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Donnerstag

Versuch es!

Ein Student der Universität Tokio, der sich von Herzen wünschte, sein Leben für etwas Aufregenderes einzusetzen als dafür, seine Reisschale zu füllen, geriet in einen Abendgottesdienst. Dort sah er vor dem Altar etwas, das sein Leben in eine für ihn vollständig neue Richtung umlenken sollte. Ein kräftiger, halb blinder, aber sehr energischer und offenbar kenntnisreicher Mann in einem billigen schwarzen Anzug hatte gerade seine Rede beendet. Aus der ersten Reihe erhoben sich etwa zehn Rowdys, stürzten sich auf den Redner und schlugen ihm mit langen Bambusstöcken über den Kopf.

Aber statt Ärger oder Furcht zu zeigen, stand der Mann, der die Schläge abbekommen hatte, einfach da. Zur Verwunderung aller zeigte das Gesicht des Redners, obwohl Wangen und Stirn blutig waren, keine Veränderung im Ausdruck.
Nachdem die Angreifer ihre Stöcke hatten sprechen lassen, führte er die Gemeinde zum Gebet. Nach dem Amen lud er die Rowdys zu einem Gespräch in die Sakristei ein. Es dauerte nicht lange und sie entschuldigten sich.

Toyohiko Kagawa wurde nun zum neuen Helden des Studenten. Von da an widmete er sich der sich ausbreitenden kooperativen Bewegung und nicht mehr dem Kommunismus.
„Wie oft standest du im Shinkawa-Slum oder anderswo unmittelbar dem Sterben durch Pistole oder Schwert gegenüber?“ fragte ich Kagawa einmal. „Ein dutzend Mal?“
Er schmunzelte. Offensichtlich war es öfter gewesen.
„Hundert Mal?“
„Ja, vielleicht hundert Mal.“
Gefahren schienen ihm zu gefallen. Er fühlte eine solche Sicherheit in sich, dass er es sich leisten konnte, ohne äußere Sicherheit auszukommen.

Als Kagawa einundzwanzig gewesen war, hatte er an einem Weihnachtsabend seine Besitztümer, in der Hauptsache Bücher, auf eine Schubkarre geladen und hatte sie den schmalen, schmutzigen Weg zu seinem neuen „Zuhause“ gebracht. Es war ein Zimmer von etwa zwei mal drei Metern an einem der elendesten Orte der Welt. Um ihn herum wohnten Mörder, Schwachsinnige, Prostituierte, Verrückte und Trinker. Nachts waren die Wanzen so schlimm, dass er gezwungen war, humorvoll mit ihnen umzugehen. Als er entdeckte, dass sie sich gerne in kleinen Löchern aufhielten, ersann er ein Spiel. Bevor er schlafen ging, umgab er sich mit Holzklötzchen, in die er kleine Nischen gebohrt hatte. In diesen ließen sich seine Peiniger nieder und warteten dort auf die gute Mahlzeit, die sie einnehmen würden, wenn Kagawa erst einmal eingeschlafen wäre. Dann schüttelte Kagawa mitten in der Nacht die Holzklötze einen nach dem anderen über den Fußboden. Wenn die Wanzen wegrannten, zerquetschte er sie dort. Es waren ein- oder zweimal mehr als fünfzig.

Das Zimmer kostete fünf Cent am Tag. Es war darum so billig, weil auf dem Boden ein Fleck war. Dort hatte ein Ermordeter sein Blut vergossen und da sein Geist hätte lästig werden können, wollte niemand in dem Zimmer wohnen. Kagawa wusste nicht, ob es Geister gebe oder nicht. Das wäre eine gute Gelegenheit, das herauszufinden. Er schlief direkt über der Stelle mit dem Fleck. Wenn überhaupt irgendwo, dann wäre das der Ort, an dem der Geist erscheinen würde. Aber zunächst geschah nichts. Dann wachte der Schläfer unruhig auf, als wäre ein Fremder im Zimmer. Er öffnete die Augen. Im Gang stand ein betrunkener oder angetrunkener Gangster mit erhobenem Schwert. Kagawa sah, wie sich das Mondlicht in der Klinge spiegelte. Wenige Sekunden später würde sie ihm wahrscheinlich ins Fleisch fahren. Er kniete nieder und neigte sich im Gebet: Er erwartete den tödlichen Schlag. Einen Augenblick später sagte der Mann im Flur: „Kagawa, liebst du mich?“
„Ja“, sagte Kagawa.
Dann trat eine Pause ein. Die Stimme sprach weiter, dieses Mal von Nahem: „Hier ist ein Geschenk.“ Kagawa fühlte den Griff des Schwertes in seiner Hand, das der Mann, bei sich getragen hatte.

Einer der gefährlichsten Fälle war ein Alkoholiker. Er wohnte ein paar Türen weiter die Straße hinunter. Kagawa schrieb eine Kurzgeschichte. Er wollte sie verkaufen, um mit dem Geld Medizin für Kranke in der Gemeinde zu kaufen. Der Desperado kam in Kagawas Zimmer und wackelte am Tisch.
„Gib mir zwei Yen oder ich will den ganzen Tag lang an deinem Tisch wackeln.“
„Nein, einer reicht.“

Später verlangte der Mann, der inzwischen bei Kagawa wohnte, Geld für Schnaps. Kagawa wies die Forderung zurück. Der Mann schlug seinen Gastgeber heftig auf den Mund. Dabei schlug er ihm vier Vorderzähne aus und brach ihm vermutlich den Kiefer. Wenn sich Kagawa daran erinnerte, dann scherzte er mit seinen amerikanischen Zuhörern: „Darum spreche ich kein gutes Englisch. Die falschen Zähne wurden mir von einem japanischen Zahnarzt eingesetzt.“ Der Gangster schlief weiterhin auf dem Fußboden neben Kagawa und aß von seinem Reis.
Bei anderer Gelegenheit ging er mit dem Schwert auf Kagawa los. Das Trinken hatte ihn verrückt werden lassen. Diesmal sah es aus, als würde er ernst machen. Die Umstehenden schrieen: „Tu dem Lehrer nichts!“ Kagawa sagte ihnen, sie sollten aus dem Weg gehen. Das gehe nur ihn etwas an. Er wusste, dass das Schwert seines Nachbarn blutig war. Er wollte nicht, dass noch andere mit hineingezogen würden.

Als Junge hatten ihm Geschichten über Schwertkämpfe sehr gefallen. Er hatte oft das große Schwert seines Vaters geschwungen, wenn seine Pflegemutter gerade nicht hinsah. Er stand dann da wie ein Schwertkämpfer, einen Fuß vor dem anderen. Ohne zu lächeln oder zu sprechen – das würde seinen Gegner nur herausfordern – sah er dem anderen gerade und tief in die Augen, tief in etwas, das er vielleicht, wenn er die richtige Haltung einnähme, erreichen könnte. Jeden Augenblick könnte er einen scharfen Stoß in den Körper erhalten. Aber er stand fest und zwinkerte nicht. Etwa zehn Minuten lang waren, ohne dass sich die Körper bewegten, die beiden Willen in einen Kampf auf Leben und Tod aneinander gefesselt. Dann war der Kampf plötzlich vorbei. Sein Schwert schlenkerte wie ein dummes Spielzeug. Kagawas Gegner schlich sich davon.

Wenn Kagawa die Wahl der Waffen hatte, schien er gerne zu kämpfen. Einmal nahm er mit derselben Energie den Kampf mit tausend wütenden und gewaltbereiten Streikenden auf – und gewann. Als er am Sonntagmorgen den Gottesdienst in seiner Kirche in den Kobe-Slums abhielt, wiegelten einige Agitatoren die Arbeiter auf und nun marschierten sie die Straße hinunter geradewegs zu den Kawasaki-Docks. Sie wollten die Maschinen zerstören. An den Docks standen Hunderte mit Schwertern bewaffnete Polizisten, dazu Soldaten mit geladenen Gewehren. Wenn der Zug nicht abgedrängt werden könnte, würde ein schreckliches Gemetzel stattfinden.

Als Kagawa von der Situation hörte, brach er seinen Gottesdienst ab, warf sich in eine Rikscha – er konnte wegen seiner schwachen Lunge nicht den ganzen Weg rennen – und sprang gerade noch rechtzeitig am Ende einer abfallenden Straße wieder aus der Rikscha heraus. Die Streikenden kamen mit der Kraft eines Gebirgsflusses auf ihn zu und skandierten „Waschu! Waschu!“
Kagawa stand ihnen allein gegenüber. Jahre später erzählte er mir: „Als die ersten Reihen dort ankamen, wo ich stand, sah ich jedem Einzelnen gerade in die Augen und betete: ‚Gib uns Frieden!’ Mein Gebet wurde erhört, denn sie ließen sich aufhalten. Da war ich mit meiner Seele im Frieden. Danach wusste ich plötzlich, dass ich auf der Seite Gottes war.“

Die Streikenden bogen in eine Seitenstraße ein und ließen die Docks unbehelligt. Kein einziger Schuss fiel. Die Gewerkschaft war gerettet. Ihr Ratgeber jedoch wurde ins Gefängnis gesperrt.
Die Wärter versuchten Kagawa zu demütigen, indem sie ihn zwangen, einen Frauenkimono zu tragen. Aber er reagierte nicht auf die Beleidigung, sondern schrieb Gedichte auf Toilettenpapier. Einige davon kann man jetzt in seinem Buch „Songs From the Slums“ lesen.

Als Japan widerrechtlich die Chinesen angriff, schrieb er ein Gedicht, in dem er diese um Vergebung bat. Auch auf andere Weise legte er deutlich Zeugnis für seine Einstellung gegen das Kriegssystem ab. Weniger als zwei Jahre vor Pearl Harbor wurde er länger als zwei Wochen eingesperrt, weil er gegen den Militarismus protestiert hatte. Gegen die Mücken verteidigte er sich sehr erfindungsreich: Er zog sich den Mantel über den Kopf und ließ nur die Nasenlöcher frei. Er versteckte seine Hände, setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand und meditierte zwei Tage und Nächte lang fast ununterbrochen. Als er bemerkte, welchen Weg die Zivilisation einschlug, war er zuerst „enttäuscht“. Dann fühlte er sich allmählich auf die Ebene unwiderstehlicher Freude der Gegenwart Gottes erhoben.

Einige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste er in die etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Wälder fliehen. Fanatische Nationalisten hatten seine Exekution gefordert, weil das Gerücht umging, dass die Amerikaner, wenn sie Japan einnähmen, Kagawa zum Premierminister machen würden.
Nach dem Krieg verbrachte er die Hälfte seiner Zeit damit, Sozialprogramme zu leiten, und die andere Hälfte damit, Menschen in Japan für seine Grundüberzeugung zu gewinnen:
„Die Liebe ist ein Macht“, sagte er. „Versuch es! Versuch es!“ Er hatte es getan.

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.








Der gefährlichste Ort

Ned Richards war 1917 ein kräftiger junger Mann. Er verabscheute den Gedanken, dass seine Klassenkameraden bei dem Massenmord an der Front Kopf und Kragen riskierten, während er als Quäker, der als Kriegsdienstverweigerer anerkannt war, relativ sicher war. Deshalb wandte er sich mit der Frage an einen Freund, der die Weltlage kannte: „Wo ist der gefährlichste Ort, abgesehen von den Schützengräben, an den ich gehen könnte? Ich will als Zivilist etwas Konstruktives tun und nicht in der Armee dienen. Ich will es mir nicht leicht machen.“
Die Antwort war: „In Westpersien wirst du die gewünschte Gefahr finden: Cholera, Ruhr, Typhus, Pocken und das Allerschlimmste, die kriegerischen rücksichtslosen Kurden, die oft aufs Geratewohl schießen.“

Ned Richards ging also nach Persien. Dort heiratete er die Tochter eines Missionars, die so ziemlich ebenso empfand wie er. Er war dazu entschlossen, ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen und Persien sollte sein Labor werden. Die Frage war: Wenn einer weder lügt noch hasst noch tötet, kann er dann trotzdem in einer Krise etwas bewirken, wenn er auf den Willen Gottes vertraut?
Die Hypothese, deren Funktionieren er beobachten und dann in eigenen Erfahrungen erproben wollte – das sind seine eigenen Worte –, kann man etwa so formulieren: „Die Macht der Liebe ist stärker als die Macht des Hasses. Um das Böse zu überwinden – es wirklich zu überwinden – kann eine Macht, und nur diese eine, gebraucht werden: Die Macht der Liebe. Das Böse kann man einzig und allein mit dem Guten überwinden. Deshalb muss ich bereit sein, etwas wenigstens ebenso Unangenehmes und Gefährliches zu tun wie die, die ihr Leben in den Schützengräben an der Front aufs Spiel setzen. Aber mein Ziel muss sein, das Leben von Menschen zu erhalten und Versöhnung und Wohlwollen zwischen feindlichen Parteien zu bewirken. Ich darf dabei nur Methoden anwenden, deren Anwendung alle Beteiligten aufrichtet und hilfreich und wohltuend für sie ist. Ich muss bereit sein, mich töten zu lassen, und dennoch jeden Menschen zu lieben und ihm zu helfen, zu lieben: auch die Deutschen, die Türken und alle anderen Menschen. Dieses Programm des Einsatzes ausschließlich guter Mittel kann nur zu guten Ergebnissen führen. Ich brauche nichts weiter zu tun, als am Einsatz guter Mittel festzuhalten. Ich muss mich weigern, böse Mittel einzusetzen.“

Freunde, denen er seine Einstellung erklärte, reagierten mit den damals wie heute üblichen Fragen: „Aber was würdest du tun, wenn du mit Frauen und Kindern in einem Haus wärest und ein paar wilde Türken oder Kurden aus den Bergen würden plötzlich hereinbrechen? Würdest du ihnen einfach ihren Willen lassen? Würdest du dabeistehen und Däumchen drehen oder würdest du wie ein Mann kämpfen? Nehmen wir mal an, du würdest wie ein Mann kämpfen. Könntest du nicht auf diese Weise am besten deine christliche Liebe zeigen? Wenn du die Türken oder Kurden töten würdest, dann würdest du sie davon abhalten, den Frauen und Kindern Leid anzutun, und damit würdest du sie davor bewahren, ihrer eigenen Seele Schaden zuzufügen – meinst du nicht?“
Richards stimmte in einem Punkt zu: Er dürfe kein Feigling sein. Aber es musste einen besseren Weg geben. Wenn irgend möglich, würde er ihn finden. Sein Grundvertrauen bestand darin, dass die wirksamste Weise, die zu verteidigen, für die er verantwortlich war, darin bestand, die richtigen Mittel einzusetzen.

Auf dieser Grundlage konnte er sich darauf verlassen, dass ihm die Kraft und die Weisheit Gottes in dem Augenblick zuteil würden, wenn er sie am meisten brauchte. Selbst wenn die, für die er sterben würde, um sie zu schützen, im Verlauf der Handlung auf brutale Weise getötet würden, wäre ihr Tod nicht umsonst gewesen. Wenn man die Bitte „Dein Reich komme“ aufrichtig ausspreche, würde das mehr bewirken, als wenn man noch so viel um sich schießen würde. Tod und Leben lägen nicht in seinen Händen, sagte Richards. Er könne Gott einzig und allein anbieten, sich in Übereinstimmung mit seinem Gewissen aufrichtig zu bemühen. Und das tat er. Deshalb schiffte er sich in der Erwartung nach Persien ein, dass er niemals nach Hause zurückkehren werde.
Wenige Wochen später sorgte Richards für 500 Waisenkinder. Er organisierte die Arbeit von Flüchtlingen, so dass sie Wolle spinnen und Kleidungsstücke weben konnten. Er reinigte die Straßen von Urumiah. Er begrub die Leichen wieder, die Hunde auf den Friedhöfen ausgegraben hatten. Er benutzte Autos, Karren, Esel und Maultiere.

Er lernte ein wenig die Landessprache und bereitete sich auf sein Experiment vor. Aber es geschah nichts. Er wartete. Monate vergingen. Dann waren eines Tages Hufschläge vor dem Tor des Gebäudes zu hören. Kurz darauf wurde mit Gewehrkolben an die Tür gehämmert. Richards öffnete. Die wütenden Gesichter marodierender Stammesangehöriger starrten ihm entgegen. Endlich waren die Kurden da!
„Puhl! Puhl (Geld, Geld)!“ schrieen sie.
„In Ordnung“, sagte Richards, „wir werden etwas suchen.“
Eine Schublade wurde herausgezogen. Dort lag eine kleine Geldtasche mit Münzen. Die Kurden bedienten sich. Richards führte sie zu dem russischen Safe, einem großen Eisenkasten, der einige tausend Dollar für die Hilfsarbeiten enthielt. Aber er hatte keinen Schlüssel. Sollte das sein Ende sein? Nein. Vielleicht könnten sie das Schloss mit einem Schuss sprengen. Er legte einen Finger auf das Schlüsselloch, zeigte damit einem Kurden, wohin er zielen sollte und zog schnell die Hand weg. Es gab einen großen Knall, aber der Safe gab keinen Cent heraus.

Als er die Kurden hereingelassen hatte, bekannte er später, hatte er eine Angst wie nie zuvor in seinem Leben empfunden. Aber dies hier war schlimmer. Es war, als hätte seine Seele den Boden verloren. Er war zu Tode erschreckt. Dann betete er wortlos das Verzweiflungsgebet: „Gott, ich brauche deine Hilfe!“ Plötzlich war seine Angst verschwunden.
Einer der Kurden schlug ihm äußerst stark auf die Schulter. Er drehte sich um und sah den Mann an, als wolle er ausdrücken: „Was soll das? Kannst du nicht sehen, dass ich kooperiere?“ Der Mann senkte das Gewehr.

Ein Kurde schoss in den zweiten Safe. Auch er öffnete sich nicht. Eine wütende Stimme verlangte den Schlüssel. Richards drehte sich um. Ein anderer Kurde zielte auf ihn, den Finger am Abzug. Es war ihm offensichtlich ernst. Auch Richards war es ernst. Er sah ihm mit der ganzen spirituellen Kraft, die er aufbringen konnte, gerade ins Gesicht und sagte die Wahrheit: Er tat wirklich sein Möglichstes, um den Kurden behilflich zu sein. Kein Schuss fiel. Er empfand jetzt den Mut der „Furcht, die gebetet hat“ und wahrscheinlich fühlten die Kurden das.
Der Mann, der gerade auf Richards gezielt hatte, zog ihm einen Schuh aus. Richards blickte auf die Füße des Kurden. Sie steckten in Sandalen aus ungegerbtem Leder. Richards zog den anderen Schuh selbst aus und gab ihn dem Mann.
Dann gingen die Kurden in den Raum, in dem die Frauen und Dr. Dodd waren. Andere Plünderer machten sich dort zu schaffen. Einer hatte sich schon bedrohlich Frau Richards genähert.
„Ring“, forderte der Mann und hielt das Gewehr auf sie gerichtet.
„Nehmen Sie das Ding weg!“ sagte sie und griff nach der Mündung. Der Kurde tat, was sie ihm gesagt hatte. Einer der Männer sprach davon, dass er sie mit in die Berge nehmen würde. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den Schmuck einer anderen.

Frau Richards hatte sich gedacht, dass es gut wäre, wenn keine Waffen zu sehen wären und deshalb ein Gewehr im oberen Stockwerk versteckt. Dr. Dodd war noch schwach von einer Krankheit, aber er hätte trotzdem vielleicht geschossen, wenn er ein Gewehr gehabt hätte.
Die Kurden nahmen noch mehr Schuhe, einen Verbandskasten und zwei oder drei Mäntel mit und verließen bald darauf das Haus, ohne nennenswerten Schaden angerichtet zu haben.
Richards hatte seine Hypothese erprobt. Sie bestand darin: Du musst weder ein Feigling sein noch musst du deinen Mut durch Töten beweisen. Es gibt eine dritte Möglichkeit. Diese dritte Möglichkeit ist vielleicht nicht im Voraus zu bestimmen. Sie besteht in etwas, das man nicht klar erkennen kann, ehe es eintritt. Aber man kann es vorbereiten. Niemand weiß, was sich daraus ergeben wird. Aber man kann seinen Glauben daran lebendig erhalten, dass auf die Dauer die Folgen der Treue zur dritten Möglichkeit besser sein werden, als wenn man sich auf Waffen verlassen hätte. Wenn entweder am einen oder am anderen Ende der Waffe jemand Angst hat, dann kann sie leicht losgehen. Es ist nicht leicht, die Angst loszuwerden. Die Aufgabe besteht darin, es zu versuchen.

Auch bei anderen Gelegenheiten trug die Furchtlosigkeit von Herrn und Frau Richards dazu bei, dass in Westpersien viele Leben gerettet wurden, darunter auch Leben der „Feinde“. Auch ihre vier Kinder verließen sich auf eine andere Art Kraft als die, die alles ganz und gar zerstört. Beide Söhne, einer bereitete sich auf sein Medizinstudium vor, ließen sich während des Zweiten Weltkrieges lieber zu langen Gefängnisstrafen verurteilen, als dass sie einer Methode zugestimmt hätten, die den Bürgern des einen Landes Sicherheit auf Kosten der Unsicherheit der Bürger eines anderen verspricht. Vater Richards ist jetzt Förster in Pennsylvania. Sie alle sind Kämpfer – Kämpfer gegen Krankheit, Verschwendung durch den Staat, Unsicherheit und Dunkelheit im Geist, aber für den Menschen, wer oder wo er auch sei.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.







„Bitte dein Taschentuch“

Eines Tages wurde in der Universität einer der Studenten so wütend darüber, wie die Diskussion verlief, dass er Patrick Lloyd ins Gesicht spuckte. Damals war Pat Tutor. Er hatte die Aufgabe, den Teilnehmern seiner Diskussionsgruppe zu zeigen, wie sie auf Herausforderungen kreativ reagieren könnten. Aber das hatte niemand erwartet! Sein Herz begann zu rasen. Er ballte die Fäuste. Sein irisches Blut schien die Oberhand zu gewinnen, aber nicht für lange.

„Würdest du“, hörte Pat sich zu seiner eigenen Überraschung vollkommen ruhig und in freundlichem Ton sagen, „mir bitte dein Taschentuch leihen?“
Der junge Mann, der Pat ins Gesicht gespuckt hatte, war noch überraschter über die ruhig gesprochenen Worte. Wie im Trance langte er in seine Tasche und reichte Pat sein Taschentuch. Dann wurde er allmählich rot. Er wurde von einem Ohr bis zum anderen rot, so dass Pat in Verwirrung geriet.


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Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
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Ich zünde einfach eine Kerze an

Jeder möchte gerne in seinem Herzen sagen können: „Ich bin durch ein Martyrium gegangen. Ich wurde geprüft und habe bestanden!“

Wilhelm Mensching (1887-1964) aus Petzen bei Bückeburg würde das natürlich nicht sagen. Trotzdem ist er einer der Friedensstifter Europas, die sich am besten bewährt haben. Die Quäker haben ihn ganz zu Recht für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich nicht sehr friedlich gefühlt hatte. Das war während des Ersten Weltkrieges. Er hatte damals als Missionar in Afrika gedient.
Dort hatte seine Familie unter der schlechten Behandlung durch Soldaten der Allliierten zu leiden, besonders seine Frau. Sie war schwanger und die Geburt stand nahe bevor. Es gab dort keine Frau, die bei der Geburt hätte helfen können. Dann wurde eine Politik der Vergeltungsmaßnahmen befohlen und er wurde nach Indien geschickt. Auf der Reise empfand er Angst und Bitterkeit. Er war in Indien interniert, durfte sich aber frei in den Straßen der Stadt bewegen und erlebte dort Gandhis gewaltfreie Bewegung des zivilen Ungehorsams. Er war davon fasziniert und studierte sie Tag für Tag, bis er schließlich zum Pazifisten wurde.

Natürlich gab es dafür auch noch andere Gründe. Ein englischer Medizinaloffizier leitete die Station in dem Krankenhaus, in dem er zur Genesung war. Mensching, der noch stark die Pflicht des Gehorsams dem Staat gegenüber empfand, stand stramm, so schwach wie er war. Dabei zitterte er am ganzen Körper. Der Engländer sah ihn verwundert an. Dann sagte er freundlich: „Fürchten Sie sich nicht, Bruder, Ich bin Arzt. Ich werde Ihnen nichts antun. Ich will Ihnen nur helfen. Dieser Krieg ist etwas Schreckliches … Wenn doch nur alle Menschen Brüder sein könnten.“
Damit war der Samen gelegt. Schließlich wurde er, immer noch als Gefangener, nach England geschickt. Er lebte in einem offenen Lager und musste oft im Regen schlafen. Nach dem Krieg wurde er der Kirche in Petzen zugeteilt, wo er seitdem Pastor war. Das könnte man eine konservative Situation nennen. Mensching trägt einen Zylinder zu einem schwarzen Anzug. In der Kirche gibt es ein pergamentenes Dokument, das ins Jahr 984 zurückreicht. Aber niemand soll aus diesen Einzelheiten schließen, dass er seiner Zeit hinterherhinkte. In Wirklichkeit ist er ihr Jahrhunderte voraus.

Als es Mode war, mit „Heil Hitler“ zu grüßen, sagte er, sowohl vor als auch während des Krieges, fest und fröhlich „Guten Tag“. Er blickte nicht zurück auf die Autorität von Reich und Militär, sondern vorwärts in eine demokratische Lebensweise.

Ein anderer Deutscher, der Mensching nahe stand, erzählte etwa 1933 Douglas Steere, dass es da einen Exkommunisten gebe, der nun ein strammer Nazi sei und der damit prahle, dass er während des Ersten Weltkrieges Menschen getötet und Gefangene gefoltert habe. Nun war er im Begriff, Mensching aus der Kirche zu werfen, weil der Pastor nicht mit dem Naziregime sympathisierte: Er hatte nicht einmal eine Fahne gehisst! Als Mensching das gehört hatte, ging er geradenwegs zu dem Nazi und erklärte ihm offen seine Einstellung.

Jahrelang hatte er die Armen besucht und Bedürftigen geholfen, ganz gleich zu welcher Klasse sie gehörten. Er hatte in seiner Kirche niemals eine Fahne aufgehängt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er in der Hauptsache Christus treu sei. Davon könne ihn nichts und niemand abbringen. Wenn der Mann, mit dem er sprach, ihn wirklich aus der Kirche vertreiben wolle, dann sei jetzt die rechte Zeit dafür: Er habe ja alle dafür nötigen Beweise in der Hand. Der Nazi hielt ihm schweigend die Hand hin. Er unternahm nichts gegen den Pastor.

Den ganzen Krieg über nahm der Pastor die Worte: „Liebe deine Feinde“ ernst. Am Fußende seines Bettes hatte er ein Blatt Papier aufgehängt, auf das die Namen der Führer der feindlichen Regierungen gedruckt waren: Churchill, Roosevelt und Stalin. Wenn er aufwachte und die Namen sah, betete er für Völkerverständigung und –führung.
In seiner Tasche steckte eine Postkarte des Sekretärs des Versöhnungsbundes Englischer Zweig, die er über einen Schweizer Freund bekommen hatte. Es war eine Freundschaftsbotschaft und enthielt die Versicherung, dass nichts die Beziehung zerstören könne. Eine weitere Inspirationsquelle war ein Notizbuch, das er oft aufschlug, mit Worten von Sokrates, Paulus, Thomas More, James Nayler und Gandhi. Der Gedanke der Kraft der Wahrheit oder Satyagraha, zu dem Gandhi einlud, scheint ein Teil seines Nervensystems geworden zu sein.

Auch seine Fähigkeit zum Lachen half ihm. Als ein Offizier der Armee ihn eine halbe Stunde lang belästigt hatte, weil er „Guten Tag“ und nicht „Heil Hitler“ gesagt hatte, betete er. Dann lächelte er, als er an ein Erlebnis mit Hunden dachte, von dem ihm sein Vater öfter erzählt hatte. Diese Hunde hatten immer nachts sehr laut gebellt. Sein Vater hatte dann nur gesagt: „Ich will einfach abwarten. Irgendwann müssen sie ja aufhören.“ Ebenso würde der Offizier eines Tages aufhören.
Wahrscheinlich war es die bloße Kraft von Menschings Integrität, die ihn durch den Krieg brachte. Als der Krieg vorüber war, erzählte ihm der Major, der aus einem Internierungslager für Nationalsozialisten zurückgekommen war, von seinen Erlebnissen.

Während des Krieges wurde dieser von einem Gestapochef des Gebiets zu sich gerufen, der alles über den Pastor wissen wollte. Interessierte er sich für Kriegsgeheimnisse? „Nein, nie“, antwortete der Major. „Stand er mit ausländischen Freunden in Beziehung? Wahrscheinlich! „Aber alles, was er will, ist, dass der Krieg aufhört. Er würde uns nie verraten. Er ist mit allen Menschen Freund. Er würde uns nicht ausspionieren“, sagte der Major. Der Gestapomann war beeindruckt.
„Wären Sie bereit“ fuhr er fort, „mit Ihrem Leben dafür zu bürgen, dass dieser Mann uns nicht verraten würde?“
„Ja“, sagte der Major, „das würde ich.“
„Gut also. Bevor wir etwas gegen Mensching unternehmen, werden wir zuerst mit Ihnen Verbindung aufnehmen.“

Am 18. Mai wurde bei dem ersten Luftangriff der Alliierten in der Gegend eine junge Frau getötet, die zur Gemeinde gehörte. Das Opfer trug keine Uniform. Sie starb in ihrem Haus. Waren diese Alliierten nicht Teufel, wenn sie Bomben auf Unschuldige warfen? Die Nazis bemühten sich nach Kräften, dieses Ereignis für ihre Propaganda auszunutzen. Sie erschienen in großer Zahl beim Trauergottesdienst, um den Pastor zu stellen. Wenn er sich nicht gegen „die Grausamkeit“ aussprach, würden sie ihn dieses Mal bekommen und vielleicht auch seine Frau und seine Kinder.
Das war eine Prüfung! Mensching bestand sie in allen Ehren. Nicht ein Wort kam über seine Lippen, das Hass oder Vergeltung predigte. „Viele Tausende“, sagte er stattdessen, „in vielen Ländern erleiden ähnliche oder schlimmere Tragödien.“ Im Mittelpunkt seiner Ansprache stand nicht die menschliche Schwäche, sondern „die Gegenwart unseres gemeinsamen Vaters“.
Aber auch Mensching fühlte sich nach dem Gottesdienst schwach. Da kam ein Dorfbewohner zu ihm und sagte: „Sie haben genau das Richtige gesagt. Wenn sie ausgewichen wären und aus Furcht etwas anderes gesagt hätten, dann hätten Sie das Vertrauen der Menschen verloren, die so weiter auf sie zählen.“

Frau Mensching bemühte sich, seinen Mut zu unterstützen, aber es gab Sonntage, an denen sie vor Besorgnis zitterte, wenn ihr Mann auf die Kanzel stieg. Die stille, zarte Frau, die immer großzügig und freundlich war, hatte gute Gründe, für den Pastor zu fürchten. Oft sagten die Gottesdienstbesucher nach dem Segen zueinander: „Diesmal wird er sicherlich verhaftet.“
Einmal sah es so aus, als ob die beiden das Konzentrationslager nicht länger umgehen könnten. Alle mussten zur Wahl gehen. Entweder waren sie auf Parteilinie oder nicht! Die Wahl wurde geheim genannt. Tatsächlich – das teilte ihnen ein Freund mit – waren die Stimmzettel von Herrn und Frau Mensching merkiert, so dass ihre Wahl offensichtlich werden würde. Sie hatten nur eine Wahl und die war „Nein“. Aber das hätte eine schwere Strafe, auch für die Kinder, bedeuten können.
Als die beiden zu den Wahlurnen gingen, sagten sie beide laut und deutlich: „Guten Tag!“ Die Stille im Raum verkündete Unheil. Mensching suchte auf dem Zettel nach einer Markierung und konnte keine entdecken. Plötzlich brach die ruhige Stimme von Frau Mensching das Schweigen: „Entschuldigen Sie, meine Herren, aber mein Stimmzettel hat einen kleinen Fettfleck. Würden Sie mir wohl bitte einen anderen geben?“

Das Schweigen, das dem folgte, war noch stärker aufgeladen. Dann sagte einer der Wahlhelfer: „Ja, Frau Mensching, natürlich. Hier haben Sie einen anderen Stimmzettel.“
Beide stimmten mit „Nein“, falteten ihre Stimmzettel, warfen sie in die Wahlurne und gingen. Sie fragten sich, wann sie wohl verhaftet würden. Aber man ließ sie in Ruhe.
Mensching ist ein Mann, der die Brücken hinter sich abbricht und der seine Augen nur auf das höchste Ziel richtet, das es gibt. Als die Nazis an der Macht waren, ließ er sich nicht durch das Böse, das sich in ihnen manifestierte, hypnotisieren. Und er kümmerte sich auch nicht darum, was später die Kommunisten tun mochten. Stattdessen richtet er seine Aufmerksamkeit und Ergebenheit auf die Kraft, die zur Gesundheit führt, die Macht im Universum, die sehr stark, sehr lebendig und dauerhaft ist, deren Güte alle einschließt, selbst die, die ihn vielleicht töten würden.
Einem amerikanischen Besucher vertraute er sein Geheimnis an: „Wenn ein Mensch Böses tut, ist er in der Dunkelheit. Er kann nicht sehen. Wenn ich am Abend nach Hause komme und mein Haus ist dunkel, greife ich dann zu Bürsten und Schrubbern, um die Dunkelheit zu vertreiben? Nein, ich zünde einfach eine Kerze an.“

Aus dem Buch: 
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Gefahr als Gelegenheit

M hatte sich oft gefragt, wie sie in der Prüfung reagieren würde und ob diese Prüfung überhaupt käme. Würde sie wütend werden? Würde sie wie ein Feigling reagieren? Oder würde sie irgendwie das Richtige und Tapfere tun? Sie wusste es nicht. Aber sie war bereit, es zu probieren und zu dann zu sehen.

Es war am 2. Dezember 1956, dem Glückstag für die Bus-Boykotteure in Montgomery, Alabama. Der Boykott hatte 381 Tage gedauert und sie feierte den Sieg oder den „Einsteige-Tag“, indem sie mit Würde in einem Bus fuhr.
M war eine große Frau. Als sie an ihrer Haltestelle ausstieg, sah sie einen jungen Weißen, der ebenfalls ausstieg. Er hatte einen harten Blick. Als der Bus anfuhr, kam er schnell auf sie zu und schlug ihr, so stark er konnte, ins Gesicht. Der Schlag war so stark, dass sie fiel. Er stand über ihr und ballte die Fäuste. Ein Wagen mit Weißen kam um die Ecke und die Türen öffneten sich. Offensichtlich hofften sie, sie könnten Ärger machen. Aber niemand gab ihnen einen Vorwand. M’s Gruppe nahm die Regel, die sie sich auferlegt hatte, ernst: „Wenn sich ein Zwischenfall ereignet, greif nicht zugunsten der Person, die angegriffen worden ist, ein. Wenn du das nämlich tust, wird das nur Weiße dazu bringen, dem Angreifer zur Hilfe zu kommen. Daraus ergibt sich eine Situation der Gewalt.“

M blieb einen Augenblick liegen und dachte darüber nach. Später gestand sie, dass sie zwar weder ein Rasiermesser noch eine andere Waffe bei sich trug, aber in dem Augenblick ihren Gegner gerne „in Scheibchen“ geschnitten hätte. Aber sie unterdrückte diesen Impuls und dachte an die Trainingsanweisungen: „Wenn dich jemand schlägt, schlage nicht zurück. Wenn dir Gewalt angetan wird, reagiere nicht mit Gewalt. Andererseits sollst du weder Feigheit noch Furcht zeigen, wenn es dir irgend möglich ist.“ Sie drehte sich auf dem Boden um und saß ganz bewusst ein paar Sekunden da, ehe sie aufstand. Sie klopfte sich den Staub ab und wischte sich das Blut vom Mund.
Sie ging drei oder vier Schritte und blieb stehen. Sie vermied es, den jungen Mann anzusehen. Niemand griff zu ihren oder zu seinen Gunsten ein. Das war eine unerwartete Wende der Ereignisse. Es verwirrte ihn sehr. Er sah schnell ringsum, sprang in den Wagen und floh mit den Männern, die auf ihn gewartet hatten.

Erst am Abend zuvor war M zum ersten Mal so weit, dass sie Gott und „dem kleinen Mann“ (Dr. Martin Luther King, dem Führer der Bewegung) dieses Versprechen geben konnte: „Morgen“, so hatte sie im Stillen versprochen, „werde ich, wenn ich in den Bus steige und deshalb geschlagen werde, nicht zurückschlagen.“

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Die beiden gingen gemeinsam hinaus

Muriel Lester entschloss sich dazu, für die Unterprivilegierten in Bow einzutreten. Das erste Loch, das sie mietete, war nicht größer als der Raum, in dem Kagawa bei den Slum-Bewohnern in Kobe in Japan lebte, nämlich knapp zwei mal drei Meter. Sie fing erst einmal damit an, sich mit ihren Mitbewohnern bekannt zu machen. Sie wurden niemals unangenehm. Nachdem sie mehr als ein Dutzend Jahre dort gewesen war und Kingsley Hall, das im Gedenken an ihren Bruder eingerichtet worden war, sich seit mehr als drei Jahren als beliebtes Nachbarschaftshaus erwiesen hatte, machte sich eine kräftige und trunksüchtige Frau, wir wollen sie Frau Schmidt nennen, aus einer der dreißig in der Nähe gelegenen Kneipen auf, um „ihr eine Lektion zu erteilen“.

Es war die Zeit der Waffenruhe nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gemeinde befand sich noch im Kriegsfieber. Frau Schmidt hatte Ärger mit ihrer Tochter und es kam ihr eines Abends in den verwirrten Sinn, dass Frau Lester ein passender Sündenbock sein könnte.
Ein Nachbar, der die Drohung mit angehört hatte, eilte nach Kingsley Hall, um die dort Anwesenden zu warnen. „Frau Schmidt hat in der ‚Rose and Crown’ alle überredet, mit ihr loszuziehen. Sie kommen aus der Kneipe und wollen dir Vitriol ins Gesicht gießen, meine Liebe. Es wäre besser, ihr würdet die Polizei rufen.“
Aber die Leute in Kingsley Hall wollten das nicht. Frau Lester sagte zu einem oder zwei Clubleitern: „Dies ist eine Prüfung für euch. In ein paar Minuten werden wir angegriffen. Was nützt es zu sagen ‚Dein Arm allein genügt und unsere Verteidigung ist sicher’, wenn es uns nicht ernst damit ist? Wir wollen weiter tanzen, aber sagt es allen leise weiter.“ Das taten sie und sie hatten den Kampfblick, der manchmal die Augen von Pazifisten zum Leuchten bringt.

Bald war es zehn Uhr, also Zeit zum Schließen, aber von der zweifelhaften Frau Schmidt war nichts zu sehen. Die meisten gingen ein wenig enttäuscht, aber vielleicht auch erleichtert nach Hause. Die wenigen, die noch dort geblieben waren, um zu beten und sauberzumachen, sahen, dass plötzlich etwa 20 aufgeregte Frauen und Männer durch eine Seitentür der Halle hereingekommen waren, angeführt von der besagten Frau. Die riesige Frau Schmidt, sie war „wie eine wandelnde Eiche“, ging auf Frau Lester zu. Sie dachte, dass Kingsley Hall für das, was ihrer Tochter zugestoßen war, büßen sollte. Sie begann eine regelrechte Tirade und konnte anscheinend gar nicht wieder damit aufhören. Die Komik ihres Melodramas war offensichtlich, aber die Verteidigung lag ganz und gar im schweigenden Bewusstsein der Gegenwart Gottes.

Schließlich löste sich ein Dockarbeiter aus der kleinen Gruppe um Frau Lester. Er schlich sich zur Seitentür hinaus in den Beetraum. Eine Minute später, als Frau Schmidt noch Atem für einen erneuten Ausbruch schöpfte, rief einer ihrer betrunkenen Begleiter, offensichtlich ohne zu wissen, was er da sagte: „Gott wird ihre Tochter zurückbringen, Frau Schmidt!“
Alle versammelten sich im Kreis, die Männer zogen ehrfürchtig die Mützen und nahmen am Gebet der Gemeinde von Kingsley Hall teil, die betete, dass das Himmelreich in ihren Straßen und Häusern einkehren möge. Alle fielen in das Amen ein.

Dann bot Frau Lester der überraschten Anführerin formvollendet den Arm und wie Braut und Bräutigam gingen beide hinaus. Die Übrigen folgten ihnen freundschaftlich.
Frau Schmidt wurde nüchtern, bevor sie nach Hause gekommen war, und schwor Frau Lester feierlich ewige Freundschaft. Von der Einhaltung dieses Schwurs wich sie niemals ab. Wenn sie später einmal hörte, dass irgendjemand ihre Freundin kritisierte, stand sie klobig auf, stemmte die Hände in die Hüften und verkündete: „Frau Lester ist eine gute Frau. Ich will nix gegen sie hören!“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Unverbesserlich christlich

Am Abend um zehn (dies wurde vor Oktober 1950 geschrieben, als er seine Arbeit als Grubenarbeiter wieder aufgab) nimmt ein teilweise kahler, recht dunkelhäutiger, athletisch aussehender Franzose in einem Overall, einundvierzig Jahre alt, seine Arbeit in einer belgischen Kohlengrube in Quaregnon auf. Er wird täglich außer sonntags acht Stunden unter Tage arbeiten. An den Sonntagen singt, predigt und betet er in seiner Kirche. Er leitet Gesprächsgruppen, ermutigt ehemalige Alkoholiker und lehrt Jugendliche zusammenarbeiten. Sein Zeitplan verlangt fast übermenschliche Kräfte.

Philippe Vernier ist vielleicht nicht von dieser Welt. Aber sicherlich ist er in ihr. Er ist so tief mit ihr verbunden, dass man mit Sicherheit sagen kann: Kaum jemals, wenn überhaupt, hat ein Mensch solche Erfahrungen gemacht und ist aus diesen Prüfungen mit einem reicheren Geist und einem stärkeren Körper hervorgegangen.
Er ist ein Mann, dessen Nest der Himmel ist. Dort liegt seine Sicherheit und nicht auf dem Boden, kuschelig warm zwischen beschützenden Zweigen und Gräsern, umgeben von Distelwolle. Wie Homers Seevogel „freut er sich seiner Schwingen“.

Wozu, so fragt er mit dem heiligen Franziskus, sind die Diener Gottes auf der Erde da, wenn nicht dazu „die Herzen der Menschen zu erheben und sie zur himmlischen Freude einzuladen?“
Das Recht darauf hat er sich verdient. 1933-1935 verbrachte er etwa zwei Jahre in Einzelhaft, weil er einer Methode treu war, die sich vollständig von der des Tötens unterschied. Während er in der Einzelzelle saß, nahm er die Gewohnheit an, seine Meditationen aufzuschreiben. Es bedurfte Jahre später großer Überzeugungskraft, ihn dazu zu bringen, dass er ihrer Veröffentlichung zustimmte. In einer dieser Meditationen stellt er Überlegungen zu zwei Arten von Mut an: „eine, die schlägt, und eine, die erträgt und liebt … Die zweite nimmt an und fängt den Schlag auf, anstatt ihn zurückzugeben.“ Dieser überlegene Mut, mit dessen Hilfe ein Mensch Tag für Tag ohne Zeugen und ohne Lob durchhalten kann, „verwandelt den Sturzbach des eigenen Wesens mit seinen Überschwemmungen und Dürren in einen schiffbaren Fluss“ (zitiert nach: „With the Master“ von Philippe Vernier, Fellowship Press, 21 Audubon St., New York).

Philipps Leben war anscheinend immer so gewesen. Kein französischer Kerker konnte sein Singen zum Schweigen bringen.
Er gestand mir viele Jahre später, dass er während dieses Martyriums „Wunder und Freude erlebt hatte. Gott war mir so nah und so real, dass mich das manchmal fast überwältigt.“ Als er einmal in hochgemuter Stimmung zu singen begann, ärgerte das einen Wächter so sehr, dass er den jungen Mann acht Tage lang an einer besonderen Strafzelle isolierte. Dort gab es weder einen Hocker noch eine Pritsche, nur eine Steinbank. Die Hälfte der Zeit bekam er nur Wasser und Brot. Aber dieses Erlebnis war weit davon entfernt, ihn zu ducken, es half ihm im Gegenteil dazu, sich zu erheben. Diese acht Tage, sagte er (und ich werde niemals vergessen, wie er seine Arme ausbreitete, als er sich daran erinnerte, wie sein Geist befreit wurde) – diese acht Tage waren „ein Lied in der Tiefe meines Herzens. Ich empfand das Glück eines Kindes, das gerettet worden war. Mir war, als ob ich auf einem Meer gewesen wäre, alle wären ertrunken und dann ergriffen mich Gottes Arme und hoben mich in die Höhe!“

Nach der Zeit in Einzelhaft verbrachte er weitere fünf Monate „mit den anderen“ und arbeitete als Friseur. Einer seiner Mithäftlinge war ein junger Schwarzer, der im Gefängnis saß, weil er einem weißen Offizier ins Gesicht geschlagen hatte. Was Verniers Freundlichkeit für diesen bedeutete, wird durch das folgende Ereignis deutlich. Der Schwarze benahm sich eines Tages auffällig gewalttätig. so dass er erwarten konnte, mit besonderer Strenge bestraft zu werden. Er hoffte, dass er in der Nähe seines weißen Freundes eingesperrt würde. Diese Hoffnung erfüllte sich. In dieser Nacht hörte Vernier eine bekannte Stimme auf dem Korridor.
„Wie bist du denn hierher gekommen?“ rief er.
Der andere erklärte seine Strategie. Die beiden in ihren voneinander getrennten Zellen lachten gemeinsam.

Immer wieder erwies sich in dem Prozess, der zu seiner Verurteilung zu einer langen Haftstrafe führte, seine Anziehungskraft und seine Führungsstärke. Der Vater eines Elfjährigen erzählte, wie dieser junge Pastor, als er in Lille mit Benachteiligten arbeitete, seinem Sohn wie ein älterer Bruder gewesen sei. Der Junge starb an Meningitis. Wenn die Schmerzen für ihn unerträglich wurden, fragte er nach Vernier, weil der der Einzige war, der ihn beruhigen konnte. Vernier betrat dann den Krankenraum, ging zu seinem Bett, legte dem Jungen die Hand auf die Stirn und betete. Der Patient schlief dann ein, aber zuvor murmelte er erleichtert, „Danke, Philo, danke!“

Vernier liebt sein Heimatland wie nur wenige – und zwar auf eine Weise, die mit seinem Gewissen übereinstimmt. Es wäre für ihn eine Art Verrat, wenn er Waffen benutzte, um etwas so Kostbares zu verteidigen. Das kann natürlich ein Militärgericht nicht verstehen. Ein Gerichtspräsident, vor dessen Gericht er stand, weil er sich geweigert hatte, eine Militäruniform anzuziehen, argumentierte so: „Sie sprechen von der menschlichen Bruderschaft, aber könnten sie diese nicht besser predigen, wenn Sie nicht im Gefängnis wären?“
Vernier antwortete: „Predigen ist nicht das Einzige. Wenn Sie zugeben, dass es geistige Werte gibt, dann müssen Sie anerkennen, dass man Gott und der Menschheit auch mit rein geistigen Mitteln dienen kann. Dazu gehört auch das Gebet.“
„Aber auch Gebet ist nicht das Einzige“, antwortete der Präsident. „Es gibt auch Worte. Sie als Pastor haben eine Kanzel zur Verfügung, um die Gute Nachricht zu verbreiten.“
„Aber“, sage Vernier höflich, aber bestimmt, „wenn ich mit etwas beginne, das ich als Verrat ansehe, dann haben meine Worte keinen Wert mehr. Ich kann nur sprechen, wenn ich mein Verhalten und meinen Glauben in Übereinstimmung miteinander gebracht habe.“
Der Präsident erwiderte, dass wir Menschen nun einmal „nicht im Absoluten leben“.
„Wenn Christen dem zustimmen“, sagte Vernier, „dann verweigern sie die Grundlagen des Dienstes an Jesus Christus.“

Das war fünf oder sechs Wochen vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Als Europa zum zweiten Mal in Angst und Hass aufflammte, verließ Vernier, obwohl er nun Pastor einer Missionskirche bei den Grubenarbeitern in Belgien in der Nähe von Mons war, seine Freu und sein Kind und meldete sich sofort bei der Militärbehörde in Frankreich, um sich als christlicher Kriegsdienstverweigerer eintragen zu lassen.

Nachdem er vier Monaten im Gefängnis gewesen war, wurde er zu weiteren vier Jahren verurteilt. Aber zuvor legte er vor dem Militärgericht folgendes Zeugnis ab:
„Ich will mit meiner Haltung durchaus weder ein Urteil über irgendeinen von Ihnen noch über die, die kämpfen, ausdrücken. Nicht durch eine Theorie wird einer zum Christen, sondern durch die Integrität des Herzens, und ich weiß, dass viele Offiziere und Soldaten bessere Menschen sind als ich. Ich bin nur ein armer Sünder, voller Fehler und in vielerlei Hinsicht schlechter als sie. Aber ich glaube, dass es an diesem Tag und an diesem Ort meine Pflicht ist, klar und deutlich meine Überzeugung darzustellen. Sie sehen das vielleicht als eine rein intellektuelle Angelegenheit an, dass die Bibel den Krieg nicht heilig sprechen kann und dass es mir unmöglich ist, einen Menschen zu töten … Zu einigen Zeiten gab es in der Geschichte eine Art christlicher Offensive. Da wurden gewisse fest etablierte Theorien bekämpft. Es war z. B. einmal möglich, Christ zu sein und trotzdem Sklaven zu besitzen. Aber eines schönen Tages kämpfte eine christliche Offensive gegen diese Idee und triumphierte über sie. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Christen und die Menschen im Allgemeinen ihre Ansichten über den Krieg nicht ändern, sie zugrunde gehen werden. Ich gründe mich auf christliche Prinzipien….Trotz der Dunkelheit, in der wir uns befinden, trage ich eine sehr große Hoffnung in mir: Ich hoffe auf die Macht Gottes.“

Etwa drei Monate später sprengte eine explodierende Bombe die Tür des Gefängnisses. Vernier machte sich auf den Nachhauseweg. Sein Bruder war bei ihm. Ihre Reise verlief nicht besonders ruhig. Beide wurden zweimal zum Tode verurteilt: das erste Mal von der Landespolizei, die sie in eine Art Turm sperrte. Die Polizisten beschuldigten sie, zur 5. Kolonne zu gehören und schuld an der Niederlage zu sein. Aber da ihr Hauptmann nicht da war, durften sie sie nicht erschießen. Dann kamen die Deutschen und die Polizisten rannten weg. Die Männer im Turm vergaßen sie. Die beiden Brüder hatten vergeblich versucht, die Tür mit deinem Eimergriff aufzubrechen. Aus Verzweiflung waren sie dann eingeschlafen. Am nächsten Morgen kam ein Polizist und öffnete ihnen die Tür. Als er ihre Geschichte und ihre Gründe für die Kriegsdienstverweigerung gehört hatte, sagte er, sie hätten Recht. Dann umarmte er sie und ließ sie gehen.

Das zweite Todesurteil fällten die Deutschen, die sie gefangen nahmen, als sie ihrer Wege gehen wollten. Wieder hatten sie Glück. Auf dem langen Marsch flüsterte ihnen an einer Straßenbiegung ein alter Mann zu: „Lauft nach links, Jungs!“ Unbemerkt schlichen sie sich nach links aus der Reihe, liefen sehr schnell und versteckten sich 24 Stunden lang in einem Heuhaufen. Zwei Tage danach erreichten sie auf Seitenwegen Le Cambon in den Hügeln Frankreichs. Schließlich kehrte Philippe nach Quaregnon in Belgien zurück, wo seine Familie und seine Gemeinde waren.

Seine Frau Henriette war so heldenhaft und humorvoll wie er. Ihr drittes Kind, ein Junge, wurde fast wörtlich zwischen fallenden Bomben geboren – es waren unsere (amerikanische) Bomben. Eins unserer Kirchenmitglieder ging sie ein paar Tage später besuchen. Es war ein Oberst, der unter erheblicher Gefahr zum „Pfarrhaus“ vordrang. Er brachte als Zeichen der Anerkennung durch unsere Kirche Frau Vernier 150.000 $ in Francs. In seinem Brief vom 6. Februar 1945 stellt er seine Eindrücke dar:

„Nicht oft wird einem Menschen während seines Lebens Gelegenheit gegeben, ins Himmelreich eingetreten zu sein. Aber genau das empfand ich, als ich das Haus Vernier verließ … Als ich an die Tür klopfte, erschienen zwei Engel auf der Schwelle. Zwar hatten sie keine Flügel, aber die Kinder mit den strahlenden Augen, die mich begrüßten, gaben mir das Gefühl, dass ich vor der Himmelspforte stand und von zwei Cherubim hereingebeten wurde. Auf meine Frage antworteten Sie: ‚Papa ist nicht zu Hause’, dann gingen sie ihre Mutter holen. Als sie in den Flur trat, erkannte ich an der Güte in ihrem Gesicht, dass ich einer geheiligten Person gegenüberstand. Sie war höchst erfreut über eure Nachricht und die bescheidene Gabe. Vielleicht war es ebenso gut, dass ihr Mann zu diesem Zeitpunkt einen Gottesdienst in seiner Gemeinde abhielt, denn ich stelle ihn mir gerne weiter so vor, wie ihr ihn in eurem Brief beschrieben habt und wie er in den Beschreibungen der Menschen des Stadtteils erscheint – ja, sicherlich wie der heilige Franziskus. … Ich erfuhr, dass das Geld nicht in der Familie Vernier bleiben, sondern dass es dafür verwendet würde, die zu unterstützen, denen die Familie in allen diesen Jahren so aufopfernd gedient hatte. … Ich war neun Stunden in einem Eisenbahnwagen der Armee unterwegs gewesen und schließlich halb erfroren an meinem Bestimmungsort angekommen. Das waren die kältesten Stunden, die ich je erlebt hatte, aber die Wärme des Hauses, das ich betrat, machte mir klar, dass meine Leiden im Vergleich mit all den Leiden, denen diese Menschen in den letzten fünf Jahren unterworfen gewesen waren, keinerlei Bedeutung hatten.“

Nach dem Krieg war als ein Zeichen ihres Glaubens an das Leben Philippe und Henriette ein zweiter Sohn geboren worden. Die Jahre danach waren voller Arbeit, aber es gab keine Verwirrungen mehr. Ein Mitpastor gab einmal die folgende Beschreibung: „Philippe ist der Organisator, Leben und Seele einiger Ferienlager. Er ist ihr Athlet, Koch, Assistent und Pförtner, der unermüdliche Erzähler aufregender Geschichten, Autor von Theaterstücken und Schauspieler. Sie hätten ihn dabei sehen sollen, wie er den Chorgesang von hundert Jungen leitete. Er wiegte mit dem Klang seiner Flöte die Kinder in den Schlaf, bis er selbst einschlief.“

Diese Darstellung scheint zwar übertrieben, aber sie ist dennoch wahr. Nur dass Philippe ständig neue und dringendere Aufgaben übernimmt. Nachdem die deutsche Besetzung vorüber war, schrieb er, er wolle die Erfahrungen seines Lebens dazu verwenden, „einen weiteren Krieg unmöglich zu machen.“ Einige Jahre später schrieb er, dass er Fortschritte in dieser Richtung plante, indem er „versuchte, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jeder immer mehr etwas gibt und empfängt, anders als in einer klerikalen Organisation, in denen der Pastor die spirituellen Aktivitäten monopolisiert … Seit Anfang Oktober arbeite ich als Grubenarbeiter in einer Kohlengrube im Ort. Das tue ich teilweise, um mich besser in dieses Gemeindekonzept einzubringen, und teilweise auch, um in engeren Kontakt mit den Grubenarbeitern zu kommen, unter denen ich seit zehn Jahren lebe. Das gibt mir Gelegenheit zu wunderbaren Kontakten mit meinen neuen Kameraden: Belgiern, Italienern, Deutschen, Polen, Ungarn, Litauern und anderen. … Für gewöhnlich schlafe ich am Morgen und verrichte meine Arbeit für die Kirche nachmittags und abends.“

Niemand kann Philippe Vernier mit einem einzigen Satz zutreffend charakterisieren. Allerdings gelang das fast einem verärgerten Armeeoffizier. Zwar kann sein Freund die Tatsächlichkeit dieser Geschichte nicht beweisen, jedoch ist Vernier zu wahrheitsliebend, um sie zu leugnen. Es war etwa fünfzehn Jahre zuvor. Der Offizier hatte sein Bestes getan, diesen intelligenten, bescheidenen, vitalen, fröhlichen und freundlichen Gefangenen mit dem eisernen Willen dazu zu bringen, sich zu fügen. Die Armee hatte monatelang ohne Erfolg die alten Techniken bei ihm angewendet. Danach sollte dieser Offizier einen Schlussbericht anfertigen. Dahin, wo zu diesem Zweck in dem Formular Platz gelassen war, kritzelte er verzweifelt: „Unverbesserlich christlich.“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
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101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Ein Rezept für Wagemut

Gegenüber dem Haus von drei Schwestern mittleren Alters in Holland hatte sich die Gestapo eingenistet. Das war während der deutschen Besetzung, als es gefährlich war, mit Juden befreundet zu sein. Aber sie beherbergten und pflegten einen alten und gebrechlichen Juden unter ihrem Dach, dazu noch eine alte Dame, die aus ihrer Umgebung evakuiert worden war, weil es dort gefährlich war.
Die Schwestern gehörten der reformierten Kirche an. Zu ihrer äußersten Bestürzung kam eines Tages ein Angehöriger der Gestapo zu ihnen. Er war sehr hell und strahlend und sagte ihnen, er sei in Mottlingen, einem Konferenzort in Süddeutschland, gewesen und er habe gehört, dass auch sie dort gewesen seien. Sie baten ihn herein, schüttelten ihm die Hand als einem Bruder in Christus, aber sie sagten ihm auch gerade heraus, dass sie dabei einander widerstreitende Gefühle hätten.

Im Laufe des darauf folgenden Gesprächs sagte der Gestapooffizier: „Was für ein hübsches Haus Sie haben. Sie haben den Krieg kaum zu spüren bekommen.“
„Sagen Sie das nicht“, antwortete eine der Schwestern. „Heute Morgen gingen 2000 Juden mit ihren Kindern an unserem Haus vorüber.“
„Die Juden sind immer die Ursache für Kriege zwischen den Völkern“, sagte er. „Aus diesem Grund hassen wir sie so.“
„Nicht nur die Juden sind schuld, sondern ich und Sie und auch die Juden“, erwiderte die jüngere Schwester.

Sie waren in wirklicher Gefahr, und zwar wegen des Juden, den sie beherbergten und der sehr alt geworden war. Jedes Mal, wenn die Häuser in ihrer Straße von anderen Gestapoleuten durchsucht wurden, beteten die Schwestern stundenlang, dass die Männer nicht in ihr Haus kämen. Das Unmögliche geschah: Sie gingen am Haus vorüber.

Als der alte Mann dem Tode nahe zu sein schien, erhob sich die Frage, was mit seiner Leiche geschehen sollte. Dieses Problem musste jedoch nicht gelöst werden, weil er nicht starb, sondern sich erholte. Die Schwestern sprachen darüber, wie sie mit dem deutschen Bruder umgehen sollten. Schließlich entschieden sie: „Jesus hätte ihn eingeladen und also müssen auch wir das tun.“ Von diesem Zeitpunkt an betrachteten die Nachbarn sie mit Misstrauen und die alte Flüchtlingsdame im oberen Stockwerk wurde wütend, bis die Schwestern ein gutes Gespräch mit ihr hatten, in dem sie ihr ihre Gründe erklärten.

Der Deutsche kam zu ihren Abendgebeten und hatte eine schöne Singstimme. Er sang die Lieder mit starker klarer Stimme. Die Schwestern entschlossen sich, immer vollständig offen mit ihm zu sprechen. Eines Abends fragte ihn eine von ihnen: „Wie können Sie die Juden verfolgen, wenn Sie gleichzeitig die Bibel lesen? Schließlich wurde die Bibel ja von Juden geschrieben: Matthäus, Lukas, Paulus. Und war nicht Jesus Christus selbst ein Jude?“
„Nein, nein“, rief er aus. „Er war der Sohn Gottes.“
„Ja“, sagte die jüngste Schwester, „aber Seine Mutter war eine reinrassige Jüdin. Wenn sie jetzt lebte, würden Sie sie mit einem Stern brandmarken und in ein Konzentrationslager transportieren.“
Sie fingen schon an, ärgerlich zu werden, deshalb sprachen sie nicht weiter, sondern beendeten den Besuch mit einem Lied. Seine Stimme führte die übrigen Stimmen an.

Bei einer anderen Gelegenheit fragte er eine der Schwestern: „Beten Sie für den Führer?“
„Aber gewiss doch.“ Auf die Frage, wie sie für ihn bete, antwortete sie: „Ich habe nur ein Gebet für ihn: Er möge erkennen, dass Christus der einzige Führer ist.“
Er wurde versetzt und kam, um sich zu verabschieden. „Bevor ich gehe“, sagte er, „möchte ich noch einmal über die Juden sprechen.“
„Ich habe nur ein Gebet“, antwortete eine der Damen, „dass Sie erkennnen mögen, dass die Juden des Herren Augapfel sind.“ Sie wusste, dass das eine große Herausforderung war und dass das ihr letzter Augenblick sein könnte. Der Deutsche wurde blass, zog seinen Revolver und zielte auf sie. Sie wendete den Blick nicht von seinem Gesicht ab und konzentrierte sich auf den Gedanken, dass Gott mit ihr sei. Zu ihrer Überraschung gab es keine Explosion. Sie blickte nach unten und da sah sie, dass er den Revolver auf sich gerichtet hatte und er ihr den Griff anbot. Er sagte: „Sie können mich töten. Ich bin der größte Sünder auf Erden.“
„Nein“, sagte sie, „Auch ich bin ebenso wie Sie eine Sünderin, aber wenn ich Sie erschießen würde, dann würde ich dieselbe Sünde begehen wie Sie.“
„Ich kann jetzt verstehen“, sagte er, „wie schwer es für Sie war, mich in Militäruniform zu empfangen.“

In diesem Augenblick kamen ihre Schwestern von einem Spaziergang mit einem Gast zurück und baten den Deutschen, am Abendgebet teilzunehmen. Sie lasen einen Psalm und sangen ein Lied. Nach dem gemeinsamen Gebet ging er. Lange Zeit später kam er noch einmal zu ihnen und erzählte, dass er sein Haus von Bomben zerstört vorgefunden habe. Er änderte daraufhin seine Meinung über den Nationalsozialismus.

Aus dem Buch: 
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Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
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Sie fand ihren eigenen Weg

Die siebzehnjährige Fei-Yen, die als Kuli arbeitete, lernte in der 8 km von ihrem Dorf entfernten ausländischen Schule schnell lesen und 500 Schriftzeichen schreiben. Dann nahm sie sich vor, anderen Dorfbewohnern dabei zu helfen, auch lesen und schreiben zu lernen.
Als die Japaner sich in der Nähe ihres Dorfes mit Maschinengewehren den Weg freischossen, machte ihr Vater den für eine solche Situation genau richtigen Vorschlag. Sie war das älteste von ziemlich vielen Kindern. Er war der einzige Verdiener. Wenn sie im Gebäude wäre, wenn die Soldaten kämen, müsste er versuchen, sie vor ihnen zu beschützen. Das würde aber nur dazu führen, dass sie ihn mit dem Bajonett erstechen würden wie schon so viele andere Landarbeiter, die versucht hatten, ihre Frauen zu beschützen. Darum musste Fei-Yen „sich alleine einen Plan ausdenken.“ Das bedeutete, sie müsse Suizid begehen.
Aber Fei-Yen war Christin und sie nahm seinen Vorschlag wörtlich. Sie ging weg, verhielt sich ruhig, dachte an Gott und ersann einen Plan für sich. Ihr fiel etwas Gutes ein. Sie ging zu einer 25 km entfernt gelegenen Klinik, wo zwei halb ausgebildete chinesische Ärzte eine große Anzahl Dorfbewohner versorgten. Sie hießen ihre neue Kollegin herzlich willkommen.

Bald erreichten die japanischen Invasoren den Stadtteil, in dem die Klinik lag. Die Ärzte machten schweren Herzens den richtigen Vorschlag: Sie müsse sich alleine einen Plan ausdenken. Und wieder folgte sie dem Vorschlag. Sie verabschiedete sich und suchte sich einen Bauern, den sie dazu bewegte, ihr ein paar alte Kleidungsstücke und große Stiefel zu geben. Sie zog sie an, schnitt sich das Haar ab, kehrte zur Klinik zurück, klopfte an die Tür und fragte mit rauer Stimme, ob man dort nicht einen Kuli brauche.

Am nächsten Morgen versorgten Fei-Yen und die Ärzte – alle mit einem an den Kopf gehaltenen Revolver – verwundete japanische Soldaten. Sie waren froh, dass sie gebraucht wurden.
Etwas nach Sonnenuntergang zogen sich alle japanischen Soldaten zurück. Sie blieben im Dunkeln niemals draußen, wenn es chinesische Guerillas in der Nähe gab. Die Chinesen in der Klinik nahmen sich etwas zu essen und legten sich hin, um ein Nickerchen zu halten. Sie wussten, dass sie in den nächsten ein oder zwei Stunden vielleicht von ihren Landsleuten als Verräter getötet würden. Aber vielleicht würden sie auch von ihnen dafür gebraucht, dass sie ihre Verwundeten versorgten.
So geschah es. Sie versorgten die ganze Nacht hindurch ihre eigenen Leute. Im Morgengrauen waren alle Guerillas verschwunden. Der Tag war für die Japaner da, der Anbruch der Nacht und die Nacht selbst für die Chinesen.

Bald darauf hörte Fei-Yen, dass die Japaner ihr Dorf zerstört hatten und alle ihre Geschwister getötet worden waren. Aber das änderte nichts an ihrer Fürsorge für die verwundeten Japaner.
Der ausländische Arzt, der für die Wahrheit dieser Geschichte bürgt (er erzählte sie einem Sekretär des Versöhnungsbundes), wurde schließlich auf Fei-Yen aufmerksam. Das war in einem 24 km von der Klinik, in der sie weiter arbeitete, entfernten Krankenhaus. Als er eines Abends in einer Versammlung sprach, sah er eine seltsame Person, die weder auf der Männer- noch auf der Frauenseite, sondern im Gang dazwischen saß und wie ein Kuli angezogen war. Aber der Kuli hatte nicht den gewöhnlichen, etwas stumpfen Gesichtsausdruck. Die Augen waren schrecklich wach, das ganze Gesicht leuchtete, als ob ein Feuer der Begeisterung, das im Geheimen im Inneren brannte, nicht verborgen werden könnte. Gleich nachdem die Versammlung vorüber war, wollte er mit dieser seltsamen Kreatur sprechen.

„Sie ist schon weg“, sagte man ihm.
„Wohin?“
„Zurück in die Klinik, etwa 20 km von hier entfernt. Sie kam hierher, um etwas Äther für ihre Arbeit dort zu holen. Um hierher zu kommen, musste sie einige Kilometer durch das Gebiet gehen, das von den Japanern besetzt ist. Und jetzt geht sie mit dem Medikament zurück.“
„Warum ist denn nicht einer der Männer gekommen?“
„Sie hatten alle Angst.“
Monate danach, als die Japaner das gesamte Gebiet eingenommen hatten, besuchte der Arzt die große Stadt, in deren Nähe die Klinik gelegen hatte. Er war traurig und schämte sich, als er sich daran erinnerte, dass die Missionare ihre Arbeit in der Stadt schon vor Jahren hatten aufgeben müssen, weil keine finanzielle Unterstützung mehr aus dem Heimatland gekommen war. Deshalb gab es kein chinesisches Flüchtlingslager in der Art derer, die die Missionare für gewöhnlich organisierten. Aber als er sich dem Gelände der Mission näherte, bemerkte er plötzlich Zeichen von Leben dort, geordnetem Leben und nicht nur irgendeinem menschlichen Leben. Die Tore standen weit offen. Die Schriftzeichen „Chinesisches Flüchtlingslager“ waren sauber auf eine Tafel gemalt. Auf der Veranda vor einem der großen Häuser waren Schafe und Ziegen angebunden. Kühe und Hühner sahen gut genährt und zufrieden aus. Das Schulhaus war offensichtlich in Gebrauch. Die Frauen nähten und stickten in einem anderen Gebäude.
Er war überrascht. „Wer macht denn das alles?“ fragte er einen froh aussehenden Jungen. „Möchten Sie ihn sehen? Ich werde ihn holen“, antwortete das Kind. Dann stand er der entzückten Fei-Yen gegenüber.
„Wie haben Sie nur die Erlaubnis bekommen, um dies alles auf die Beine zu stellen?“ fragte er, fast streng in seiner Aufregung. „O“, antwortete sie, „ich habe gesagt, dass ich für die Missionare arbeite, die nicht japanisch sprechen könnten. Sie denken immer noch, dass es hier irgendwo einen Missionar gäbe, aber sie sehen ja, ich mache alles allein.“

Es war gegen Sonnenuntergang, als gerade die Glocken zu läuten begannen. Bald war die Kapelle voller Menschen: die Männer auf der einen Seite des Ganges und die Frauen auf der anderen. „Machen Sie den Gottesdienst, Doktor“, sagte sie. Aber, gestand er später Muriel Lester, er konnte nicht. Er musste zuvor das Geheimnis der Kraft dieser jungen Frau entdecken. „Morgen, will ich das tun“, sagte er, „Ich möchte lieber, dass Sie es heute tun.“
Natürlich gab es keine Bücher. Aber sie hatte einige Sätze aus Gebeten aufgeschrieben, an die sie sich erinnert hatte. Nachdem sie diese wiederholt hatte, betete sie in ihren eigenen Worten, Gott möge alle Freunde und Verwandten der dort Versammelten segnen. Dann betete sie. „Und bitte segne das japanische Volk in seinem eigenen Land, die Menschen, die ebenso wie wir unter diesem Krieg leiden müssen.“ Dann beendete sie den Gottesdienst mit diesem Gebet: „O Gott, bitte hilf uns, allen Hass und Stolz und Furcht und alle Wut aus unseren Herzen mit den Wurzeln auszureißen, denn wir wissen, dass sie Kriege wie diese möglich machen. Um Christi willen, Amen.“
Der Arzt sagte später, dass das der Höhepunkt aller seiner Erfahrungen gewesen sei.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
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Ein Amerikaner wurde nicht mit dem Bajonett aufgespießt

Vielleicht kann ein Tier nicht bereuen. Aber ein menschliches Wesen kann das. Das ist unser einziges Privileg. Und es ist der sicherste Tipp, wenn wir einander nicht von der Erdoberfläche vertilgen wollen. Reue ist keine Reaktion in Worten auf eine aus Worten bestehende Situation. Es ist eine Sache der Umkehr des gesamten Menschen. Die Ergebnisse kann man nicht messen und wägen. Sie können weit führen, wenn jemand auf dem alten Weg, der falsch ist, umkehrt und wenn er alles aufs Spiel setzt, indem er die neue Richtung einschlägt, die die richtige ist. Einer meiner Freunde erzählt, wie ein Mitmensch in einer extremen Situation seine Menschlichkeit behauptete.

Es geschah während des Zweiten Weltkrieges. Mein Freund, ein „Teufelsflieger“, wie die Deutschen die amerikanischen Gefangenen nannten, lief in einer Gruppe amerikanischer Kriegsgefangener mit. Sie trabten verzweifelt in Richtung eines Gefangenenlagers, das, so hatte der deutsche Hauptmann gesagt, fast 30 km entfernt war. Der Hauptmann war von Hass erfüllt. Es hieß, dass seine engsten Angehörigen bei einem Bombenangriff der Amerikaner getötet worden seien. Nun hatte er befohlen, dass jeder Amerikaner, der stolperte und fiel – auch wenn das am zu schnellen Schritt lag - mit dem Bajonett getötet werden sollte.

Mein Freund Jeff wäre fast gefallen, aber ein junger Soldat, der das beobachtet hatte, hielt ihn aufrecht, als der Hauptmann gerade nicht hinsah, und flüsterte ihm ins Ohr: „Not far, not far.“ Ein Amerikaner verlor, nur ein paar Schritte von ihnen entfernt, das Gleichgewicht.
„Erstich den Mann mit dem Bajonett“, schrie der Hauptmann den jungen Soldaten neben Jeff an. Der Soldat, dem das befohlen worden war, ließ sein Gewehr über der Schulter hängen. Hatte er nicht gehört? „Erstich den Mann!“ Diesmal schrie der Hauptmann.

Die Arme des Soldaten und sein fester Wille arbeiteten mit plötzlicher Entschlossenheit. Er konnte frei handeln, gehorchte nicht mehr der Routine von Befehl und Gehorsam. Er handelte aus seinem wahren Inneren, zog das Bajonett aus seinem Gewehr, steckte es in die Scheide am Gürtel, schwieg und bewegte sich nicht mehr. Er sah seinem Hauptmann in die Augen.
Der Hauptmann war so wütend, dass er ihn immer wieder ins Gesicht schlug. Der Soldat stand einfach da. Wahrscheinlich würde er das später mit dem Leben bezahlen.

Es war, als hätte sein Gewissen auf dem Boden vor ihm eine Linie gezogen, die er um nichts in der Welt überschritten hätte. Er würde keinen Schritt weiter in die falsche Richtung gehen. Davor hatte er seinen Willen den Kriegsgewohnheiten unterworfen. Das hatte er nun hinter sich. Er würde sich nicht mehr drängen lassen. Er war ein Mann und seine Integrität war entschieden. Vielleicht sind ihm die Worte nicht eingefallen, aber er drückte die Bedeutung, die hinter den Worten steht, in seinem Handeln aus: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28).

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„Lieber will ich sterben“

Im Oktober 1948 wurde in Sunchon, Südkorea, während eines Aufstandes der Kommunisten Dong-In in seinem Zimmer überfallen. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und Vorsitzender der „Y“ im dortigen College. Wegen dieses Postens wurde er von den Kommunisten geschlagen. Dann brachten sie ihn in eine Polizeistation, damit er dort erschossen würde. Sein neunzehn Jahre alter Bruder Dong-Schin, der auch misshandelt worden war, ging freiwillig mit.

Als Dong-In an die Reihe kam, schrie ihn ein Studienkamerad, der die Kommunisten anführte an, er solle seinem Glauben abschwören. „Wenn du das tust“, sagte er, „kannst du gehen.“
Aber Dong-In wollte lieber sterben. „Ich kann eher mein Leben als meine Religion aufgeben“, sagte er. Dann hörte er, wie sein jüngerer Bruder die Kommunisten darum bat, dass sie ihn statt Dong-In erschießen mögen. Da bat er sie, den Jungen nach Hause zu schicken. Bevor er niedergeschlagen wurde, betete er: „Nimm meine Seele auf und vergib mir meine Sünden.“

Das rettete aber Dong-Schin nicht. Der kommunistische Anführer war wütend darüber, wie er sich weiterhin zu seinem Glauben bekannte, und schrie: „Dieser Kerl ist ja noch schlimmer als sein Bruder!“
Bevor er neben seinem Bruder zu Boden fiel, hörte man Dong-Schin Gott für die, die ihn töteten, um Vergebung bitten.

Diese Einzelheiten können nicht verifiziert werden, aber ein mit dem Vater befreundeter Lehrer, der ein paar Tage später die Szene betrat, hat die Vorgänge rekonstruiert. Er hatte sich als Bettler verkleidet und war durch die Linien geschlichen, um herauszufinden, ob das Gerücht über die Hinrichtung der beiden auf Tatsachen beruhte. In der Nähe der Polizeistation fand er die Leichen der beiden Söhne zwischen anderen Leichnamen, begrub sie und kehrte mit der traurigen Nachricht zum Vater zurück. Dieser war unter dem Namen Pastor Sohn bekannt. Zur Zeit der Ereignisse leitete er einige Kilometer entfernt eine Schule für Leprakranke. Als er davon hörte, galt seine erste Sorge dem Kommunisten, der seine Söhne ermordet hatte.

Er würde den jungen Mann in seine Familie aufnehmen und er würde versuchen, aus ihm einen Christen zu machen. Er sollte Dong-Ins Platz einnehmen. Inzwischen war die Revolte zusammengebrochen, so dass nun das Leben des Jungen in Gefahr war. Deshalb schickte Pastor Sohn eine eilige Botschaft an seinen guten Freund Pastor Ra, der in Sunchon der Kirche diente, er möge zum Befehlshaber der Regierungstruppen gehen und ihn bitten, das Leben des Mörders zu schonen.
Pastor Ra sah sich unter den gefangenen Aufrührern um und fand schließlich, gerade noch rechtzeitig, den jungen Mann. Das Erschießungskommando wollte schon in Aktion treten. Es wurde von Studienfreunden der beiden Ermordeten dazu gedrängt, die „Gerechtigkeit“ forderten. Pastor Ra erklärte dem Anführer, dass er den Vater vertrat. „Pastor Sohn“, sagte er, „will nicht, dass dieser Gefangene getötet oder auch nur geschlagen werde. Er bittet sie, dass sie ihm die persönliche Verantwortung für ihn überlassen. Er will ihn an Kindes Statt annehmen und ihn zu einem christlichen Führer erziehen.“
Aber das sei übermenschlich, wandte der Offizier ein. Kein Vater könne zulassen, dass irgendjemand seinem Sohn ins Gesicht schlage!
„Dieser Vater kann das“, antwortete Pastor Ra.
Der junge Mann wurde nach Hause geschickt. Als Pastor Sohn ihn einige Tage später zur Rede stellte, gab er seine Schuld offen zu und bereute seine Tat aufrichtig.

„Ich vergebe dir“, sagte Pastor Sohn freundlich, „wie mir mein himmlischer Vater vergibt.“
Der Vater des Jungen bot Pastor Sohn seine vier Söhne an, um zu zeigen, wie er empfand. Aber Pastor Sohns Herz umschloss nur den einen. Seine Hoffnung sei, sagte er ohne Umschweife, dass der Junge zum Christen werde, das Werk seiner beiden eigenen Söhne fortsetze und auf diese Weise Gottes Willen erfülle. Aber der andere Vater ließ sich nicht abweisen. „Sie haben eine Tochter, die dieselbe Schule besucht wie eine meiner Töchter“, sagte er. „erlauben Sie, dass sie in unserem Hause lebt. Sie wird uns dabei helfen, das Christentum zu verstehen. Außerdem werden Sie, wenn ihre Tochter bei uns lebt, öfter zu uns kommen und mich unterweisen.“

Dong-Hi gefiel das zunächst durchaus nicht, dann aber wurde sie darauf hingewiesen, dass das ihre Gelegenheit war, Zeugnis für das abzulegen, wofür ihre Brüder hatten sterben wollen.
In Zeiten von Guerillakämpfen ist es schwierig, zuverlässige Informationen zu bekommen. Die Geschichte, wie ich sie bis hierher erzählt habe, wurde von Frau Geraldine Fitch weitergegeben, die sie aus einer koreanischen Broschüre ins Englische übersetzte. Für das Folgende verbürgt sich Alvin Bro, der im Außenministerium arbeitet. Am 4. April 1950 schrieb er begeistert aus Korea über eine Gemeinschaft, die weithin als Atomic Love (atomare Liebe) bekannt wurde. „In den letzten sechs Monaten“, so berichtet er, „veränderte sich das Leben vieler Menschen dort von Grund auf.“
Der Motor dieser verändernden Kraft, fügte er hinzu, sei ein koreanischer Pastor mit Namen Sohn, der einen großen Teil seines Lebens den Leprakranken in einer Inselkolonie in der Nähe von Sunchon gewidmet habe. Alvin Bro fasste das, worüber hier schon berichtet wurde, kurz zusammen und sagte, dass der Kommunist, der die beiden Studenten getötet hatte, als Sohn im Hause des Pastors lebte. Aber das war nicht alles. Die Tochter des Pastors hatte ihre eigene Familie verlassen, um bei der Familie des Mörders „als Tochter“ zu leben. Nach einigen Monaten wurde Pastor Sohns Dorf von den Kommunisten angegriffen. Als sie näher kamen, baten ihn wohl Freunde, das Dorf zu verlassen. Es muss eine schwere Entscheidung für den Leiter des Dorfes der Atomic Love gewesen sein: Korea würde Menschen wie ihn dringend brauchen. Aber was würde mit denen geschehen, die nicht fort konnten?

Pastor Sohn entschloss sich offenbar dazu, bei den leidenden Menschen zu bleiben. Er tat das und wurde erschossen. Man sagt, dass damals, als er durch den befreundeten Pastor erfolgreich für das Leben des Mörders seiner beiden Söhne, der schon vor dem Erschießungskommando stand, eingetreten war, ein Mitglied des Kommandos so tief vom vergebenden Geist des Pastors erschüttert war, dass er den Kolben seines Gewehrs auf den Boden stieß und ausrief: „Ist Jesus so gut? Dann will ich von nun an Christ sein.“
Wie dem auch sei, jedenfalls können wir sicher sein, dass diese Art Energie, die von der Familie Sohn freigesetzt wurde, immer noch eine „radioaktive“ Kraft in Südkorea ist. Und, wer weiß, vielleicht auch im Norden, wo der Totalitarismus sich immer noch behauptet.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.