Posts mit dem Label Lateinamerika werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Lateinamerika werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Freitag

Weltkarte der Gewaltfreiheit / Weltkarte der Hoffnung von Birgit Berg

Weltkarte der Gewaltfreiheit von Birgit Berg

Birgit Berg (Wortwerkstatt Poesie & Politik, Stuttgart), hat 1997 viele Fälle von gewaltfreien Veränderungen weltweit dokumentiert. Die Ereignisse hat sie in der Weltkarte der Gewaltfreiheit / Weltkarte der Hoffnung zusammengestellt.

Sammlung von Ereignissen in Deutschland
Sammlung von Ereignissen in Europa
Sammlung von Ereignissen in Nordamerika
Sammlung von Ereignissen in Lateinamerika
Sammlung von Ereignissen im 20. Jahrhundert

Weltkarte der Gewaltfreiheit von Birgit Berg
Hoffnungsereignisse aus der Geschichte gewaltfreier Veränderungen,
1997 zusammengestellt von Birgit Berg, Wortwerkstatt Poesie und Politik, auf der
Weltkarte der Gewaltfreiheit / Weltkarte der Hoffnung

Die Geschichte gewaltfreier Veränderungen
 ist neu zu entdecken...
 ist umfangreicher als je vermutet - sie umfasst Tausende Beispiele - hier nur eine Auswahl von 150 aus dem 20. Jahrhundert
 ist noch fast unbekannt - Geschichtsschreibung und -unterricht sind bisher vorrangig Geschichte der Gewalt, der Schlachten, Herrscher und Eroberungen...
 ist die Geschichte von verhinderten Kriegen, vermiedenen Schlachten, gestürzten Tyrannen...
 handelt nicht mehr von „großen Männern", sondern auch von kleinen Völkern, Gruppen, Unbekannten, Frauen, Kindern – von den Betroffenen – von Mut und Schicksalen von Hunderttausenden...
 ist ERD-CHRONIK, international, weltweit...
 macht bewusst, wieviel schon gewaltfrei erreicht wurde: die Abschaffung der Menschenfresserei, der Sklaverei, der Duelle... wieviel gewaltfrei erst erkämpft werden musste: Frauenwahlrecht, Kriegsdienstverweigerung, Arbeitsrecht... und wieviel noch zu erringen und erreichen ist...
 zeigt erste Ansätze zu einem „Bündnis der Betroffenen"...
 macht Einzelerscheinungen erkennbar als Beiträge zu einer Gesamtentwicklung gewaltfreier Veränderung: den Fall der Berliner Mauer wie das Gewehre-Zerbrechen in Neu-Kaledonien...,
weltweite Schritte gegen Atommacht, Krieg, Unterdrückung, Vernichtung...
den Stopp von Naturzerstörung an vielen Orten...
eine unsichtbare Menschenkette der gewaltfrei Handelnden...
 ist ein wachsendes Mosaik der phantasievollen Aktionen, Ideen, Wagnisse, Formen...
 ist konstruktiv: zu dem Widerstand gegen Bedrohung kam meist das Entwickeln für Lebenswertes...
 ist der Beweis, dass aktive Gewaltfreiheit Erfolge bewirken kann...
 lässt Veränderungskraft und eine eigene Qualität der gewaltfreien Haltung erkennen
 hat ein „Know how" gewaltfreier Methoden und Konzepte als Hintergrund
 ist Impuls für persönliche Durchsetzungskraft und Strukturen neuer Politik
 ist erst am Anfang ihrer Möglichkeiten...



Donnerstag

Achtung vor dem Gegner

"Im Geheimnis eines Seufzers kann das ungesungene Lied des Friedens keimen. Klagemauer Nacht, von dem Blitze eines Gebetes kannst du zertrümmert werden."           

So beginnt ein Gedicht von Nelly Sachs. Von beidem will ich erzählen, sowohl Geheimnis eines Seufzers, aus dem ahnungslos das ungesungene Lied des Friedens keimen kann, als auch vom Blitze eines Gebetes.

Die Seufzer galten der Herausforderung, der ich mich unentrinnbar stellen musste, damit die „Klagemauer Nacht von dem Blitze eines Gebetes zertrümmert werden“ konnte. Doch davon ahnte ich nichts in jenen Tagen, als in Lateinamerika eine Militärdiktatur nach der anderen errichtet wurde, während ich  als blutjunge Krankenschwester in Elendsvierteln Not zu lindern versuchte. Egal an welche Grenze oder in welch entlegenen Winkel eines Landes ich kam, überall begann die Willkür der Stiefel zu herrschen. Sogar in jenem winzigen Nest hoch in den Anden, in dem es nichts zu bewachen gab, weder Grenze noch Straße oder Bahn, Bergwerk oder Bank, nicht einmal ein Geschäft, nichts. Nur eine winzige Schule, in der der Lehrer spanisch und die Kinder quechua sprachen.
Vor meiner Abreise nach einem kurzen Zwischenstopp in der Heimat, hatte ich  einem Freund verraten, dass ich mich einer Guerillabewegung anschließen wolle. Es sei doch sinnlos innerhalb eines übermächtigen Systems direkter und struktureller Gewalt „Pflasterl zu picken“, anstatt zu verhindern, dass Menschen so zugerichtet werden. Als letzte Gegenrede schob mir jener Freund schweigend ein Buch über Gandhi in eine Außentasche meines Rucksacks. Dort fand ich es zwei Wochen später, angekommen „am Ende der Welt“ nach einem sechzehnstündigen Ritt durch eine atemberaubende Landschaft über einen Pass von 5200m. Bei zugig flattrigem Kerzenschein las ich darin, erstaunt, kopfschüttelnd, voll Widerspruch, ungläubig. Eingemummelt in meinen Schlafsack in dem armseligen Quartier raubte mir Gandhi oft den dringend nötigen Schlaf. Noch ein paar Monate würde ich hier als Krankenschwester arbeiten, dann eintauchen in den Kampf um eine gerechtere  Welt.

Aber Gandhis Weg hält mich auf Trab, wenn ich hoch zu Ross stundenlang unterwegs bin von einem Dorf zum andern. Überall erwartet mich mehr Arbeit, als ich allein bewältigen kann. Zu Fuß schaffe ich die steilen Wege  zwischen 3000 und 4500m Höhe nicht. Die armen Bauern haben weder Reit- noch Lasttiere, nur ganz wenige können sich einen Esel leisten. Die steilen, steinigen Felder reichen gerade für ihre Schafe. Also habe ich mir ein Pferd ausgeliehen, denn ich brauche fast täglich eines.  Auf der Koppel der Militärpolizei hatte ich eines entdeckt, das anscheinend nie gebraucht wurde. Es war der Hengst und die Militärpolizisten hatten sich einen ganz besonderen Spaß erwartet, als sie mir die Ausleihe genehmigten. Aber das wäre nun eine andere Geschichte. Nur so viel zum Verständnis meines Berichtes: Von Pferden hatte ich keine Ahnung. Ich ließ mich von ihnen mit großem Vergnügen durch die Gegend tragen. Das war alles.  Bei meinem Annäherungsmanöver an den Hengst konnte ich mich nur auf meine Intuition verlassen. Die verstand der „schwarze Teufel“, wie ihn die MPs nannten, offensichtlich besser als deren Schläge.  Noch hatte ich keine Ahnung, welch besonders gewalttätigen Ruf die Militärpolizei in jener Gegend hatte.
In den einsamen Stunden zu Pferd beschäftigt mich ein spezieller Gedanke aus meiner Nachtlektüre ganz besonders: Gandhi rät, den Gegner durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abzubringen. Wiederholt war da die Rede davon, wie wichtig im gewaltfreien Kampf die Achtung vor dem Gegner sei. Die Achtung vor dem Gegner, wie geht das? Wie bewahrt man sich die Achtung vor dem Gegner, wenn man nur widerwärtige Abscheu fühlt oder nackte Angst?

Jedes Mal tauchen vor mir Bilder auf -  wie das einer wehrlosen Frau, die von zwei Militärpolizisten an ihren langen Haaren aus einer Blechtonne gezogen und mit den Gewehrkolben brutal zusammen geschlagen wird oder-
 wie ich selber vollkommen ausraste in hilfloser Wut über die menschenverachtenden, zynischen Antworten eines Firmenchefs.  Sprachlos geworden hole ich mit lautem Räuspern den dicken Patzen Wut aus meiner tiefsten Tiefe und spucke ihn auf seinen schön polierten Mahagonitisch.
Ich weiß nicht, wie das geht: Achtung vor dem Gegner! Aber ich weiß, dass Gandhi auch  solche Gegner meint, wie sie in meiner Erinnerung auftauchen.
Dass meine fast zwanghafte Auseinandersetzung mit der „ Achtung vor dem Gegner“  etwas mit meiner Kindheit zu tun haben könnte, kam mir damals überhaupt nicht in den Sinn. Dabei hatte ich doch von Kindesbeinen an geübt, wie man einen Gegner durch Verachtung strafen kann. Ganz unfreiwillig hatte ich entdeckt, wie ich meinen ehemals geliebten Volksschullehrer bestrafen konnte. Die Straftechnik ergab sich aus einer psychosomatischen Reaktion:  Ich war vor Entsetzen erstarrt, als er meinem Bruder und seinem Freund befahl, vor der ganzen Klasse die Hosen auszuziehen und sich auf die erste Bank zu legen, während er den Riemen aus seiner Hose zog. Dann forderte er die Klasse auf  laut zu zählen. Zehn Schläge für jeden. Und mit jedem Schlag wuchs mein Grauen, denn was sich im Gesicht meines  Lehrers breit machte, ging über mein Entsetzen hinaus: Es gefiel ihm! Ja, das Schlagen oder die Schmerzensschreie bereiteten ihm sichtlich Vergnügen.
Daran starb meine erste große Liebe und ich erstarrte. In den darauffolgenden Stunden konnte ich nicht antworten und an den kommenden Tagen entdeckte ich, dass ich, bis dahin eindeutig seine Lieblingsschülerin, ihn damit bestrafen  konnte, dass ich ihn bockig schweigend anstarrte. Ich antwortete nicht mehr auf seine Fragen,  reagierte weder auf seine Drohungen noch auf sein Gebrüll. Ich sah wie ich ihn quälen konnte und entdeckte, ohne es wirklich zu begreifen, wie Verachtung den Gegner klein macht.

Der Lehrer wurde irgendwann versetzt aber mein Vater blieb. An ihm exerzierte ich von da an meine Entdeckung, wenn er meine Mutter mit seinen unerträglichen Schikanen terrorisierte. Ich ignorierte ihn so gut es ging, grüßte ihn nicht, schaute bewusst an ihm vorbei, antwortete auf keine seiner Fragen, verließ, wenn es irgendwie ging, jeden Raum, sobald er ihn betrat, übte gezielt Verachtung des Gegners,  obwohl ich damals - oder vielleicht weil ich noch kein einziges Wort für mein Tun hatte.  Aber meine Spucke auf dem Mahagonitisch des Firmenchefs zeigt, wie weit ich nach Jahren des Trainings in der Disziplin „ Verachtung des Gegners“ gekommen war.
Nun aber sitzt „die Achtung vor dem Gegner“ wie ein Stachel in mir. Ich bin viel unterwegs mit “meinem Hengst“, komme oft sehr spät zurück ins Dorf, bringe dann immer mein Pferd zurück auf die Koppel der Militärpolizei, schaue meistens bei Kranken im Ort vorbei, richte  noch die nötigsten Dinge her für den kommenden Tag. So auch in jener Nacht. Im winzigen Licht einer Kerosinfunzel suche ich zusammen, was ich für den morgigen Tag brauche.

Plötzlich ist da ein Geräusch hinter mir. Und noch bevor ich mich umdrehen kann, umklammern zwei Pranken meinen Hals. Drücken zu.  Fest. Ich hatte nach der Kerosinfunzel greifen wollen, als ich das Geräusch hörte. Die fiel zu Boden und ein riesiger Militärstiefel trat auf sie. Ich ringe nach Luft, winde mich sinnlos, möchte schreien, kein Laut, kein Atemzug, mein Kopf, meine Ohren platzen,  meine Sinne schwinden – kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, schießt es wie ein Blitz durch mein Hirn: Die Achtung vor dem Gegner!
Bevor ich ohnmächtig werde, nehme ich noch wahr, wie meine Hände zitternd, flattrig über die Pranken streicheln, die mich würgen und ---  wie der Militärpolizist mich loslässt.
Ich liege am Boden, kann nicht atmen, weiß nicht, wo ich bin. Mein Hals, was ist mit meinem Hals?   Ich ersticke. Es ist stockdunkel. Ich möchte aufstehen, aber jemand hält mich fest. Plötzlich sagt eine leise, dumpf gepresste Männerstimme direkt neben mir: Porque? Porque has hecho esto? Warum? Warum hast du das getan?
Was?  Was habe ich getan?  Ich kann nicht reden. Mein Hals ist zu. Ich würge, ich kann den Speichel nicht schlucken, ringe nach Luft, bringe kein Wort heraus.
Ganz kurz blitzt vor meinem Gesicht eine Taschenlampe auf. Ich sehe eine Hand, eine Taschenlampe, mehr nicht. Ich weiß nicht wie lange ich schon da liege. Ich friere entsetzlich, wage aber nicht, mich zu rühren, versuche sogar mein Schlottern vor Angst und Kälte zu unterdrücken. Panik vor dem neben mir und Panik vor dem in mir: die Verletzungen im Hals drohen mich zu ersticken.
Langsam dämmert mir, was geschehen ist und dass es jeden Augenblick wieder passieren kann.  Der Mann ist ganz nahe. Aber er fragt immer wieder: Porque? Porque has hecho esto?
Er fragt mich, warum ich das getan habe. Allmählich begreife ich:  Er fragt nach dem Blitz in meinem Gehirn:  „die Achtung vor dem Gegner“, die meine Hände bewegte um seine zu streicheln. Wenn ich reden könnte, würde ich ihm sagen, dass nicht ich es war, die das getan hat. Es geschah durch mich.
Nachdem ich nichts sagen kann und mich nicht zu rühren getraue, beginnt er zu reden: „Du, du hast über meine Hand gestreichelt. Warum hast du das gemacht? Das hat noch keine, keine einzige Frau getan.“
Er redet und ich friere, aber je länger er redet, umso mehr verschwindet meine Angst. Mein Hals ist so geschwollen ,dass ich immer wieder meine, doch noch zu ersticken. Er redet mit leiser, heiserer Stimme von seiner Kindheit. Ich verstehe nicht alles. Irgendwann habe ich den Eindruck, dass er weint.
Nach qualvoll endloser Zeit höre ich Schritte. Er packt meinen Arm. „Hör gut zu! Zu niemand ein Wort! Du zeigst mich nicht an! Dafür lass ich die Weiber in Ruh!“
Die Schritte sind verhallt. Er steht auf und geht, der Comandante.

Schlotternd rapple ich mich hoch, finde Gott sei Dank eine Kerze und Zünder, suche nach einem abschwellenden Medikament, wickle ein Dreieckstuch mit Salbe um meinen Hals und schleppe mich todmüde und halb erfroren zu meinem Zimmer, verkrieche mich in meinen Schlafsack und weiß, dass ich gerettet bin:
Die Achtung vor dem Gegner hat mich gerettet, obwohl ich gar nicht richtig begriffen habe, wie das geht oder was da vor sich ging in jenem Augenblick, als der „Blitz eines Gebetes“ den Würgegriff löste. Was für eine Kraft ist das, die meine Hände bewegte?
Keine andere Kraft hätte mich retten können, kein Selbstverteidigungstrick, erst recht keine Gewalt. Und wenn ein einziger halbverstandener Satz aus Gandhis Lehre mehr bewirkt als ich mir überhaupt vorstellen kann, wozu dann mit der Waffe kämpfen?
Meine Augen fallen mir zu in der Gewissheit, dass ich von nun an geborgen bin in dieser Kraft und vor allem: dass keine andere Kraft unser beider Schicksal hätte wenden können.  Denn zutiefst in mir weiß ich, dass nicht nur ich gerettet worden bin in dieser Nacht.
Nelly Sachs sagt da zum Abschluss ihres Gedichts:“ Und alle, die Gott verschlafen haben, wachen hinter den stürzenden Mauern zu ihm auf.“
Eine Woche lang war ich sehr krank. Ich hatte hohes Fieber, hustete und mein Hals wollte nicht abschwellen. Die Würgemale waren noch viel länger zu sehen. Und obwohl ich sie verdeckte, hatte ich immer den Eindruck, dass alle Menschen um mich herum wussten, was geschehen war.
So lange ich dort war, hielt sich der Comandante an sein Versprechen. An meinen Teil hielt ich mich bis  vor wenigen Jahren, denn meine Kehle schnürte sich augenblicklich zu, wenn ich an das Ereignis dachte. Auch ohne daran zu denken, passierte es  mir häufig, dass ich plötzlich nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen konnte. Und noch immer erzähle ich nicht gerne davon und wenn ich es tue, nur um zu bezeugen, dass Gewaltfreiheit die innere Auseinandersetzung braucht mit dem, was kaum zu begreifen und dennoch viel wirksamer ist als alle Gewalt.
Inzwischen sind mehr als vierzig Jahre vergangen und ich bin noch immer am Üben, von Begegnung zu Begegnung. Vor allem dann, wenn ich diese am liebsten vermeiden würde, wie die mit den martialisch aufgetakelten Burschen in ihren Springerstiefeln, die mir fast jede Nacht entgegenkamen auf meinem Heimweg. Schon das Dröhnen ihrer Stiefel machte mir Angst. Sobald ich sie sah oder hörte, wechselte ich  die Straßenseite.

Eigentlich kenne ich keinen einzigen solchen Typen, weiß nichts von ihrem Leben, weiß nicht einmal ob die links oder rechts oder irgendwas Politisches sind, nehme aber von vornherein an, dass sie gewalttätig sind. Zumindest verbal, so laut und derb wie die sich gebärden. Skinheads, Rechtsradikale, Gesindel jedenfalls. Doch ich kenne keinen einzigen.
Ganz fest nehme ich mir vor, die Straßenseite nicht mehr zu wechseln. Es dauert Wochen. Denn jedes Mal, wenn ich es versuchen möchte, kommt mir gerade diese Gruppe noch lauter, martialischer, besoffener vor als die vorige. Lieber doch erst morgen.
Endlich, nach Wochen gelingt es mir geradeaus weiter zu gehen. Sie machen Platz, lassen mich vorbei ohne mich zu anzurempeln, ohne mich zu beschimpfen. Wie ganz normale Leute. Wahrscheinlich sind sie das ja, wollen nur nicht so aussehen.

Viele Wochen lang übe ich: Menschen sind sie, einfach nur Menschen wie ich. Nicht einmal Gegner, nur Gegenüber. Ihnen gebührt meine Achtung wie allen anderen Menschen auch. Einige müssen mich schon kennen, denn eines Nachts marschiere ich durch ein Spalier und wir grüßen einander. Gerne würde ich stehen bleiben und ein Gespräch beginnen, aber dafür reicht mein Mut noch nicht.
Aber die Übung hat mich vorbereitet für einen anderen Augenblick: Ich stehe am helllichten Tag an einer Bushaltestelle und beobachte eine Gruppe junger Männer, die heftig streiten. Keine Ahnung in welcher Sprache, aber das Gewaltpotential steigt hörbar bei jedem Wort. Da sehe ich ein Messer aufblitzen, Blut spritzt von der Hand eines Burschen, der offensichtlich versuchte, dem anderen das Messer zu entreißen. Zugleich sehe ich, dass ein Bus kommt. Es ist nur eine Station bis zur Unfallchirurgie. Blitzschnell bin ich mitten in der Gruppe, packe den Blutenden am Arm und ziehe ihn zum Bus. Er folgt brav wie ein Kind. Dabei bin ich viel kleiner, rund und alt, keine beeindruckende Erscheinung, aber keiner hindert mich. Nur den Buschauffeur muss ich anbrüllen, dass er endlich fahren soll, anstatt mir zu erklären, dass er nicht die Rettung sei.
Während ich im WC der Unfallambulanz das Blut des jungen Mannes aus meinem Pullover spüle, wird mir erst klar, was ich da getan habe und auch, dass ich es niemals getan hätte ohne die wochenlange Übung mit meinen martialischen Nachtwächtern.

Gandhi sei Dank!