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Donnerstag

Ich zünde einfach eine Kerze an

Jeder möchte gerne in seinem Herzen sagen können: „Ich bin durch ein Martyrium gegangen. Ich wurde geprüft und habe bestanden!“

Wilhelm Mensching (1887-1964) aus Petzen bei Bückeburg würde das natürlich nicht sagen. Trotzdem ist er einer der Friedensstifter Europas, die sich am besten bewährt haben. Die Quäker haben ihn ganz zu Recht für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich nicht sehr friedlich gefühlt hatte. Das war während des Ersten Weltkrieges. Er hatte damals als Missionar in Afrika gedient.
Dort hatte seine Familie unter der schlechten Behandlung durch Soldaten der Allliierten zu leiden, besonders seine Frau. Sie war schwanger und die Geburt stand nahe bevor. Es gab dort keine Frau, die bei der Geburt hätte helfen können. Dann wurde eine Politik der Vergeltungsmaßnahmen befohlen und er wurde nach Indien geschickt. Auf der Reise empfand er Angst und Bitterkeit. Er war in Indien interniert, durfte sich aber frei in den Straßen der Stadt bewegen und erlebte dort Gandhis gewaltfreie Bewegung des zivilen Ungehorsams. Er war davon fasziniert und studierte sie Tag für Tag, bis er schließlich zum Pazifisten wurde.

Natürlich gab es dafür auch noch andere Gründe. Ein englischer Medizinaloffizier leitete die Station in dem Krankenhaus, in dem er zur Genesung war. Mensching, der noch stark die Pflicht des Gehorsams dem Staat gegenüber empfand, stand stramm, so schwach wie er war. Dabei zitterte er am ganzen Körper. Der Engländer sah ihn verwundert an. Dann sagte er freundlich: „Fürchten Sie sich nicht, Bruder, Ich bin Arzt. Ich werde Ihnen nichts antun. Ich will Ihnen nur helfen. Dieser Krieg ist etwas Schreckliches … Wenn doch nur alle Menschen Brüder sein könnten.“
Damit war der Samen gelegt. Schließlich wurde er, immer noch als Gefangener, nach England geschickt. Er lebte in einem offenen Lager und musste oft im Regen schlafen. Nach dem Krieg wurde er der Kirche in Petzen zugeteilt, wo er seitdem Pastor war. Das könnte man eine konservative Situation nennen. Mensching trägt einen Zylinder zu einem schwarzen Anzug. In der Kirche gibt es ein pergamentenes Dokument, das ins Jahr 984 zurückreicht. Aber niemand soll aus diesen Einzelheiten schließen, dass er seiner Zeit hinterherhinkte. In Wirklichkeit ist er ihr Jahrhunderte voraus.

Als es Mode war, mit „Heil Hitler“ zu grüßen, sagte er, sowohl vor als auch während des Krieges, fest und fröhlich „Guten Tag“. Er blickte nicht zurück auf die Autorität von Reich und Militär, sondern vorwärts in eine demokratische Lebensweise.

Ein anderer Deutscher, der Mensching nahe stand, erzählte etwa 1933 Douglas Steere, dass es da einen Exkommunisten gebe, der nun ein strammer Nazi sei und der damit prahle, dass er während des Ersten Weltkrieges Menschen getötet und Gefangene gefoltert habe. Nun war er im Begriff, Mensching aus der Kirche zu werfen, weil der Pastor nicht mit dem Naziregime sympathisierte: Er hatte nicht einmal eine Fahne gehisst! Als Mensching das gehört hatte, ging er geradenwegs zu dem Nazi und erklärte ihm offen seine Einstellung.

Jahrelang hatte er die Armen besucht und Bedürftigen geholfen, ganz gleich zu welcher Klasse sie gehörten. Er hatte in seiner Kirche niemals eine Fahne aufgehängt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er in der Hauptsache Christus treu sei. Davon könne ihn nichts und niemand abbringen. Wenn der Mann, mit dem er sprach, ihn wirklich aus der Kirche vertreiben wolle, dann sei jetzt die rechte Zeit dafür: Er habe ja alle dafür nötigen Beweise in der Hand. Der Nazi hielt ihm schweigend die Hand hin. Er unternahm nichts gegen den Pastor.

Den ganzen Krieg über nahm der Pastor die Worte: „Liebe deine Feinde“ ernst. Am Fußende seines Bettes hatte er ein Blatt Papier aufgehängt, auf das die Namen der Führer der feindlichen Regierungen gedruckt waren: Churchill, Roosevelt und Stalin. Wenn er aufwachte und die Namen sah, betete er für Völkerverständigung und –führung.
In seiner Tasche steckte eine Postkarte des Sekretärs des Versöhnungsbundes Englischer Zweig, die er über einen Schweizer Freund bekommen hatte. Es war eine Freundschaftsbotschaft und enthielt die Versicherung, dass nichts die Beziehung zerstören könne. Eine weitere Inspirationsquelle war ein Notizbuch, das er oft aufschlug, mit Worten von Sokrates, Paulus, Thomas More, James Nayler und Gandhi. Der Gedanke der Kraft der Wahrheit oder Satyagraha, zu dem Gandhi einlud, scheint ein Teil seines Nervensystems geworden zu sein.

Auch seine Fähigkeit zum Lachen half ihm. Als ein Offizier der Armee ihn eine halbe Stunde lang belästigt hatte, weil er „Guten Tag“ und nicht „Heil Hitler“ gesagt hatte, betete er. Dann lächelte er, als er an ein Erlebnis mit Hunden dachte, von dem ihm sein Vater öfter erzählt hatte. Diese Hunde hatten immer nachts sehr laut gebellt. Sein Vater hatte dann nur gesagt: „Ich will einfach abwarten. Irgendwann müssen sie ja aufhören.“ Ebenso würde der Offizier eines Tages aufhören.
Wahrscheinlich war es die bloße Kraft von Menschings Integrität, die ihn durch den Krieg brachte. Als der Krieg vorüber war, erzählte ihm der Major, der aus einem Internierungslager für Nationalsozialisten zurückgekommen war, von seinen Erlebnissen.

Während des Krieges wurde dieser von einem Gestapochef des Gebiets zu sich gerufen, der alles über den Pastor wissen wollte. Interessierte er sich für Kriegsgeheimnisse? „Nein, nie“, antwortete der Major. „Stand er mit ausländischen Freunden in Beziehung? Wahrscheinlich! „Aber alles, was er will, ist, dass der Krieg aufhört. Er würde uns nie verraten. Er ist mit allen Menschen Freund. Er würde uns nicht ausspionieren“, sagte der Major. Der Gestapomann war beeindruckt.
„Wären Sie bereit“ fuhr er fort, „mit Ihrem Leben dafür zu bürgen, dass dieser Mann uns nicht verraten würde?“
„Ja“, sagte der Major, „das würde ich.“
„Gut also. Bevor wir etwas gegen Mensching unternehmen, werden wir zuerst mit Ihnen Verbindung aufnehmen.“

Am 18. Mai wurde bei dem ersten Luftangriff der Alliierten in der Gegend eine junge Frau getötet, die zur Gemeinde gehörte. Das Opfer trug keine Uniform. Sie starb in ihrem Haus. Waren diese Alliierten nicht Teufel, wenn sie Bomben auf Unschuldige warfen? Die Nazis bemühten sich nach Kräften, dieses Ereignis für ihre Propaganda auszunutzen. Sie erschienen in großer Zahl beim Trauergottesdienst, um den Pastor zu stellen. Wenn er sich nicht gegen „die Grausamkeit“ aussprach, würden sie ihn dieses Mal bekommen und vielleicht auch seine Frau und seine Kinder.
Das war eine Prüfung! Mensching bestand sie in allen Ehren. Nicht ein Wort kam über seine Lippen, das Hass oder Vergeltung predigte. „Viele Tausende“, sagte er stattdessen, „in vielen Ländern erleiden ähnliche oder schlimmere Tragödien.“ Im Mittelpunkt seiner Ansprache stand nicht die menschliche Schwäche, sondern „die Gegenwart unseres gemeinsamen Vaters“.
Aber auch Mensching fühlte sich nach dem Gottesdienst schwach. Da kam ein Dorfbewohner zu ihm und sagte: „Sie haben genau das Richtige gesagt. Wenn sie ausgewichen wären und aus Furcht etwas anderes gesagt hätten, dann hätten Sie das Vertrauen der Menschen verloren, die so weiter auf sie zählen.“

Frau Mensching bemühte sich, seinen Mut zu unterstützen, aber es gab Sonntage, an denen sie vor Besorgnis zitterte, wenn ihr Mann auf die Kanzel stieg. Die stille, zarte Frau, die immer großzügig und freundlich war, hatte gute Gründe, für den Pastor zu fürchten. Oft sagten die Gottesdienstbesucher nach dem Segen zueinander: „Diesmal wird er sicherlich verhaftet.“
Einmal sah es so aus, als ob die beiden das Konzentrationslager nicht länger umgehen könnten. Alle mussten zur Wahl gehen. Entweder waren sie auf Parteilinie oder nicht! Die Wahl wurde geheim genannt. Tatsächlich – das teilte ihnen ein Freund mit – waren die Stimmzettel von Herrn und Frau Mensching merkiert, so dass ihre Wahl offensichtlich werden würde. Sie hatten nur eine Wahl und die war „Nein“. Aber das hätte eine schwere Strafe, auch für die Kinder, bedeuten können.
Als die beiden zu den Wahlurnen gingen, sagten sie beide laut und deutlich: „Guten Tag!“ Die Stille im Raum verkündete Unheil. Mensching suchte auf dem Zettel nach einer Markierung und konnte keine entdecken. Plötzlich brach die ruhige Stimme von Frau Mensching das Schweigen: „Entschuldigen Sie, meine Herren, aber mein Stimmzettel hat einen kleinen Fettfleck. Würden Sie mir wohl bitte einen anderen geben?“

Das Schweigen, das dem folgte, war noch stärker aufgeladen. Dann sagte einer der Wahlhelfer: „Ja, Frau Mensching, natürlich. Hier haben Sie einen anderen Stimmzettel.“
Beide stimmten mit „Nein“, falteten ihre Stimmzettel, warfen sie in die Wahlurne und gingen. Sie fragten sich, wann sie wohl verhaftet würden. Aber man ließ sie in Ruhe.
Mensching ist ein Mann, der die Brücken hinter sich abbricht und der seine Augen nur auf das höchste Ziel richtet, das es gibt. Als die Nazis an der Macht waren, ließ er sich nicht durch das Böse, das sich in ihnen manifestierte, hypnotisieren. Und er kümmerte sich auch nicht darum, was später die Kommunisten tun mochten. Stattdessen richtet er seine Aufmerksamkeit und Ergebenheit auf die Kraft, die zur Gesundheit führt, die Macht im Universum, die sehr stark, sehr lebendig und dauerhaft ist, deren Güte alle einschließt, selbst die, die ihn vielleicht töten würden.
Einem amerikanischen Besucher vertraute er sein Geheimnis an: „Wenn ein Mensch Böses tut, ist er in der Dunkelheit. Er kann nicht sehen. Wenn ich am Abend nach Hause komme und mein Haus ist dunkel, greife ich dann zu Bürsten und Schrubbern, um die Dunkelheit zu vertreiben? Nein, ich zünde einfach eine Kerze an.“

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Lebenswert

Eines Abends lag Heinrich Grüber an einem Ort, wie er erbärmlicher auf der ganzen Erde nicht hätte sein können, bewusstlos in einer Reihe mit Leichnamen. Das geschah im Winter 1941 auf 42 im Konzentrationslager Dachau. Ein paar Stunden zuvor hatte er einen Herzanfall gehabt. Er konnte jederzeit in den Verbrennungsofen geworfen werden.

Ein Mitgefangener hatte jedoch etwas Besonderes an dem Verhalten dieses Leichnams bemerkt, das den Wächtern, die die Leichen inspiziert hatten, entgangen war. Die Augenlider hatten sich anscheinend bewegt. Sobald die Wächter außer Sichtweite waren, sah er genauer zu. Das Herz schlug noch. Schnell brachte er den schwer Kranken in die Krankenstation. Dort kam der Patient wieder zu Bewusstsein. Aber viele Tage lang zweifelte er daran, ob dieses Leben die Anstrengungen wert war. Trotz der Freundlichkeit der Menschen, die wie er zu Hitlers Opfern geworden waren und die ihn gesund pflegten, wurde er von einem Gefühl der Einsamkeit überwältigt. Würde er jemals seine Frau und seinen kleinen Sohn wiedersehen? Wahrscheinlich nicht. Die Kraft schien ihn ebenso schnell wieder zu verlassen, wie er sie zurückgewonnen hatte.

Dann wurde die geringe Hoffnung, die er inzwischen doch in sich genährt hatte, durch die Ankunft einer besonderen Kommission erschüttert. Es war eine Kommission von medizinischen Forschern und Offizieren der gefürchteten Schutzstaffel. Die SS-Leute hatten den Auftrag, die „überflüssigen Esser“ auszusondern und zu töten, d. h. die Gefangenen, die zu schwach zum Arbeiten waren.
Um Grüber vor dem Krematorium zu retten, versteckte der Mann, der ihn gepflegt hatte, ihn unter einem Bett in einer ungeheizten Baracke. Sein einziger Schutz gegen die Temperaturen unter Null waren eine abgetragene Jacke und ebensolche Hose, zwei dünne Decken und Holzschuhe.

Viele Jahre später erklärte Grüber uns fünf oder sechs Zuhörern in einer Westberliner Wohnung: „ Ich habe dieses Martyrium rein durch Gnade überlebt. Was mir in diesem Konzentrationslager widerfuhr, war ein Wunder, das Wunder von Nahrung ohne Brot. Tatsächlich gelang es meinen Freunden, etwas Brot in mein Versteck zu schmuggeln. Aber das, was ich aß, hätte nicht für mein Überleben gereicht. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist, dass mir eine Kraft von jenseits jeder physischen Kraft geschenkt wurde. Ich bezweifle, dass irgendein Tier das hätte überleben können, wozu ich befähigt wurde. Die Tatsache, dass ich jetzt hier bin, beweist mir, dass ein Mensch mit Gottes Hilfe fast alles überstehen kann.“

Worüber dachte Grüber nach, als er unter dem Bett lag und mit aller Kraft gegen den nagenden Hunger und die Kälte ankämpfte? Oft dachte er natürlich an die Ereignisse, die ihn in die gegenwärtige Situation gebracht hatten. Er war in erster Linie darum an diesem Ort, weil er einen recht guten Kampf gekämpft hatte, manchmal sogar erfolgreich, und zwar für Juden. Er war evangelischer Pastor. Berufskollegen waren zu lange blind für die Situation gewesen, aber er konnte sie nicht übersehen. Er war weit davon entfernt, den Antisemitismus zu tolerieren oder gar zu unterstützen, wie einige Kollegen es getan hatten. Sein Gewissen zwang ihn weiterhin dazu, seine Stimme zu erheben und zu handeln. Es war ihm ziemlich klar, dass die Gestapo hart zurückschlagen würde. Aber er wollte es trotzdem wagen. Solange er konnte, würde er so vielen Juden wie möglich dabei helfen, außer Landes zu gehen.

Bald darauf war er der Leiter einer bedeutenden protestantischen Bewegung, die Verfolgte schützte. Er richtete ein Netz aktiver kleiner Hilfszentren im ganzen Land ein und hielt sie in Gang. Im Februar 1940 war er geradenwegs zu Göring gegangen und hatte von ihm gefordert, dass er mit dem Transport, noch dazu in Viehwagen, von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, in Konzentrationslager in Polen aufhören solle.
Man hatte ihm gesagt: „Leuten wie Ihnen können wir leicht den Mund stopfen.“
„Solange ich lebe und meine Stimme erheben kann“, hatte er erwidert, „werde ich Ungerechtigkeit Ungerechtigkeit und Sünde Sünde nennen.“
Er wurde verhaftet und wieder freigelassen. Aber auch dann protestierte er weiter und organisierte Zweigstellen in allen großen Städten Deutschlands, die Rechtshilfe und andere Hilfe leisten sollten. Er würde die erschreckten, aber dankbaren Gesichter derer, die er zu retten versuchte, niemals vergessen.

Dann kam der Tag, an dem die Gestapo energisch durchgriff. Er hatte versucht, sich darauf vorzubereiten. Aber trotzdem war er kaum auf diese letzte Verhaftung gefasst. Als er seinen Körper auf dem harten Boden der Baracke in Dachau hin und herwälzte, erinnerte er sich oft darin, wie er am 21. Dezember 1940 im Viehwagen von Berlin in sein erstes Konzentrationslager, Sachsenhausen, transportiert worden war. Im eiskalten Viehwagen herrschte nichts als Angst. Aber draußen sah er bei seinem „letzten Blick in die freie Welt“ Weihnachtseinkäufer mit ihren Geschenken nach Hause eilen. In den Gärten und auf den Balkonen standen Weihnachtsbäume. Er freute sich an den bunten Hinweisen auf ein bürgerliches Leben!

Er erinnerte sich auch an seine Einführung in das Leben des Konzentrationslagers ein paar Tage später. Es war Samstag vor dem 4. Advent. Über dem Tor zum Lager in Sachsenhausen war der zynische Satz „Arbeit macht frei“ in großen Buchstaben angebracht. Als er dann in seinen dünnen Kleidern dort zitternd vor Kälte stand, stürzte sich plötzlich ein Wächter völlig grundlos auf ihn, schlug ihn zu Boden, schlug ihn mit den Fäusten und trat ihn dann mit seinen Nagelstiefeln. Das war ihm wie das Ende erschienen, aber es war nur der Anfang. Als er dort so schmachvoll und voller Schmerzen lag, hörte er Kirchenglocken von einem Dorf in der Nähe. Was hatten sie ihm zu sagen? Die Glocken forderten ihn dazu auf, seine Gedanken auf das zu richten, woran die protestantischen Kirchen in ganz Deutschland zu dieser Zeit dachten und worüber seine eigene Familie zweifellos auch nachdenken würde. Es waren die erwärmenden Worte eines anderen Pastors, der genauso gelitten hatte. Mitten in all seinem Leid war Paulus dazu fähig gewesen zu sagen „Freuet euch im Herrn allezeit; nochmals will ich sagen: Freuet euch! Lasset eure Freundlichkeit allen Menschn kundwerden! Der Herr ist nahe.“

Aber wie sollte sich ein Mensch in Grübers Situation freuen? Im ersten Augenblick schien der Gedanke lächerlich. Dann fiel ihm Luthers Rat ein: Es gibt Zeiten, in denen sollte man die Bibel wie die Hebräer lesen, nämlich rückwärts. Das würde er versuchen. Er würde den letzten Satz als ersten nehmen: „Der Herr ist nahe.“ Wenn ein Mensch im Konzentrationslager diese Hauptprämisse zum Mittelpunkt seiner Gedanken machen könnte, dann würde sich alles andere daraus ergeben. Er könnte es dann mit allem aufnehmen. Er könnte sich sogar freuen. Ja, wenn Gott nahe war, näher als irgendjemand sonst, könnte die Dunkelheit, die in ihm herrschte, dem Licht weichen. Von nun an würde er sich selbst nicht mehr als Gefangenen einer brutalen Macht, sondern des „lebendigen Gottes“ verstehen.

Nicht lange danach hatte er Gelegenheit, seine neue Denkweise zu überprüfen. Ein Wächter, den er durchaus nicht provoziert hatte, schlug ihm die Zähne ein. Sein Mund blutete noch, aber er erkannte dankbar, dass er dem Mann nur das Beste wünschte. Er war erstaunt, dass er keine Rachegefühle gegen ihn empfand und er erlebte eine seltsame Freude.
Zwar konnte sein Körper hinter einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun eingesperrt sein, der von Wachtürmen umgeben waren, die mit Wachen mit Maschinengewehren bemannt waren. Aber im Grunde seines Wesens war er frei! Er war frei, um diese besondere Kraft zu empfangen, die von außen zu kommen schien, wenn ein Mensch unter Einsatz seines Lebens schwächeren Kameraden bei der Arbeit hilft oder wenn er ihnen etwas von seinem Brot abgibt.

Oft hatte er in Sachsenhausen, wenn die Wachen nicht guckten, mehr als Brot mit seinen Mitgefangenen geteilt. Er hatte ihnen kleine Papierstücke gegeben, auf denen mit Bleistift Zitate aus Gesangbuch und beiden Testamenten standen. Das erfüllte anscheinend ein dringendes Bedürfnis. Sogar Atheisten hatten darum gebeten.

Grüber erinnerte sich an den September 1941, als er nach Dachau überführt wurde. Dort hatte er die menschliche Perversität in noch schrecklicherem Ausmaß erlebt. Er hatte von seinem Versteck unter dem Bett aus gesehen, wie nur ein paar Meter von ihm entfernt Tausende von russischen Kriegsgefangenen in einem besonderen Gebäude zusammengetrieben worden waren. Sie wurden dann, immer nur einige auf einmal, hinausgelassen und erschossen. Aber es gab auch versöhnliche Augenblicke. An Sonntagen nach vier Uhr nachmittags, wenn die Arbeit zu Ende war und die meisten Wächter frei hatten, sammelten sich an verschiedenen Stellen des Lagers unbeobachtet kleine Gruppen von Gefangenen zum Gottesdienst. Um nicht die Aufmerksamkeit von Spionen zu erregen, vermieden sie sorgfältig alle frommen Gesten und taten die ganze Zeit über so, als suchten sie sich die Läuse ab oder flickten ihre Kleider. Aber in Wirklichkeit waren sie auf das aufmerksam, was Grüber ihnen zitierte: die Heilige Schrift. Bevor sie den Gottesdienst beendeten, stärkten sie einander mit dem Vaterunser. Dabei waren sie ganz und gar aufrichtig.

Grüber lag drei lange Wochen unter dem Bett versteckt. Das, was in seinem Geist vor sich ging, als er dort vor Kälte zitternd und fast verhungernd lag, bewirkte, dass es keine verlorene Zeit für ihn war. Er hatte Gelegenheit, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Als er in die alte Routine zurückkehrte, war er fast für ein weiteres Martyrium bereit. Dieses Mal sah es so aus, als würde er dabei sterben.
In Dachau wurden Gefangene oft von nationalsozialistischen Wissenschaftlern für „medizinische Experimenten“ als menschlich Versuchskaninchen benutzt. Einige wurden in eiskaltes Wasser geworfen und dort gelassen. Andere bekamen Injektionen mit tödlichen Keimen oder Medikamenten. Wenn der Versuch gelang, war der Patient tot. Aber bis dahin wurde er von einem Arzt überwacht.

Als der Untersuchungsarzt Grüber nach seinem Beruf fragte, antwortete der, er sei Pastor.
„Mein Großvater war Pastor“, sagte der Arzt nachdenklich.
Hatte der Enkel noch ein Gewissen? fragte sich Grüber. Da Grüber ohnehin bald sterben würde, könnte er vielleicht am Ende seines Weges aus diesem Leben noch die Seele eines Menschen berühren. Er sah ihm fest in die Augen.
„Was denkt Ihr Großvater wohl von Ihnen“, fragte er, „wenn er Sie aus der Ewigkeit beobachtet? Meinen Sie nicht, dass es ihn schmerzt, wenn er sieht, dass Sie Menschen schlechter behandeln, als man Tiere behandelt? Sie spielen mit dem Leben von Menschen, als wäre es wertlos, als wären sie weniger wert als Tiere!“
Einen Augenblick lang herrschte ein entsetzliches Schweigen. Dann bedeutete der Arzt Grüber, in seine Baracke zurückzugehen. Am nächsten Tag wurde er wieder zum Arzt gerufen. Es war derselbe, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte. Er untersuchte ihn sorgfältig. Wozu tat er das? Wie sich später herausstellte, suchte er eine Ausrede, um den Pastor, der sein Gewissen erreicht hatte, zu retten.

Grüber wurde aus der Gruppe derer, die als „lebensunwert“ eingestuft worden waren, herausgenommen. Der Arzt hatte sich persönlich für ihn eingesetzt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
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