären Arbeit Vertrauen genießt, konnte eine Vereinbarung zwischen RENAMO und FRELIMO Streitkräften vermitteln, die einen 10-jährigen Krieg beendete.

40. Mongolei 1990 – 6-monatige Streiks, Hungerstreiks und öffentliche Aktionen zwangen ein Regime von Hardlinern in Richtung Demokratie, Pressefreiheit und Wirtschaftsreformen.

41. Südafrika 1990 – Nelson Mandela gab Südafrika dank seiner Haltung der Vergebung am Ende der Apartheid Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Das Apartheidregime als solches war schon durch Boykotte außerhalb und innerhalb des Landes gegen Sportveranstaltungen, Investitionen und anderes erschüttert.

42. Russland 1991 – das Volk in Moskau widerstand einem Militärputsch gegen Präsident Gorbatschow, indem es sich Panzern entgegen stellte und das Militär auf Abstand vom russischen Parlament hielt.

43. Thailand 1991-1992 – nach der Machtergreifung durch das Militär führte das Beten und Fasten von Mönchen nach sieben Monaten zu Großdemonstrationen, so dass anstelle militärischer Repression doch wieder demokratische Regeln eingeführt wurden.

44. Mali 1991-1996 – gewaltsame Konflikte zwischen bewaffneten Tuareg sowie arabischen Gruppen und der Regierung wurden durch ausgedehnte Verhandlungen zwischen den Gemeinschaften in örtlichen Gesprächsrunden gelöst.  Dann wurden bei einem feierlichen Freudenfeuer Waffen verbrannt.

45. Somalia 1991-2000 – interne kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Stämmen wurden dadurch unterbrochen, dass Frauen sich auf die jeweils andere Seite begaben, so Spannungen abbauten, für die Freilassung von Geiseln sorgten, Hilfslieferungen und Demobilisiserungsprogramme organisierten und einen Friedensprozess vorbereiteten.

46. Ecuador 1992 – Tausende von Stammesangehörigen marschierten vom Oberlauf des Amazonas nach Quito und kampierten drei Wochen lang im Park. Die Regierung gewährte ihnen förmlich Eigentum über mehr als 4000 Quadratmeilen ihrer angestammten Heimat.

47. USA 1993 – Kirchen brachten schwarze und weiße Anführer von Jugendbanden zu einem Treffen in Kansas City zusammen, indem sie ihnen die Aussicht auf Gemeinschaftsaufbau anboten.

48. Ghana 1994-1996  – die Nairobi Peace Initiative erreichte eine Lösung für den mit Waffen ausgetragenen ethnischen Konflikt zwischen den Völkern Nordghanas.

49. Peru/Ecuador 1995-1998 – ein amerikanisches Konfliktmanagement-Team vermittelte eine friedliche Lösung für den Grenzkonflikt, der seit 1884 34mal zu Kämpfen geführt hatte.

50. Uganda1998 – Die Acholi Religious Leaders‘ Peace Initiative arbeitete für ein gewaltfreies Ende bewaffneter Konflikte, trainierte Freiwillige in Mediation und unterstützte Überlebende des Bürgerkriegs zwischen der ‚Lord’s Resistance Army‘ und den Regierungstruppen.

51. Australien 1998 – Die ‚Sorry Book‘-Kampagne sammelte von tausenden Australiern Unterschriften, um für frühere Menschenrechtsverletzungen gegen die eingeborene Bevölkerung um Entschuldigung zu bitten.

52. Serbien 1998-2000 – von Studenten angeführte Demonstrationen in Belgrad, unter Nutzung von Graffitis, Humor und Mobiltelefonen bewirkten den Sturz von Präsident Milošević, der sich geweigert hatte, seine Wahlniederlage zu akzeptieren.

53. Palästina Israel 2001 – fünf israelische Frauen begannen, Kontrollpunkte, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser kontrollieren sollen, zu überwachen. Zunächst als unpatriotisch abgetan, gehören inzwischen einige hundert Beobachterinnen zu Machsom / CheckpointWatch, die in Schichten das Verhalten von Soldaten und Polizei beobachten, für den Schutz der Bürgerrechte der Palästinenser sorgen und ihre Beobachtungen an die Öffentlichkeit bringen.

54. Nigeria 2002 – 150 Frauen aus den Dörfern brachten eine Erdölproduktionsstätte für 10 Tage zum Erliegen, indem sie von Booten aus mehrere Pipeline-Köpfe von Chevron Texaco besetzten. Mit der Drohung, sich auszuziehen, falls sie entfernt würden, verlangten die Frauen von der Ölgesellschaft Arbeit und verbesserte Bedingungen in den Dörfern.

55. Liberia 2002-2006 – Blockaden und Sitzstreiks einer Koalition christlicher und muslimischer Frauen brachten die Männer dazu, über das Ende eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs zu verhandeln. Sie mobilisierten erfolgreich Unterstützung für die erstmalige Wahl einer Frau als afrikanisches Staatsoberhaupt.

56. Ukraine 2004 – aus umfangreichen öffentlichen Proteste gegen eine korrupte Wahl und Neuwahlen geht die ‚orange Revolution‘ hervor.

57. Palästina Israel 2005 - Bewohner von Bil’in entschieden sich, für den Widerstand gegen die Enteignung ihres Landes, auf dem illegale israelische Siedlungen und die Trennmauer gebaut werden sollten, für eine gewaltfreie Vorgehensweise. Sie erreichten einen Beschluss des Obersten Gerichts Israels, wonach die Streckenführung der Trennmauer verändert werden musste. Ihrer andauernden wöchentlichen Mahnwache an der Trennmauer begegnet das Militär mit Gewalt.

58. Guatemala 2007 – junge Stelzenläufer nutzten Zirkuseinlagen und Straßenkarneval um das Klima der Gewalt, das von brutalen Jugendbanden ausging, zu verwandeln.

59. Thailand 2008 – Tausende von Demonstranten gegen die Regierung brachten Bangkoks Flughafen für acht Tage zum Erliegen. Die Machtprobe endete, als ein Gericht die Regierungspartei auflöste und den Premierminister wegen Wahlbetrugs von öffentlichen Ämtern ausschloss.

60. Pakistan 2009 – Großdemonstrationen und ein Marsch auf Islamabad, angeführt von den Rechtsanwälten des Landes, zwang den Präsidenten dazu, den Obersten Richter wieder in sein Amt einzusetzen, der 2 Jahre zuvor ohne Begründung von der Militärregierung abgesetzt worden war.


GEWALTFREIHEIT IST NORMAL
GEWALT IST DIE AUSNAHME

Diese Beispiele aktiver Gewaltfreiheit zeigen, dass in der ganzen Welt Menschen das Potenzial der Gewaltfreiheit erkannt haben, wenn es darum geht, sich gegen Unrecht einzusetzen und Veränderungen zu bewirken. Einige von ihnen bestanden aus einer kurzen Episode oder Kampagne, andere erforderten enormes Durchhaltevermögen und viele kleine Schritte über einen langen Zeitraum, bis der Wandel eintrat. Gewaltfreiheit bietet keine Patentlösung.

Fehlschläge? Erfolge gewaltfreier Aktion sind nicht wie Märchen
Sie enden auch nicht öfter „glücklich und zufrieden bis ans Lebensende“, als wenn Gewalt angewendet wurde. Die Bevölkerung muss andauernd wachsam bleiben und gewaltfreie Aktionen müssen möglicherweise wiederholt werden, wie es etwa 2001 in den Philippinen der Fall war. Gelegentlich hat der Erfolg nur eine kurze Lebensdauer, weil die neue Situation, die sich aus einer gewaltfreien Kampagne ergibt, zu neuer Gewalt führt (wie etwa nach der indischen Unabhängigkeit mit Teilung des Landes).

Viele gewaltfreie Aktionen, wie etwa die Studentenproteste am Tiananmen Platz 1989 in Peking, hatten keinen Erfolg, veränderten aber das öffentliche politische Bewusstsein. Andere Kampagnen haben die Bewusstheit von Gefahren, Ungerechtigkeiten und Problemen verbessert, die beispielsweise von Atomwaffen, Straßenbau, genmanipulierten Lebensmitteln, Frauenbenachteiligung, Waffenhandel usw. ausgehen.

Lernen, wie Gewaltfreiheit wirkt
Eine bedeutsame Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts war die Verbreitung von Programmen zur Ausbildung in der Konfliktbearbeitung und dem Friedenstiften in Schulen, Kirchen, Gemeinschaften und zwischen Staaten. Quäker und Mennoniten haben diese Entwicklung vorangetrieben. Die Universität Bradford hat eine große Fakultät für Friedensstudien, die Studenten aus aller Welt anzieht.

In seinen Büchern zählt der amerikanische Wissenschaftler Gene Sharp fast 200 Methoden gewaltfreier Aktion auf, um Gerechtigkeit und den Sturz von Unterdrückern zu erreichen oder sich für Umweltbelange einzusetzen. Jesus zeigte bereits vor 2000 Jahren die gewaltfreie Art auf, sich den Mächtigen entgegen zu stellen, Ungerechtigkeiten aufzudecken, dabei Regeln zu brechen, um eine herrschende Kultur herauszufordern und Menschenwürde zu reklamieren: Lieber selbst leiden, als gewaltsam zurückzuschlagen. Dieser Ansatz konnte über viele Jahre hin fantasievoll vielfältig weiterentwickelt werden. Die Grundidee bleibt die gleiche: Unterdrückte nehmen sich ihre Macht zurück und nutzen sie, wobei sie dem Unterdrücker wohlwollend-gerecht die Möglichkeit anbieten, auf ihre Seite zu wechseln.

Gewaltfreiheit wirkt!
Erstveröffentlichung 2010 durch die Baptist Peace Fellowship, den britischen Versöhnungsbund und die britische Sektion von Pax Christi.
Original in englischer Sprache
Redaktion der deutschen Übersetzung: Martin Arnold 2018


Die ägyptische Revolution 2011: Mechanismen von Gewalt und Gewaltlosigkeit

Ein Vortrag von:
Prof. Dr. Patricia Bauer
PD Dr. Michael Berndt
Prof. Dr. Bertold Schweitzer



















Donnerstag

Die Abschaffung des Sklavenhandels - ein kleiner Comic


Achtung vor dem Gegner

"Im Geheimnis eines Seufzers kann das ungesungene Lied des Friedens keimen. Klagemauer Nacht, von dem Blitze eines Gebetes kannst du zertrümmert werden."           

So beginnt ein Gedicht von Nelly Sachs. Von beidem will ich erzählen, sowohl Geheimnis eines Seufzers, aus dem ahnungslos das ungesungene Lied des Friedens keimen kann, als auch vom Blitze eines Gebetes.

Die Seufzer galten der Herausforderung, der ich mich unentrinnbar stellen musste, damit die „Klagemauer Nacht von dem Blitze eines Gebetes zertrümmert werden“ konnte. Doch davon ahnte ich nichts in jenen Tagen, als in Lateinamerika eine Militärdiktatur nach der anderen errichtet wurde, während ich  als blutjunge Krankenschwester in Elendsvierteln Not zu lindern versuchte. Egal an welche Grenze oder in welch entlegenen Winkel eines Landes ich kam, überall begann die Willkür der Stiefel zu herrschen. Sogar in jenem winzigen Nest hoch in den Anden, in dem es nichts zu bewachen gab, weder Grenze noch Straße oder Bahn, Bergwerk oder Bank, nicht einmal ein Geschäft, nichts. Nur eine winzige Schule, in der der Lehrer spanisch und die Kinder quechua sprachen.
Vor meiner Abreise nach einem kurzen Zwischenstopp in der Heimat, hatte ich  einem Freund verraten, dass ich mich einer Guerillabewegung anschließen wolle. Es sei doch sinnlos innerhalb eines übermächtigen Systems direkter und struktureller Gewalt „Pflasterl zu picken“, anstatt zu verhindern, dass Menschen so zugerichtet werden. Als letzte Gegenrede schob mir jener Freund schweigend ein Buch über Gandhi in eine Außentasche meines Rucksacks. Dort fand ich es zwei Wochen später, angekommen „am Ende der Welt“ nach einem sechzehnstündigen Ritt durch eine atemberaubende Landschaft über einen Pass von 5200m. Bei zugig flattrigem Kerzenschein las ich darin, erstaunt, kopfschüttelnd, voll Widerspruch, ungläubig. Eingemummelt in meinen Schlafsack in dem armseligen Quartier raubte mir Gandhi oft den dringend nötigen Schlaf. Noch ein paar Monate würde ich hier als Krankenschwester arbeiten, dann eintauchen in den Kampf um eine gerechtere  Welt.

Aber Gandhis Weg hält mich auf Trab, wenn ich hoch zu Ross stundenlang unterwegs bin von einem Dorf zum andern. Überall erwartet mich mehr Arbeit, als ich allein bewältigen kann. Zu Fuß schaffe ich die steilen Wege  zwischen 3000 und 4500m Höhe nicht. Die armen Bauern haben weder Reit- noch Lasttiere, nur ganz wenige können sich einen Esel leisten. Die steilen, steinigen Felder reichen gerade für ihre Schafe. Also habe ich mir ein Pferd ausgeliehen, denn ich brauche fast täglich eines.  Auf der Koppel der Militärpolizei hatte ich eines entdeckt, das anscheinend nie gebraucht wurde. Es war der Hengst und die Militärpolizisten hatten sich einen ganz besonderen Spaß erwartet, als sie mir die Ausleihe genehmigten. Aber das wäre nun eine andere Geschichte. Nur so viel zum Verständnis meines Berichtes: Von Pferden hatte ich keine Ahnung. Ich ließ mich von ihnen mit großem Vergnügen durch die Gegend tragen. Das war alles.  Bei meinem Annäherungsmanöver an den Hengst konnte ich mich nur auf meine Intuition verlassen. Die verstand der „schwarze Teufel“, wie ihn die MPs nannten, offensichtlich besser als deren Schläge.  Noch hatte ich keine Ahnung, welch besonders gewalttätigen Ruf die Militärpolizei in jener Gegend hatte.
In den einsamen Stunden zu Pferd beschäftigt mich ein spezieller Gedanke aus meiner Nachtlektüre ganz besonders: Gandhi rät, den Gegner durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abzubringen. Wiederholt war da die Rede davon, wie wichtig im gewaltfreien Kampf die Achtung vor dem Gegner sei. Die Achtung vor dem Gegner, wie geht das? Wie bewahrt man sich die Achtung vor dem Gegner, wenn man nur widerwärtige Abscheu fühlt oder nackte Angst?

Jedes Mal tauchen vor mir Bilder auf -  wie das einer wehrlosen Frau, die von zwei Militärpolizisten an ihren langen Haaren aus einer Blechtonne gezogen und mit den Gewehrkolben brutal zusammen geschlagen wird oder-
 wie ich selber vollkommen ausraste in hilfloser Wut über die menschenverachtenden, zynischen Antworten eines Firmenchefs.  Sprachlos geworden hole ich mit lautem Räuspern den dicken Patzen Wut aus meiner tiefsten Tiefe und spucke ihn auf seinen schön polierten Mahagonitisch.
Ich weiß nicht, wie das geht: Achtung vor dem Gegner! Aber ich weiß, dass Gandhi auch  solche Gegner meint, wie sie in meiner Erinnerung auftauchen.
Dass meine fast zwanghafte Auseinandersetzung mit der „ Achtung vor dem Gegner“  etwas mit meiner Kindheit zu tun haben könnte, kam mir damals überhaupt nicht in den Sinn. Dabei hatte ich doch von Kindesbeinen an geübt, wie man einen Gegner durch Verachtung strafen kann. Ganz unfreiwillig hatte ich entdeckt, wie ich meinen ehemals geliebten Volksschullehrer bestrafen konnte. Die Straftechnik ergab sich aus einer psychosomatischen Reaktion:  Ich war vor Entsetzen erstarrt, als er meinem Bruder und seinem Freund befahl, vor der ganzen Klasse die Hosen auszuziehen und sich auf die erste Bank zu legen, während er den Riemen aus seiner Hose zog. Dann forderte er die Klasse auf  laut zu zählen. Zehn Schläge für jeden. Und mit jedem Schlag wuchs mein Grauen, denn was sich im Gesicht meines  Lehrers breit machte, ging über mein Entsetzen hinaus: Es gefiel ihm! Ja, das Schlagen oder die Schmerzensschreie bereiteten ihm sichtlich Vergnügen.
Daran starb meine erste große Liebe und ich erstarrte. In den darauffolgenden Stunden konnte ich nicht antworten und an den kommenden Tagen entdeckte ich, dass ich, bis dahin eindeutig seine Lieblingsschülerin, ihn damit bestrafen  konnte, dass ich ihn bockig schweigend anstarrte. Ich antwortete nicht mehr auf seine Fragen,  reagierte weder auf seine Drohungen noch auf sein Gebrüll. Ich sah wie ich ihn quälen konnte und entdeckte, ohne es wirklich zu begreifen, wie Verachtung den Gegner klein macht.

Der Lehrer wurde irgendwann versetzt aber mein Vater blieb. An ihm exerzierte ich von da an meine Entdeckung, wenn er meine Mutter mit seinen unerträglichen Schikanen terrorisierte. Ich ignorierte ihn so gut es ging, grüßte ihn nicht, schaute bewusst an ihm vorbei, antwortete auf keine seiner Fragen, verließ, wenn es irgendwie ging, jeden Raum, sobald er ihn betrat, übte gezielt Verachtung des Gegners,  obwohl ich damals - oder vielleicht weil ich noch kein einziges Wort für mein Tun hatte.  Aber meine Spucke auf dem Mahagonitisch des Firmenchefs zeigt, wie weit ich nach Jahren des Trainings in der Disziplin „ Verachtung des Gegners“ gekommen war.
Nun aber sitzt „die Achtung vor dem Gegner“ wie ein Stachel in mir. Ich bin viel unterwegs mit “meinem Hengst“, komme oft sehr spät zurück ins Dorf, bringe dann immer mein Pferd zurück auf die Koppel der Militärpolizei, schaue meistens bei Kranken im Ort vorbei, richte  noch die nötigsten Dinge her für den kommenden Tag. So auch in jener Nacht. Im winzigen Licht einer Kerosinfunzel suche ich zusammen, was ich für den morgigen Tag brauche.

Plötzlich ist da ein Geräusch hinter mir. Und noch bevor ich mich umdrehen kann, umklammern zwei Pranken meinen Hals. Drücken zu.  Fest. Ich hatte nach der Kerosinfunzel greifen wollen, als ich das Geräusch hörte. Die fiel zu Boden und ein riesiger Militärstiefel trat auf sie. Ich ringe nach Luft, winde mich sinnlos, möchte schreien, kein Laut, kein Atemzug, mein Kopf, meine Ohren platzen,  meine Sinne schwinden – kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, schießt es wie ein Blitz durch mein Hirn: Die Achtung vor dem Gegner!
Bevor ich ohnmächtig werde, nehme ich noch wahr, wie meine Hände zitternd, flattrig über die Pranken streicheln, die mich würgen und ---  wie der Militärpolizist mich loslässt.
Ich liege am Boden, kann nicht atmen, weiß nicht, wo ich bin. Mein Hals, was ist mit meinem Hals?   Ich ersticke. Es ist stockdunkel. Ich möchte aufstehen, aber jemand hält mich fest. Plötzlich sagt eine leise, dumpf gepresste Männerstimme direkt neben mir: Porque? Porque has hecho esto? Warum? Warum hast du das getan?
Was?  Was habe ich getan?  Ich kann nicht reden. Mein Hals ist zu. Ich würge, ich kann den Speichel nicht schlucken, ringe nach Luft, bringe kein Wort heraus.
Ganz kurz blitzt vor meinem Gesicht eine Taschenlampe auf. Ich sehe eine Hand, eine Taschenlampe, mehr nicht. Ich weiß nicht wie lange ich schon da liege. Ich friere entsetzlich, wage aber nicht, mich zu rühren, versuche sogar mein Schlottern vor Angst und Kälte zu unterdrücken. Panik vor dem neben mir und Panik vor dem in mir: die Verletzungen im Hals drohen mich zu ersticken.
Langsam dämmert mir, was geschehen ist und dass es jeden Augenblick wieder passieren kann.  Der Mann ist ganz nahe. Aber er fragt immer wieder: Porque? Porque has hecho esto?
Er fragt mich, warum ich das getan habe. Allmählich begreife ich:  Er fragt nach dem Blitz in meinem Gehirn:  „die Achtung vor dem Gegner“, die meine Hände bewegte um seine zu streicheln. Wenn ich reden könnte, würde ich ihm sagen, dass nicht ich es war, die das getan hat. Es geschah durch mich.
Nachdem ich nichts sagen kann und mich nicht zu rühren getraue, beginnt er zu reden: „Du, du hast über meine Hand gestreichelt. Warum hast du das gemacht? Das hat noch keine, keine einzige Frau getan.“
Er redet und ich friere, aber je länger er redet, umso mehr verschwindet meine Angst. Mein Hals ist so geschwollen ,dass ich immer wieder meine, doch noch zu ersticken. Er redet mit leiser, heiserer Stimme von seiner Kindheit. Ich verstehe nicht alles. Irgendwann habe ich den Eindruck, dass er weint.
Nach qualvoll endloser Zeit höre ich Schritte. Er packt meinen Arm. „Hör gut zu! Zu niemand ein Wort! Du zeigst mich nicht an! Dafür lass ich die Weiber in Ruh!“
Die Schritte sind verhallt. Er steht auf und geht, der Comandante.

Schlotternd rapple ich mich hoch, finde Gott sei Dank eine Kerze und Zünder, suche nach einem abschwellenden Medikament, wickle ein Dreieckstuch mit Salbe um meinen Hals und schleppe mich todmüde und halb erfroren zu meinem Zimmer, verkrieche mich in meinen Schlafsack und weiß, dass ich gerettet bin:
Die Achtung vor dem Gegner hat mich gerettet, obwohl ich gar nicht richtig begriffen habe, wie das geht oder was da vor sich ging in jenem Augenblick, als der „Blitz eines Gebetes“ den Würgegriff löste. Was für eine Kraft ist das, die meine Hände bewegte?
Keine andere Kraft hätte mich retten können, kein Selbstverteidigungstrick, erst recht keine Gewalt. Und wenn ein einziger halbverstandener Satz aus Gandhis Lehre mehr bewirkt als ich mir überhaupt vorstellen kann, wozu dann mit der Waffe kämpfen?
Meine Augen fallen mir zu in der Gewissheit, dass ich von nun an geborgen bin in dieser Kraft und vor allem: dass keine andere Kraft unser beider Schicksal hätte wenden können.  Denn zutiefst in mir weiß ich, dass nicht nur ich gerettet worden bin in dieser Nacht.
Nelly Sachs sagt da zum Abschluss ihres Gedichts:“ Und alle, die Gott verschlafen haben, wachen hinter den stürzenden Mauern zu ihm auf.“
Eine Woche lang war ich sehr krank. Ich hatte hohes Fieber, hustete und mein Hals wollte nicht abschwellen. Die Würgemale waren noch viel länger zu sehen. Und obwohl ich sie verdeckte, hatte ich immer den Eindruck, dass alle Menschen um mich herum wussten, was geschehen war.
So lange ich dort war, hielt sich der Comandante an sein Versprechen. An meinen Teil hielt ich mich bis  vor wenigen Jahren, denn meine Kehle schnürte sich augenblicklich zu, wenn ich an das Ereignis dachte. Auch ohne daran zu denken, passierte es  mir häufig, dass ich plötzlich nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen konnte. Und noch immer erzähle ich nicht gerne davon und wenn ich es tue, nur um zu bezeugen, dass Gewaltfreiheit die innere Auseinandersetzung braucht mit dem, was kaum zu begreifen und dennoch viel wirksamer ist als alle Gewalt.
Inzwischen sind mehr als vierzig Jahre vergangen und ich bin noch immer am Üben, von Begegnung zu Begegnung. Vor allem dann, wenn ich diese am liebsten vermeiden würde, wie die mit den martialisch aufgetakelten Burschen in ihren Springerstiefeln, die mir fast jede Nacht entgegenkamen auf meinem Heimweg. Schon das Dröhnen ihrer Stiefel machte mir Angst. Sobald ich sie sah oder hörte, wechselte ich  die Straßenseite.

Eigentlich kenne ich keinen einzigen solchen Typen, weiß nichts von ihrem Leben, weiß nicht einmal ob die links oder rechts oder irgendwas Politisches sind, nehme aber von vornherein an, dass sie gewalttätig sind. Zumindest verbal, so laut und derb wie die sich gebärden. Skinheads, Rechtsradikale, Gesindel jedenfalls. Doch ich kenne keinen einzigen.
Ganz fest nehme ich mir vor, die Straßenseite nicht mehr zu wechseln. Es dauert Wochen. Denn jedes Mal, wenn ich es versuchen möchte, kommt mir gerade diese Gruppe noch lauter, martialischer, besoffener vor als die vorige. Lieber doch erst morgen.
Endlich, nach Wochen gelingt es mir geradeaus weiter zu gehen. Sie machen Platz, lassen mich vorbei ohne mich zu anzurempeln, ohne mich zu beschimpfen. Wie ganz normale Leute. Wahrscheinlich sind sie das ja, wollen nur nicht so aussehen.

Viele Wochen lang übe ich: Menschen sind sie, einfach nur Menschen wie ich. Nicht einmal Gegner, nur Gegenüber. Ihnen gebührt meine Achtung wie allen anderen Menschen auch. Einige müssen mich schon kennen, denn eines Nachts marschiere ich durch ein Spalier und wir grüßen einander. Gerne würde ich stehen bleiben und ein Gespräch beginnen, aber dafür reicht mein Mut noch nicht.
Aber die Übung hat mich vorbereitet für einen anderen Augenblick: Ich stehe am helllichten Tag an einer Bushaltestelle und beobachte eine Gruppe junger Männer, die heftig streiten. Keine Ahnung in welcher Sprache, aber das Gewaltpotential steigt hörbar bei jedem Wort. Da sehe ich ein Messer aufblitzen, Blut spritzt von der Hand eines Burschen, der offensichtlich versuchte, dem anderen das Messer zu entreißen. Zugleich sehe ich, dass ein Bus kommt. Es ist nur eine Station bis zur Unfallchirurgie. Blitzschnell bin ich mitten in der Gruppe, packe den Blutenden am Arm und ziehe ihn zum Bus. Er folgt brav wie ein Kind. Dabei bin ich viel kleiner, rund und alt, keine beeindruckende Erscheinung, aber keiner hindert mich. Nur den Buschauffeur muss ich anbrüllen, dass er endlich fahren soll, anstatt mir zu erklären, dass er nicht die Rettung sei.
Während ich im WC der Unfallambulanz das Blut des jungen Mannes aus meinem Pullover spüle, wird mir erst klar, was ich da getan habe und auch, dass ich es niemals getan hätte ohne die wochenlange Übung mit meinen martialischen Nachtwächtern.

Gandhi sei Dank!

The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan

TV-Kritik: The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan, Nathan der Weise
 Von Daland Segler

Eric Friedler erinnert in einer spannenden Dokumentation an den fast vergessenen israelischen Friedensaktivisten Abie Nathan.

„Ev’rybody’s talkin’ `bout...“ beginnen John Lennon und Yoko Ono jeweils die Strophen ihres Songs „Give Peace a Chance“. Zu denen, über die jeder redet, gehört demnach auch ein „Abie Nathan“. Davon abgesehen, dass der Name in den schriftlichen Wiedergaben des Liedtextes nicht auftaucht, sondern nur in einer Live-Version, weiß heute außerhalb Israels so gut wie – nein: so schlecht wie – kein Mensch mehr, wer Abie Nathan war.

Das hat der Mann nicht verdient. Und deshalb ist der Dokumentarfilmer Eric Friedler umso mehr zu loben, dass er Abie Nathan dem Vergessen entrissen hat. Denn der Israeli war so etwas wie eine Verschmelzung aus Mahatma Gandhi, John Lennon und Mutter Teresa. Klingt übertrieben. Ist es aber nicht. Denn die Taten aufzuzählen, mit denen dieser Mann die Menschheit bereichert hat, dafür reicht nicht der Platz einer Filmkritik noch der eines anderthalbstündigen Dokumentarfilms, wie ihn die ARD heute Abend (wieder einmal viel zu spät) zeigt.

So wird die rastlose Arbeit dieses Helfers der Notleidenden nur angerissen: Er reiste von den sechziger bis zu den neunziger Jahren immer wieder in die Katastrophengebiete wie Biafra, Kambodscha oder Äthiopien, um den Hungernden Lebensmittel und andere Hilfsgüter zu bringen – auf eigene Kosten und nur von ein paar Freunden unterstützt. Es sei „einfach die Pflicht eines jeden menschlichen Wesens, hierher zu kommen und zu helfen“, sagte er 1968 in Biafra, und wer die verhungernden Kleinkinder auf den Armen der Helfer sieht, muss schon aus Stein sein, um nicht erschüttert zu sein (und daran zu denken, dass es heute im Südsudan die gleichen Bilder wieder gibt).

Der selbstlose Helfer war nur eine der erstaunlichen Seiten des Abie Nathan, der findige Friedensaktivist eine andere. Überzeugt davon, dass Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn möglich sein müsse, provozierte er die Regierung seines Landes, das damals noch „in der Kibbuz-Atmosphäre verharrte“, wie Autor Dan Almagor formuliert, immer wieder mit pazifistischen Aktionen. So flog der als Pilot ausgebildete Nathan mitten in den Krisenzeiten 1966 von Israel nach Port Said in Ägypten oder durchquerte mit einem Schiff den Suezkanal – und nahm damit vorweg, was später politische Realität wurde: die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Ägypten.

Er ging 1978 in den Hungerstreik gegen den Siedlungsbau (wer würde das im heutigen Israel tun?); und drei Jahre bevor Schimon Peres und Yassir Arafat den Friedensnobelpreis bekamen, schüttelte Abie Nathan 1991 die Hand des Palästinenserführers und wurde dafür ins Gefängnis gesteckt – obwohl der einflussreiche Schimon Peres (90) sich heute im Interview als „sehr guten Freund“ des Pazifisten bezeichnet. Aber der Nestor der israelischen Politik sagt eben auch solche Sätze wie: „Eine Regierung will doch immer nur Ruhe“.
Schwimmende Radiostation

Seine Prominenz und die Mittel für seine wagemutigen Alleingänge erlangte der 1927 geborene und in Indien aufgewachsene Nathan dann durch eine dritte, seine John-Lennon-Seite: Er kaufte sich in Holland ein Schiff und ließ es zu einer schwimmenden Radiostation umbauen, nach dem Vorbild der in den sechziger Jahren in der Nordsee stationierten Piratensender wie „Radio Veronica“ oder „Radio Caroline“. Nathan taufte seinen Kahn „Peace“, und wenige Seemeilen vor der Küste Israels strahlte von 1973 an „The Voice of Peace“ aktuelle Popmusik und Friedensbotschaften aus, angeblich „somewhere from the mediterranien“, irgendwo vom Mittelmeer.

Der Sender wurde so populär, dass Nathan mit Radiowerbung Geld scheffeln und damit seine humanitäre und pazifistische Arbeit finanzieren konnte. Er fand Unterstützung bei den Kulturschaffenden auf der ganzen Welt, neben George Harrison, Joan Baez oder Gloria Gaynor zählten Schauspieler wie Michael Caine, Dirigenten wie Zubin Mehta oder Daniel Barenboim zu den Helfern des Helfers, und natürlich Lennon und Yoko Ono, die den Menschenfreund einen „weisen Mann“ nennt.

Eric Friedler hat die heute noch lebenden Freunde Nathans alle vor die Kamera bekommen, und sie zeichnen das Bild eines Mannes voller Leidenschaft für seine Sache. Es fällt kein einziger negativer Satz über Nathan, sieht man einmal von der Randbemerkung ab, es habe „keine Frau lange mit ihm ausgehalten“. Denn der Mann, der in Tel Aviv ein rasch populäres Restaurant namens „California“ eröffnet und den Hamburger nach Israel gebracht hatte, galt auch als Playboy, wie ein Berufener berichtet: Rolf Eden.

Friedlers Arbeit ist eine gelungene Abfolge von Interviews und (noch im 4:3 Format) eingeblendeten Szenen aus dem Leben Abie Nathans, mit flottem Soul und Funk aus den siebziger Jahren unterlegt und einigen Schwarz-Weiß-Fotomontagen im Stil von Kulissen aufgelockert. Er selbst kommt selten zu Wort – umso bedrückender ist die Sequenz, als er 1993 das Ende seines Senders bekannt gibt und sein Schiff versenkt: Die Menschen brauchten seine Botschaft nicht mehr. Ein Irrtum, wie wir heute wissen.

Aber damals schien das Osloer Friedensabkommen auf bessere Zeiten in Nahost hinzudeuten und „The Voice of Peace“ überflüssig zu werden. Die Unterstützer blieben weg, und Nathan fehlte nun das Geld für seine Missionen. Er starb verarmt, wie es im Nachspann heißt, 2008 in Tel Aviv, und auf seinem Grabstein steht: „Ich habe es versucht“. Er hat es nicht nur versucht, das belegt dieser Film, aber es gilt auch heute, was Israels Oberrabbiner Israel Meir Lau im Interview über die Katastrophe in Biafra sagt: „Die Menschheit hat nichts gelernt.“

„The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan“, ARD, 7. Januar, 22.45 Uhr.

Das Sommermärchen in Potsdam

Es war das berühmte Sommermärchen. In Deutschland fand die Fußball-WM 2006 statt. Ich bin kein ausgesprochener Fußballfan, hatte aber einige Spiele mit Interesse mitverfolgt. Als Deutschland gegen Italien im Halbfinale stand, war ich gerade bei meiner Tante in Potsdam zu Besuch und hatte eigentlich vor, wenn ich schon mal dort wäre, nach Berlin auf die Fanmeile zu fahren. Aber meine Tante meinte, in Potsdam gäbe es auch eine schöne Fanmeile, da könne ich sogar zu Fuß hingehen. So landete ich am Potsdamer Brandenburger Tor inmitten von einem kleinen Trupp von Nachzüglern, die aus Sicherheitsgründen erst mit ca. 10-minütiger Verspätung auf den gut gefüllten Platz gelassen wurden.

Die Stimmung war gut, und ich genoss das Gemeinschaftsgefühl auf dem Platz. Nur aus einer Ecke am Rand schallten hin und wieder unschöne Parolen. Einmal habe ich dagegen angebrüllt. Ich hatte mir angewöhnt, während der Live-Übertragungen zu beten, wenn ein Spieler sich verletzte, anstatt den unheilprohezeihenden Kommentatoren zu zuhören. Als auf der Leinwand gezeigt wurde, wie ein Italiener verletzt vom Platz getragen wurde, hörte ich bei uns auf dem Platz die boshafte Schadenfreude: „Hub-Hub-Hubschraubereinsatz". Da habe ich laut „Nein" gebrüllt. Da die Stimmung insgesamt ziemlich emotional war, wurde dieser Gefühlsausbruch meinerseits von den Umstehenden als normal eingestuft und sogar anerkennend zur Kenntnis genommen, was ein wenig grotesk war.

Am Ende blieb das große Feiern ja leider aus, weil Italien die Partie für sich entschieden hatte. Der Platz leerte sich allmählich. Die meisten waren friedlich und strömten dem Ausgang zu. Aber in einer Ecke formierten sich ein paar wütende Hass-Parolen-Brüller. Ich wollte gehen, stellte mich dann aber doch erst an einen der aufgestellten Biertische, um ein paar Augenblicke zu beten. Das Gebet gab mir die Gewissheit, dass Liebe mächtiger ist als Hass. Daraufhin verließ ich den Platz und schlenderte durch die Brandenburger Straße, eine lange Fußgängerzone. Irgendwo hinter mir hörte ich die aggressive Fangruppe, während vor mir auf der linken Seite ein italienisches Restaurant auftauchte. Dort feierte man natürlich den Sieg, ein paar junge Italiener standen draußen; vielleicht waren es 5 oder 6, ich kann es aber nicht mehr sicher sagen.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was mich dazu veranlasste, langsamer zu gehen, dann muss ich zugeben, dass es tatsächlich der Wunsch war dazwischen zu bleiben, um verhindern/ eingreifen zu können. Das klingt ziemlich idiotisch, war aber so. Jedenfalls überholte mich der deutsche Fanblock (ich weiß nicht, wie viele es waren, aber sie waren mehr als die Italiener), so dass ich genau hinter ihnen war, als es passierte. Erstes Anpöbeln durch die Deutschen. Die Italiener waren zurückhaltender; ich weiß nicht, ob sie etwas erwiederten. Einer aus der deutschen Gruppe schüttete den Inhalt eines Plastikbechers in Richtung der italienischen Gruppe, und dann gingen die beiden Gruppen aufeinander los. Dann ging alles irgendwie sehr schnell. Ich stand auf einmal mit erhobenen, ausgebreiteten Armen mittendrin und schaute meine Landsleuten in die Augen, die Italiener im Rücken. In dem Augenblick hatte ich gar keine Angst. Nur das Gefühl: nein, das darf nicht sein. Ich habe aber auch keinen Hass gespürt, und auch keine Verachtung. Ich glaube, das war wichtig. Einer wollte an mir vorbei, er war ungefähr so groß wie ich, vielleicht auch etwas kleiner, aber stämmig. Ich habe mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn gelehnt, die Hände ausgestreckt auf seinem Brustkorb abgestützt. Mit einem zweiten Angreifer habe ich es genauso gemacht. Und dann gingen sie weiter. Sie gingen einfach weiter. Ließen die Italiener und mich dort einfach stehen. Ich war dann recht verdattert. Keine Ahnung, was die Italiener über die Situation gedacht haben, denn ich habe mit ihnen kein einziges Wort gewechselt, bin dann auch einfach gegangen.

Einen Block weiter standen Polizisten. Während die Schlachtenbummler rechts um die Ecke bogen, ging ich links zu den Polizisten und sagte, sie sollten doch diese Gruppe mal im Auge behalten, und ich sagte allen Ernstes, dass ich gerade eine Prügelei verhindert hätte. Ich kam mir dann reichlich blöd vor... und auf einmal war ich mir meiner auch gar nicht mehr so sicher, bekam Angst, jemandem aus dieser Gruppe nochmal zu begegnen. Schließlich war ich als Frau alleine unterwegs, es war schon dunkel, und außerdem hatte ich die gerade an die Polizei "verpfiffen"... Ich sah also zu, dass ich auf dem schnellsten Weg nach Hause zu meiner Tante kam.

Rückblickend bin ich einfach sehr dankbar für diese Erfahrung. Ich versuche, mir in dieser ganzen Angelegenheit nicht heroisch vorzukommen, denn ich bin sicher: ohne Gebet und das Vertrauen auf die Gegenwart Gottes wäre diese Situation für mich hochgradig gefährlich gewesen, und aus mir selbst heraus hätte ich niemals tun können, was ich dort getan habe.

Montag

Jerusalem im Jahre 26 n.Chr.

Jerusalem im Jahre 26 n.Chr. Josephus Flavius berichtet von einem Ereignis, an dem „Tausende von Juden” beteiligt waren (Bell. II,9,171f). Es ging um die verpönten Bilder des „Gott-Kaisers” in Rom, die Pilatus nächtens nach Jerusalem hatte bringen lassen, um die Juden zu dessen Verehrung zu veranlassen:
„Die Juden erhoben sich gegen Pilatus in Caesarea, um ihn zu bitten, die Bilder aus Jerusalem zu entfernen [...] Da Pilatus sich weigerte, lagerten sie sich um sein Haus und blieben dort fünf Tage und fünf Nächte. Am sechsten Tag begab sich Pilatus vor sein Tribunal im großen Stadion und rief das Volk unter dem Vorwand zusammen, auf sein Begehren antworten zu wollen; den bewaffneten Soldaten gab er den Befehl, die Juden zu umzingeln. Als die Juden sahen, wie die Soldaten sie mit einem dreifachen Ring umgaben, blieben sie vor diesem unerwarteten Schauspiel stumm. Pilatus, nachdem er ihnen erklärt hatte, er wolle sie töten lassen, falls sie das Bildnis des Kaisers nicht anerkennen würden, gab den Soldaten das Zeichen, ihre Schwerter zu ziehen. Doch die Juden warfen sich, wie auf einen gemeinsamen Befehl, auf die Erde und boten ihren Nacken dar, alle bereit, lieber zu sterben, als das Gesetz zu verletzen. Von diesem religiösen Eifer überwältigt [wörtlich: Das Lautere der Gottesfurcht überbewundernd] , gab Pilatus den Befehl, die Bilder aus Jerusalem zu entfernen.”

Falls Jesus von Nazareth nicht selbst dabei war, so hat er doch mit Sicherheit davon gewusst. Seine Seligpreisungen und die Worte zur Feindesliebe dürften davon beeinflusst sein. (Martin Arnold)

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Tusculum, 4. Jahrhundert v.Chr.

Tusculum, Rom, 4. Jahrhundert v.Chr. Krieg gegen Tusculum, Camillus solle ihn führen, dies beschloss der römische Senat, denn obwohl Tusculum mit Rom verbündet war, hatten Tusculaner mit Erlaubnis ihres Staates zusammen mit den Volskern gegen Rom gekämpft. Titus Livius berichtet davon in seiner Römischen Geschichte Seit der Gründung der Stadt (Buch VI, 25f). Unabhängig von der Frage, wie zuverlässig der Geschichtsschreiber hier erzählt,  können wir das Geschilderte einschließlich der ungewöhnlichen Fortsetzung zum Anlass für weitergehende Überlegungen nehmen. Camillus lässt das römische Heer gegen Tusculum ausrücken, ein Lager aufschlagen – und findet Tusculaner draußen auf den Feldern arbeiten und das Stadttor offen. In Scharen gehen Tusculaner zivil gekleidet den Bewaffneten furchtlos entgegen und bringen den Römern Lebensmittel ins Lager. Camillus vergewissert sich in der Stadt, dass dort ebenso beständiger und ruhiger Friede und normales Treiben herrscht wie vor dem Tor, die Haustüren sind offen. „Entwaffnet durch diese Gelassenheit der Feinde“ (Victus igitur patientia hostium) leitet Camillus das Ende des geplanten Krieges mit den Worten ein: „Tusculaner, ihr habt die wahren Waffen und die wahren Kräfte gefunden, mit denen ihr euer Eigentum vor dem Zorn der Römer schützen werdet.“ Er schickt sie nach Rom, sie sagen dem Senat u.a.: „Wir danken euren Feldherrn sowohl als euren Heeren, dass sie [...] wo kein Feind war, auch keinen finden wollten. [...] Soll uns die Übermacht eurer Waffen fühlbar werden, so wollen wir sie wehrlos fühlen.“ Rom zieht die Soldaten ab.
Durch patientia haben die Feinde den Feldherrn besiegt. Der Geschichtsschreiber lässt den als tugendhaft und vorbildlich dargestellten Feldherrn patientia als wahre Waffe und wahre Kräfte zum Schutz vor Krieg bezeichnen.
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Dramatik in Birmingham

  Mehrere hundert "Neger" von Birmingham hatten beschlossen, sich zu einer Gebetsversammlung in der Nähe des Stadtgefängnisses zu versammeln. Sie trafen sich an der New Pilgrim Baptist Church und setzten sich geordnet in Marsch. "Bull" Connor ließ Polizeihunde holen und Wasserwerfer auffahren. Als die Marschierenden sich der Grenze zwischen dem weißen und dem schwarzen Bezirk näherten, befahl ihnen Connor umzukehren. Reverend Charles Billups, der den Zug anführte, weigerte sich höflich. "Bull" Connor kam in Wut, drehte sich zu seinen Männern um und brüllte:
  "Verdammt! Wasser frei!"
  Was in den nächsten dreißig Sekunden geschah, gehört zu den phantastischsten Ereignissen von Birmingham. "Bull" Connors Leute standen den Marschierenden gegenüber, die mörderischen Schläuche zum Einsatz bereit. Die Demonstranten starrten unverwandt zurück, furcht- und regungslos; viele von ihnen knieten. Langsam erhoben sich die Neger und begannen vorwärts zu gehen. Connors Leute wichen wie gebannt zurück, die Schläuche hingen schlaff in ihren Händen, während Hunderte von Negern vorbeizogen und ungehindert ihre geplante Gebetsversammlung abhielten.



(Quelle: Gernot Jochheim, Die Gewaltfreie Aktion, Hamburg 1984, S.314)

Samstag

Die Rowdies respektieren sie

  Bei einer denkwürdigen Gelegenheit, als das jährliche Treffen der Antisklaverei-Gesellschaft in New York stattfand, wurde die Veranstaltung von einigen Rowdies gestört. Einige der VertreterInnen wurden sehr rauh behandelt von der Menge, als sie den Saal verließen. Als Lucretia Mott dies bemerkte, bat sie ihren Begleiter, sie zu verlassen, und einigen anderen Frauen zu helfen, die in Bedrängnis waren.
  "Aber wer passt auf Dich auf?", fragte er.
  "Dieser Mann", sagte sie, und legte ganz ruhig ihre Hand auf den Arm von einem der gefährlichsten des Mobs. "Er wird mich in sicherer Art durchbringen."
  Derart vor den Kopf gestoßen durch so viel unerwartetes Vertrauen reagierte der Mann, indem er sie rücksichtsvoll durch diesen Tumult an einen sicheren Ort geleitete.
  Am nächsten Tag ging sie in ein Restaurant in der Nähe des Versammlungsortes und erkannte den Anführer des Mobs an einem der Tische. Sie setzte sich zu ihm und kam ins Gespräch mit ihm. Als er den Raum verließ, fragte er einen Mann an der Tür, wer diese Frau sei. Als er ihren Namen hörte, bemerkte er:   "Ja, sie ist eine gute, feine Frau."



(Quelle: aus: Victories Without Violence, compiled by A.Ruth Fry, Santa Fee 1986, S.29f)

Das Gewissen des Wachmanns

  Es geschah einmal in Deutschland während des Krieges in einem Gefangenenlager. Das Leben der Gefangenen war hart. Sie hatten Hunger und litten unter der Kälte und den Anstrengungen der Zwangsarbeit. Abends kehrten sie in ihre Baracken zurück. Ein Wachmann erwartete sie, um mit ihnen seine Scherze zu treiben, die aber nur ihm allein Vergnügen machten. Er zog den einen an der Nase und gab einem anderen einen Tritt in den Bauch. Jeder fragte sich, wer wohl heute an der Reihe wäre.
  Eines Abends aber kam einer der Gefangenen von selber zu ihm und sagte:
  "Da Sie jeden Tag jemand schlagen müssen, möchte ich Sie bitten, heute mit mir vorlieb zu nehmen."
  "Nanu, kleines Französchen! Weil Du so frech bist, rate einmal, wieviel Mal ich Dir mit meiner Reitpeitsche auf den ..."
  "Es ist nicht meine Sache zu bestimmen, wieviele Schläge ich verdient habe. Ich überlasse das Ihrem Gewissen."
  "Meinem Gewissen, meinem Gewissen? Ich habe kein Gewissen!"
  "Doch!", sagte nach einer kleinen Pause der Gefangene. "Doch, Sie haben ein Gewissen. Ihr Zögern beweist, daß Sie ein Gewissen haben, denn Sie haben mich noch immer nicht geschlagen."
  Und indem er sich anschickte weiterzugehen, fügte er noch hinzu:
  "Ich glaube sogar, daß Sie mich heute abend nicht mehr schlagen werden."
  Dann wandte er sich um und ging.
  Der andere starrte betroffen vor sich auf den Boden, blaß, mit Tränen in den Augen und zitternden Lippen. Nie zuvor hatte jemand zu diesem Unglücklichen von seinem Gewissen gesprochen. Vielleicht war das die Ursache seiner Rohheit.
  Nach diesem Tag wurde kein Gefangener mehr von ihm geschlagen. Ich würde es nicht wagen, diese Geschichte zu erzählen, wenn ich nicht wüßte, daß sie wahr ist.



(Quelle: Lanza del Vasto, Definition der Gewaltlosigkeit, org.1963, hier aus: Albert Schmelzer, Die Arche, Waldkirch 1983, S.57f)


Überfall beim Trampen

  Als ich auf dem College war, trampte ich oft durchs ganze Land. Das war in der Mitte der 60er Jahre. Ich reiste alleine und auch mit anderen Freunden zusammen. Es gab eine Reihe von Episoden, bei denen ich angegriffen wurde. Da kann ich Dir ein Beispiel geben.
  Du mußt verstehen, ich bin Quäkerin und bin erfüllt von der Idee, daß du immer annehmen kannst, daß du eine gewaltfreie Lösung findest. Ich glaube, das erste Mal, als es passierte, da war ich auf dem Weg, einen Freund in PA zu besuchen, und ich wurde rausgelassen bei - ja, ein Freund hatte mich nach NJ gefahren und nun wartete ich auf einen Bus, um nach Philadelphia rein zu kommen. Da kam ein Junge daher und sagte:
  "Ich fahre nach Philadelphia. Willst Du mitfahren?"
  Und ich Idiot akzeptierte es. Auf dem Weg sagte er:
  "Ich geh' mal raus und hole Wasser."
  Er ging zu so einem verlassenen Haus. Ich war da gerade mal 19 und sehr naiv zu der Zeit. Er ging also in das Haus, um nach Wasser zu sehen. Schließlich folgte ich ihm, und da griff er mich an. Er warf mich nieder und war drauf und dran, mich zu vergewaltigen. Ich hatte doch gerade dies Gespräch mit ihm. Ich glaube, ich war verstört, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich sprach weiter:
  "Ich will keinen Sex mit Dir haben. Ich will nicht, daß Du mich vergewaltigst."
  Ich kam aus der ganzen Geschichte raus mit Gewaltfreiheit und gab ihm diese klare Erwiderung. Endlich hörte er auf und sagte:
  "Du bist ja äußerst ernst, nicht wahr?"
  Er nahm mich mit zurück in den Wagen, fuhr mich nach Philadelphia, gab mir zwanzig Dollar und fuhr davon.



(Quelle: Patty Lyman, Seattle, Interview mit Uwe Painke, Sept.92)

Ein "Neger" handelt

  Neulich war einer der jungen Sekretäre des amerikanischen Versöhnungsbundes, ein junger Farbiger, als Redner auf einer Reise im Süden und setzte sich über die Trennungsgesetze, die in einigen Staaten üblich sind, hinweg, indem er sich in einem Autobus auf einen Platz in einem für Weiße reservierten Abteil niederließ. Der Fahrer des Omnibus rief die Polizei an, sodaß vier Rohlinge von Polizisten den Omnibus gerade vor einer Stadt, wohin er fuhr, anhielten, einstiegen und unter Beschimpfungen verlangten, daß der junge Bayard Rustin den Platz, auf dem er saß, verließe. Den weiteren Verlauf der Geschichte geben wir am besten mit den eigenen Worten seines Briefes wieder. Nachdem er geschildert hat, wie die Polizisten ihn zu Boden warfen, schlugen, traten und herauszerrten, schreibt er:
  Ich sprang auf, streckte meine Arme waagrecht aus und sagte:
  "Sie brauchen mich nicht zu schlagen. Ich leiste keinen Widerstand."
  In diesem Augenblick entstiegen drei Weiße, offenbar aus dem Süden, dem Omnibus. Sie sagten:
  "Warum tun Sie das? Er hat nichts getan. Warum behandeln Sie ihn nicht wie einen Menschen? Er leistet Ihnen keinen Widerstand."
  Ein Kleiner packte den Knüppel des Polizisten, als er mich schlagen wollte, und sagte:
  "Lassen Sie das!"
  Die Polizisten schickten sich an, ihn zu schlagen, als ich zu ihm sagte:
  "Tun Sie das bitte nicht, denn ich stehe in guter Hut. Es bedarf keines Kampfes. Ich danke Ihnen trotzdem."
  Diese drei weißen Freunde begannen, meine Kleider und mein Gepäck aufzulesen, das der Fahrer des Omnibus aus dem Wagen an den Straßenrand geworfen hatte. Ein älterer Mann fragte die Polizisten, wohin sie mich brächten. Sie sagten:
  "Nashville."
  Er versprach mir, daß er hinkäme, um dafür zu sorgen, daß mir mein Recht werde.
  Während der wilden Fahrt von 13 Meilen zur Stadt beschimpften sie mich auf jede Weise und sagten alles Mögliche, was mich heftig werden lassen könnte. Ich saß ganz still und blickte ihnen gerade ins Auge, sooft sie mich anzusehen wagten. Der Umstand, daß sie mich nicht ansehen konnten, gab mir Mut, denn ich wußte, daß sie im Unrecht waren. Dies machte sie der Besserung ganz zugänglich.
  Als ich in Nashville ankam, durchsuchten sie mein Gepäck und meine Papiere. Sie zeigten größtes Interesse für das 'Christian Century and Fellowship'. Schließlich sagte der Hauptmann:
  "Komm her, Nigger!"
  Ich ging geraden Weges auf ihn zu.
  "Was kann ich für Sie tun?" sagte ich.
  "Nigger", sagte er, "man sollte annehmen, Du hättest Angst, wenn Du hier hereinkommst."
  "Ich werde gestärkt durch Wahrheit, Gerechtigkeit und Christus", sagte ich, "da brauche ich mich nicht zu fürchten."
  Er war völlig verblüfft. Eine Zeitlang sagte er gar nichts. Dann ging er zu einem anderen Beamten und sagte in seiner Verblüffung:
  "Ich glaube, der Nigger ist verrückt."
  Ich wartete dort anderthalb Stunden. Das nächste, was geschah, war, daß ich zu einer langen Fahrt durch die Stadt mitgenommen wurde. Im Gerichtsgebäude führte man mich in das Dienstzimmer des zweiten Bezirks-Staatsanwaltes. Als ich eintrat, hörte ich jemand sagen:
  "Na Du Farbiger, he!"
  Ich sah mich um und erblickte den weißen Herrn, der gesagt hatte, er würde dafür sorgen, daß mir mein Recht werde.
  Der Bezirks-Staatsanwalt fragte mich eine halbe Stunde über mein Leben, das 'Christian Century', den Versöhnungsbund, über Pazifismus und Krieg aus. Dann forderte er die Polizisten auf, ihre Darstellung von dem Vorfall zu geben. Sie brachten einige Lügen vor. Dann verlangte er von mir, daß ich meine Meinung sagte. Das tat ich, indem ich die Polizisten aufforderte, mir jeden Punkt zu bestätigen. Der Bezirks-Staatsanwalt entließ mich. Ich wartete eine weitere Stunde ganz allein in einem dunklen Raum. Dann kam er herein und sagte sehr freundlich:
  "Sie können gehen, Herr Rustin."
  Verwirrt verließ ich das Gerichtsgebäude, bestärkt in dem Glauben an das Handeln ohne Gewalt, denn ich bin sicher, daß man mich Herr nannte, daß mir der ältere Herr half und daß mir die drei Männer im Omnibus halfen, weil ich vier Polizisten mit den Worten: 'Sie brauchen mich nicht zu schlagen, ich leiste keinen Widerstand' furchtlos entgegengetreten war.



(Quelle: aus: Victories Without Violence, s.o.5., S.76f)


Das "Wunder" von Gorski Kotar

  Franjo Starcevic lebt in der Region Gorski Kotar im Westen Kroatiens, südlich der (slowenischen) Gottschee und östlich von Rijeka. Der Professor für Psychologie und Philosophie hat 1971 wegen seines Eintretens für die kroatische Autonomie seinen Arbeitsplatz verloren. Inzwischen pensioniert, lebt er zurückgezogen in seinem (kroatischen) Geburtsort Mrkopalj, wo er großen Einfluß hat. Im Spätherbst 1991 drohte der Krieg auch seine Region zu erreichen. Die Kroaten und Serben, die relativ geschlossen in ihren Dörfern lebten, hatten schon Waffen gesammelt und Barrikaden gebaut. Es fehlte nicht mehr viel, und es wäre auch hier zu Kämpfen gekommen. Doch durch sein mutiges Engagement ist es dem alten Mann gelungen, diese Gefahr abzuwenden. Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:
  "Im vorigen Jahr, im November oder Dezember, als der Krieg in Kroatien voll im Gang war, habe ich mich entschieden, in unser Nachbardorf Jasenak zu gehen, welches ganz serbisch ist und sich auf der anderen Seite eines Berges, der Bjelalasica, befindet. Zwischen den beiden Dörfern, die rund 30 Kilometer voneinander entfernt sind, besteht eine traditionelle Freundschaft. Es gab früher viele kroatische und serbische Dörfer, die eng verbunden waren, aber diese Freundschaft ist zerbrochen, und zwar sehr brutal.
  Also, ich komme nach Jasenak, und sie waren sehr gastfreundlich, wie die Serben immer sind. Das ist ihre nationale Eigenschaft. Ich habe den Leuten aus dem Gemeinderat gesagt, daß es sehr dumm ist, jetzt im 20.Jahrhundert mit Waffen gegeneinander zu kämpfen. Das Gespräch dauerte einige Stunden.
  In diesem Gespräch war natürlich die Schwierigkeit, daß es schon auf beiden Seiten Barrikaden gab. Wir haben damit angefangen, weil wir eine Offensive der Volksarmee befürchteten. Wir hatten zehn Bäume auf die drei Verbindungsstraßen Richtung Jasenak gelegt. Darauf haben die Serben auch auf ihrer Seite Straßensperren errichtet. Und sie hatten viel mehr Waffen als wir. Aber ich habe versprochen, daß wir unsere Barrikaden wegräumen.
  Als ich zurückgekommen bin, habe ich alles das unserem Bürgermeister erzählt und auch in unserer Provinzstadt Delnice darüber berichtet. Und wir haben beschlossen, daß diese Aktion richtig war und daß man sie ausweiten muß. Vorher waren meine Leute sehr skeptisch und dagegen, daß ich nach Jasenak fahre. Sie hatten geglaubt, daß es gefährlich und unsinnig ist, zu den Serben zu gehen. Aber jetzt sahen alle, daß es erfolgreich war.
  Nach etwa zwei Monaten, zu Beginn dieses Jahres, bin ich ein zweites Mal nach Jasenak gefahren. Vorher haben wir unsere Barrikaden weggeräumt, um ihnen zu demonstrieren, daß wir es ehrlich meinen. Und diesmal bin ich länger geblieben. Wir sind als Freunde geschieden. Und dann haben sie, vielleicht nach einem Monat, auch ihre Barrikade weggeräumt. Und unsere Beziehungen sind besser und besser geworden. Im Mai war ihre Delegation bei uns, und jetzt können wir diese guten Beziehungen fortsetzen."



(Quelle: Werner Wintersteiner, aus: Friedensforum, Sept./Okt.92, S.13.)

Überfall auf ein Gewerkschafts-Büro

  Eines Tages kommt eine Todesschwadron ins Büro gestürmt, wo etwa zehn Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen an der Arbeit sind. Die schwerbewaffneten Männer richten ihre Maschinenpistolen auf die Anwesenden und schreien, alle müssten sich mit ausgebreiteten Armen kopfunter auf den Boden werfen! Julio, der zunächst am Eingang sitzt, reagiert blitzschnell:
  "Nein, wir tun das nicht! Ihr könnt mich umbringen, ich weigere mich! Wenn Ihr mich niederschießt, dann müßt Ihr gleichfalls alle anderen töten! Wer seid Ihr überhaupt? Was wollt Ihr? Wer hat Euch geschickt?"
  Die Todesschwadron, durch diese unerwartete Weigerung aus dem Konzept gebracht, reagiert im Moment verunsichert.
  Julio bringt heraus, daß sie von der Nationalpolizei sind. Rasch realisiert er, daß er ihnen einen Ausweg bieten muß, um ihr Gesicht zu wahren:
  "Was wollt Ihr? Wollt Ihr Geld? Hier, zweitausend colones!"
  "Wir wollen Dollares!"
  "Nichts da, macht, daß Ihr rauskommt, hinaus, hinaus ...!"
  Und die Gewerkschafter folgen ihnen noch bis zum wartenden Auto nach.



(Quelle: Ueli Wildberger, Peace Brigades International, in Neue Wege, Zürich 11/92, S.322)

Gruppen - Treffen

  Freitag Abend, die Jugendkneipe des Brückenhaus e.V. ist wieder gut voll. Von Ehrenamtlichen wurde sie eingerichtet und jetzt betrieben, die hier in zwei Stadtteilen zusammen mit dem Sozialarbeiter sowohl mit ausländischen als auch mit rechtsorientierten Jugendlichen arbeiten. Gerade letztere treffen sich ganz gerne hier. Schon öfter mal kam es da zu einzelnen Zwischenfällen verschiedener Art; doch verliefen sie zumeist glimpflich. Aber so gespannt wie an diesem Freitag abend war es noch nie.
  Vor dem Haus hatten sich 40 Leute versammelt - sogenannte Linke. Sie waren zum Teil vermummt, trugen einige Stangen und Schläger bei sich, die sie einem Metallzaun entwendet hatten; und auch das Gerücht ging um, sie hätten Molotow-Cocktails dabei. Sogleich waren die Jungs in der Kneipe in Alarmbereitschaft. Sie bedienten sich bei einem nahegelegenen Container und versorgten sich mit allerlei Metallbrocken als Bewaffnung. Die Stimmung war geladen.
  Da griffen die anwesenden Ehrenamtlichen ein. In guter und schneller Reaktion baten sie zunächst alle "ihre" Leute, wieder ins Haus zu kommen; ein breitschultriger stellte sich dann in die Türe, um sie zu versperren. Damit war schon mal eine erste Konfron-tationsmöglichkeit verhindert, indem die Gruppen ganz klar getrennt waren.
  Nun wagte es einer der Ehrenamtlichen und ging hinaus direkt auf die Gruppe der Linken zu:
  "Ich bin der Vertreter des Brückenhaus e.V.; und wer ist Euer Vertreter?"
  Das überraschte; das lehnten sie erst mal ab:
  "Nein, wir haben keinen Vertreter; das brauchen wir doch nicht."
  Nach einigem zögerlichen Überlegen gab es dann doch einen. Nun war eine Grundlage für eine erste Diskussion geschaffen.
  "Wißt Ihr, was das Brückenhaus ist und was wir da machen?", fragte der Ehrenamtliche aus der Kneipe.
  "Ja", antwortete die andere Seite sehr schnell. "Ihr habt da die Faschos drin; und also seid ihr auch für die."

  Erst später wurde uns nochmal deutlich, daß dies die allgemeine Überzeugung bei den Linken bzw. Autonomen des Stadtteils war, obwohl wir im Rahmen unserer akzeptierenden Jugendarbeit sicher ganz anderes machen. Unser Standpunkt ist politisch gerade nicht rechts.
  Nach einigem Wortwechsel dieser Art wurde die Situation allerdings noch einmal verschärft. Ein paar Jugendliche, die in die Kneipe wollten, kamen von außerhalb dazu. Sie waren nun als neue Gruppe da draußen. Und nun wollte einer von den Linken rein ins Haus und mit denen drin diskutieren. Allerdings waren nun schon einige ausfällige Attacken verbaler Art zu hören. Ob das gut geht?
  Es war wohl auch eine gute Portion Glück, daß nichts ernsthaftes passierte. Denn nach einiger Zeit kamen nun doch etwa 10 der Linken in die Kneipe; die anderen hatten sich inzwischen verzogen. Und auch hier reagierten die ehrenamtlichen Mitarbeiter wieder sehr geschickt: Mit Eimern gingen sie herum und sammelten vor dem Zusammenkommen auf beiden Seiten alle Waffen ein.
  Im Folgenden blieb es ruhig, wenn auch mit heftigen Diskussionen. Am Ende stand die Vereinbarung, sich in den nächsten Tagen noch einmal zu einer geordneten Diskussion zu treffen, an der auch türkische Jugendliche teilnehmen sollten. Sie fand statt - und war ein voller Erfolg!



(Quelle: Martin Lempp, Kirchheim/Teck)

Aus der Sicht eines Polizisten

  Nun, es gibt zwei Theorien über Kriminalität und den Umgang mit ihr. Manche sagen: "Du mußt wie der Kriminelle denken." Manche Polizisten lernen das so gut, daß sie selber eine Form krimineller Mentalität entwickeln.
  Die Weise, auf die ich arbeite, unterscheidet sich davon beträchtlich. Ich betrachte den Menschen als essentiell rein und unschuldig und von einer ungeteilten, guten Natur. Das ist sein Geburtsrecht. Und das ist es auch, was ich im Verlauf eines jeden Arbeitstages anzuerkennen habe - ja, es ist sogar das, woraus meine Arbeit besteht. ...
  Ich versuche diese Vision auch dann zu bewahren, wenn Konflikt entsteht. Ich hatte einmal einen sehr zornigen, schwarzen Mann verhaftet, der mich mit gezielter Ablehnung behandelte. Als ich ihn zum Polizeiwagen führen wollte, spuckte er mir ins Gesicht - das war schon keine Kleinigkeit - und dann versuchte er noch, mit einem Stuhl auf mich loszugehen. Es gelang uns, ihm Handschellen anzulegen. Als wir im Wagen fuhren, mußte ich mich einfach irgendwie von diesem eigenen negativen Bild von ihm befreien, das nun entstanden war. So affirmierte ich ständig in meinem Geist: "Dieser Mann und ich sind Brüder in der Liebe." Als wir zum Revier gelangten, sagte ich spontan zu ihm:
  "Hören Sie zu. Wenn es irgend etwas gegeben hat, womit ich Sie verletzt habe, so möchte ich Sie jetzt um Entschuldigung bitten."
  Mein Kollege neben mir schaute mich an, als sei ich total verrückt geworden.
  Am nächsten Tag mußte ich den Mann zum Kriminalgericht überführen. Als ich ihn abholte, dachte ich: "Wenn du deiner Vision wirklich vertraust, dann brauchst du ihm auch keine Handschellen anzulegen." Das tat ich auch nicht. Im Gerichtsgebäude gelangten wir zu einer Stelle im Korridor, wo er auf mich hätte losgehen müssen, wenn er eine solche Absicht gehabt hätte. Er blieb dort tatsächlich stehen, was ich auch tat. Dann sagte er:
  "Wissen Sie, ich habe darüber nachgedacht, was Sie gestern gesagt haben, und ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen."
  Ich spürte diese tiefe Dankbarkeit, die von ihm ausstrahlte.
  Aus seinem Strafregister ergab sich, daß er lange im Staate Michigan gesessen und ziemlich viel Ärger mit seinen Wächtern gehabt hatte. Ich symbolisierte anfangs etwas für ihn. Und ich sah bei diesem Vorfall, wie das verwandelt werden konnte - so eine Art von "Heilung" war das, glaube ich.



(Quelle: Ram Dass und Paul Gormann: "Wie kann ich helfen?", Berlin 1988, S.46ff)

Der Dritte Weg

  Martin Luther King vermittelte diesen Dritten Weg Jesu (die Gewaltfreiheit, d.Red.) so an seine Anhänger, daß er zur ethischen Grundlage der gesamten Bürgerrechtsbewegung werden konnte.
  Eines Abends, als Selma in Alabama das Zentrum der Bürgerrechtskämpfe war, stand eine riesige Menschenmenge aus schwarzen und weißen Aktivisten vor der baptistischen Ebenezer-Kirche. Die Nachricht, die ein schwarzer Bestattungsunternehmer aus Montgomery mitbrachte, schlug in ihre Versammlung ein wie ein Blitz. Er berichtete, wie an diesem Nachmittag nahe beim Kapitol berittene Polizisten in eine Gruppe schwarzer demonstrierender Studenten hineingestürmt waren und die Demonstranten zusammengeschlagen hatten. Zwei Stunden lang hatten die Polizisten sodann die Krankenwagen daran gehindert, zu den Verletzten vorzudringen. Unser Informant war der Fahrer eines dieser Krankenwagen. Er war sofort nach Selma gefahren, um uns davon zu unterrichten, was geschehen war.
  Die Menge vor der Kirche kochte vor Wut. Der Ruf "Losmarschieren!" wurde immer lauter. Hinter der Menge, auf der anderen Straßenseite, standen die Staatstruppen von Alabama und die lokalen Polizeikräfte mit Sheriff Jim Clark in Alarmbereitschaft. Die Lage war explosiv.
  Da ging ein junger schwarzer Pfarrer zum Mikrophon und sagte:
  "Es ist Zeit, daß wir ein Lied singen."
  Er begann mit der Verszeile:
  "Liebt ihr Martin Luther King?"
  Diejenigen, die das Lied kannten, stimmten in den Refrain ein:
  "Sicherlich, sicherlich, sicherlich, Herr!"
  Dann ging er alle Führergestalten der Bürgerrechtsbewegung durch. Die Menge erwärmte sich mehr und mehr für das Lied und beantwortete jeden Vers:
  "Sicherlich, sicherlich, sicherlich, Herr!"
  Ohne Vorwarnung sang der Pastor plötzlich:
  "Liebt ihr Jim Clark?" - das war der Sheriff!
  "Si...cherlich, Herr!", kam das zögernde, verebbende Echo.
  "Liebt ihr Jim Clark?", wiederholte der Pfarrer.
  "Sicherlich, Herr!", tönte das Echo schon lauter.
  "Liebt ihr Jim Clark?".
  Mittlerweile war der Groschen gefallen:
  "Sicherlich, Sicherlich, Sicherlich, Herr!"
  Dann ergriff Pfarrer James Bevel das Mikrophon.
  "Wir kämpfen nicht nur für unsere Rechte", sagte er, "sondern für das Wohl der gesamten Gesellschaft. Es reicht uns nicht, Jim Clark zu besiegen - können Sie mich hören, Jim? - , wir wollen Sie bekehren. Wir können nicht gewinnen, solange wir unsere Unterdrücker hassen. Wir werden sie lieben, bis sie sich verändern."
  Und Jim Clark veränderte sich wirklich. Als der Feldzug zur Wähler-Registrierung abgeschlossen war, merkte Jim Clark , daß er ohne die schwarzen Stimmen nicht wiedergewählt werden konnte. So begann er, schwarze Wähler zu hofieren. Später bekannte er sogar - wie ich meine, ehrlich - , daß er sich in seiner Einstellung gegenüber den Schwarzen geirrt hätte.



(Quelle: Walter Wink, Angesichts des Feindes - Der dritte Weg Jesu in Südafrika und anderswo, München 1988, S.82ff)

Abba - Vater !

  Eine Frau von ungefähr 25 Jahren wohnte mir gegenüber. Sie war ein kleiner östlicher Typ, geboren in New York und war lange Zeit in Indien gewesen.
  An einem Abend kam sie in einer Kneipe beim Hauptbahnhof in Amsterdam mit zwei türkischen Männern in ein Gespräch. Als sie die Kneipe verließ, folgten sie ihr und wurden zudringlich. Sie fingen an, sie mit persönlichen Dingen auszuschimpfen, die sie ihnen eben erst erzählt hatte, wie zB., daß sie mit einem Niederländer zusammengewohnt hatte, den sie in Indien getroffen hatte, und daß sie daher jetzt noch in den Niederlanden wohnte und ähnliches. Sie versuchte zuerst noch, darauf einzugehen, aber dadurch wurden die Männer nur noch lästiger und machten vulgäre Bemerkungen ihr gegenüber, wie daß sie es sicher auch gerne mal mit Türken machen würde.

  Auf einmal drückte sie der jüngere Mann gegen eine Mauer, während der andere Mann ihre Jacke öffnete und ihre Kleider auszog. Der jüngere schlug ihr regelmäßig ins Gesicht. Was es für sie besonders schwierig machte, war, daß sie Informationen gegen sie verwendeten, die sie ihnen vertraulich und freundschaftlich erzählt hatte, und worauf sie anfänglich nett und interessiert reagiert hatten. Der ältere Mann versuchte sie nach unten zu ziehen, aber in einem Augenblick, als sie ihn ansehen konnte, sagte sie zu ihm mit eindringlichem Ton:
  "Aber Abba, laß mich jetzt gehen."
  Darauf reagierte er und kam wie aus einer "Betäubung" und/oder "Aufregung" zurück zur Realität. Er machte ihre Jacke zu und sorgte dafür, ohne ein Wort zu sagen, daß der Jüngere aufhörte zu schlagen. Sie zog sich wieder an und bedankte sich bei dem älteren Mann dafür, daß er sie gehen ließ.
  Sie liefen noch mit ihr in Richtung Bahnhof, was natürlich für sie nicht ohne Angst ablief, aber keiner von beiden sagte mehr etwas. Sie konnte dann ein Taxi nehmen und kam zu mir.



(Quelle: Wim Robben, zitiert aus: Han Horstink, s.o.19., S.105f)

Eine heiße Phase

  "Setz Dich hin", sagt der Junge. "Ich befehle Dir, Dich zu setzen."
  In seiner Hand hält er einen schweren Stein, kurz über meinem Kopf; sein Blick ist entschlossen.
  Und plötzlich zählt das alles nicht mehr, die Hitze, meine Erschöpfung, der lange Weg unter brennender Sonne, mein Wunsch, mich unter einen dieser Olivenbäume zu setzen und einfach auszuruhen. Es ist, als habe jemand ein anderes Programm eingeschaltet; ich bin plötzlich in einem anderen Film.
  "Setz Dich", sagt der Junge; aber ich setze mich nicht. Ich schaue auf den Stein über meinem Kopf, schaue in sein Gesicht. 14 ist er, hat er vorhin gesagt; sein Freund neben ihm, ein rotznäsige Kind, höchstens zwölf. Ich hatte damit gerechnet, daß sie versuchen könnten, mich zu bestehlen; aber an einen Vergewaltigungsversuch hatte ich nicht gedacht.
  "Nein", sage ich, "ich gehe jetzt."
  Aber ich kann diesem Jungen mit dem Stein in der Hand unmöglich den Rücken zukehren. Ich bleibe ruhig stehen und schaue ihn an.
  "Wirklich, ich schlage zu", sagt er. "Ich bin so einer."
  Ich glaube ihm nicht. Da gibt er es auf, mir mit dem Stein zu drohen. Statt dessen fangen nun beide Jungen an, an meiner Hose zu ziehen. Ich stelle mich breitbeinig hin, damit sie die Hose nicht runterziehen können; gleichzeitig wehre ich sie mit den Händen ab
  "Hört auf. Laßt mich gehen."
  Ich bin in einem fremden Land, ich spreche ihre Sprache nicht; aber sie verstehen ein wenig Englisch.
  "Ich bin hier, weil ich Euch vertraut habe. Ihr habt gesagt, Ihr würdet mir den richtigen Weg zeigen. Laßt mich jetzt gehen."
  Aber sie versuchen wieder, mir die Hose herunterzuziehen.
  Wir sind in einem Olivenhain; die Jungen sind von einem nahen Haus herübergekommen, gerade als ich endlich geglaubt hatte, ein schattiges Plätzchen zum Ausruhen gefunden zu haben. Wir haben uns unterhalten, Ich habe ihnen auf der Flöte vorgespielt, sie haben sich bedankt, aber irgend etwas war falsch an der Situation. Das war ihr Land, und sie schienen mich bewachen zu wollen, bis ich wieder gehe. Also ging ich.
  "Nein, nicht da lang", riefen sie, "dort drüben ist der Weg, komm mit."
  Und führten mich an diesen einsamen Platz, außerhalb der Ruf- und Sichtweite der nächsten Häuser.
  Von beiden Seiten zerren die Jungen nun an meiner Hose. Ich stelle mich wieder breitbeinig hin, habe aber dadurch keinen so festen Stand; sie versuchen, mich umzustoßen. Wenn ich erstmal am Boden liege, denke ich, dann habe ich keine Chance mehr; ich trete den beiden in die Hoden, und sie weichen zurück. Also geht es doch nur mit Gewalt?? "Wenn Du die Wahl hast zwischen Feigheit und Gewalt", sagt Gandhi, "dann wähle die Gewalt." Ich habe das immer so verstanden: in aller Regel gibt es eine dritte Möglichkeit. Hier bin ich nun in einer Situation, wo es die nicht gibt: es gibt nur aufgeben oder Gewalt anwenden, und ich trete zu. Aber ich merke auch: diese Situation währt nur Sekunden. Sobald die Jungen zurückgewichen sind, habe ich wieder andere Möglichkeiten.
  "Ihr könnt mir nichts tun", sage ich bestimmt. "Laßt mich gehen."
  Dabei schaue ich den Jungen in die Augen. Der Jüngere hat jetzt einen Stock aufgehoben und versucht es damit. Als ich mich auch davon nicht einschüchtern lasse, beraten die beiden kurz, greifen mich dann an und drängen mich rückwärts in eine halb zugewachsene Grube hinein, die ich vorher nicht gesehen hatte. Mein rechter Fuß steht noch fest, mein linker Fuß bricht beim Zurückweichen plötzlich in die Tiefe ein, findet dann einen Halt einen Meter weiter unten; es raschelt. Schlangen? Ein Blick nach unten zeigt mir, daß die Grube noch viel tiefer ist. Ich verstehe nicht, was die Jungen sagen, aber die Botschaft ist deutlich: wenn ich nicht tue, was sie sagen, werden sie mich ganz da rein schmeißen.
  Dann reicht mir der Ältere die Hand, zieht mich raus. Klar: sie wollen mich nicht in die Grube schmeißen, sie wollen mir nicht den Kopf einschlagen, sie haben Skrupel, mich zu verletzen. Sie sind aber nicht stark genug, mich zu Boden zu zwingen, und wollen mich deshalb einschüchtern, bis ich aufgebe und mich nicht mehr gegen eine Vergewaltigung wehre. Würde ich weglaufen oder sie angreifen, so würden sie von hinten oder im Kampf sicher ihre Hemmungen verlieren und zuschlagen; dann hätte ich wohl kaum eine Chance. Als der Junge mich herauszieht, kommt seine Gelegenheit: er wirft mich zu Boden, und im nächsten Augenblick sind beide über mir. Ich verstehe nicht warum, aber es gelingt mir, mich zu befreien: ich habe die Beine angezogen, trete dem Älteren in die Hoden, er weicht zurück, ich rolle den Jüngeren von mir herunter, rolle mich ab und stehe plötzlich wieder.
  Die Jungen sind überrascht, greifen aber nach kurzer Zeit erneut an, kämpfen; ich wehre sie ab, aber nie greife ich von mir aus an, nie versuche ich, taktische Vorteile zu nutzen, zu verletzen, zu siegen. Mitten im Gerangel suche ich den Augenkontakt; ich rufe:
  "Ich will nicht mit Euch kämpfen. Ich will Euch nicht verletzen. Ich hasse Euch nicht."
  Es ist wahr. Ich hasse die Jungen nicht, ich bin auch nicht in panischer Angst. Ich bin mir nicht sicher, ob es ihnen gelingen wird, mich zu vergewaltigen; aber ich weiß, daß nichts mich dazu bringen kann, mich selbst zu verlieren, diese Jungen zu hassen, sie ernsthaft zu verletzen oder gar zu töten. Das ist wichtiger; ich kann ganz ruhig sein.
  Einen Moment lang überlege ich, ob ich es über mich ergehen lassen soll. Niemand zwingt mich zu kämpfen ... Aber ich spüre, daß das nicht geht. Würde ich den Widerstand aufgeben, dann würde ich etwas verlieren, was sie mir niemals mit Gewalt nehmen können...
  Einer der Jungen hat mir die Geldbörse aus der Tasche gezogen. Er holt das Geld heraus, steckt den kleinsten Schein wieder hinein, gibt mir die Börse zurück.
  "Gut", sage ich, "nehmt das Geld und laßt mich jetzt gehen; ich werde Euch nicht verraten."
  Aber sie geben noch nicht auf. Der Jüngere findet ein Stück Stacheldraht; er droht, mich damit zu schlagen, und befiehlt mir mit wütendem Gesichtsausdruck, mich hinzusetzen.
  "Wenn Du mich verletzen willst, dann tu es", sage ich und halte ihm meinen Arm hin.
  Da läßt der den Stacheldraht fallen und versucht, mich zu umarmen; ich stoße ihn leicht von mir.
  Noch ein weiterer Versuch folgt; wieder schaue ich den Jungen in die Augen, wieder sage ich ihnen, daß sie mir nichts tun können, und unterstreiche das mit Gesten. Dann gibt der Ältere das Signal: lassen wir's. Ich drehe mich um und gehe langsam zurück in die Richtung, aus der ich gekommen bin.
  Ich bin noch nicht weit gegangen, da höre ich die Jungen hinter mir rufen, ich solle warten; sie winken mit Geldscheinen. Ich gehe noch ein Stück weiter, bis ich wieder in Sichtweite eines Hauses und etwas näher am Weg bin; dort warte ich.
  "Es tut uns leid", sagen die Jungen, als sie heran kommen.
  "Wenn es Euch leid tut, gebt Ihr mir dann auch mein Geld zurück?"
  Der Jüngere gibt mir das Geld, der Ältere zeigt mir einen kleinen Schein und sagt, den behalte er, weil er ihn brauche. Ich zähle nach.
  "Da fehlt eine ganze Menge."
  "Mehr haben wir nicht. Wir müssen es beim Kämpfen verloren haben."
  "Das wäre aber schade drum. Ob Ihr es nun habt oder ich - aber verloren gehen sollte es nicht. Schaut nochmal nach."
  Da ziehen sie los, gehen das Geld suchen und kommen nach einer Weile mit hängenden Schultern wieder:
  "Nichts gefunden."
  Sie sind offensichtlich erstaunt, daß ich gewartet habe. Sie flüstern miteinander, dann läuft der Ältere los, "um nochmal zu suchen", und nach ein paar Minuten läuft der Jüngere hinterher. Ich sehe die Beiden über eine Mauer klettern und verschwinden.
  Klick - umschalten. Ein heißer Tag, Mittagssonne, ich steige den Berg wieder hinauf, gehe den Weg zurück, den ich gekommen bin. Ein Polizeiauto fährt vorbei. Als ich nach einem Umweg im Dorf nahe dem Olivenhain ankomme - da, wo mich die Abkürzung der Jungen hätte hinführen sollen - treffe ich den Älteren der beiden.
  "Es tut mir leid", sagt er und reicht mir die Hand.
  Nun, leidtun allein ändert noch nicht viel. Ich würde ihn noch einiges fragen wollen, aber dazu reicht meine Kraft jetzt nicht aus. So drücke ich nur seine Hand und sage:
  "Ich vergebe Dir."



(Quelle: Autorin und Ort sind der Redaktion bekannt; wollen nicht genannt sein.)