Eine junge Frau, kaum einen Meter sechzig groß, von beinahe kindlicher Zerbrechlichkeit, wurde von einem Jungen in einer verlassenen U-Bahn-Station gegen eine Mauer gedrückt. Er wollte offensichtlich beweisen, daß er "Charakter" hatte. Er war nicht älter als zehn oder zwölf Jahre, aber größer und breiter als sie. Auch war er bewaffnet. Als er ein kleines Taschenmesser an ihre Kehle hielt, fühlte er sich so stark und mächtig wie zehn Fernsehhelden. Sie stand ruhig, sah ihn mit glühenden Augen an, beleidigt durch seine Berührung.
"Du hast Angst vor mir, nicht wahr?", freute er sich.
Aber sie war eher wütend als erschrocken; und sie schnauzte in seinem eigenen Sprachgebrauch zurück: "Ja, ich habe ja eine solche Angst!"
"Wenn ich an Deiner Stelle wäre, hätte ich wohl Angst."
Er bewegte das Messer vor ihren Augen hin und her. Sie fügte noch ein grobes Wort hinzu. Da fiel seine jämmerliche Maske, und sein Spiel ging zu Ende. Er hatte gedacht, daß sie vor ihm zusammenbrechen würde, heulen oder betteln wie ein wimmernder Hund. Aber so gewann er daran keinen Spaß, kein Gefühl von Macht und Herrschaft, keine Phantasie von persönlicher Übermacht und Wichtigkeit. Mit einem Knurren drehte sich der Junge um und lief vom Bahnsteig weg.
(Quelle: Dorothy T.Samuel, zitiert aus: Han Horstink, s.o.2., S.44)