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Freitag

„Gütekraft und Glauben“ - Bericht über ein Gruppengespräch

„Gütekraft und Glauben“
Bericht über ein Gruppengespräch von Quäkern nach Gütekraft-Referat von Martin Arnold
Langenburg, im Mai 2000

Zunächst gingen wir auf das Impulsreferat von Martin Arnold ein, in dem jeder aussprach, was ihm persönlich aus diesem Referat bemerkenswert war. Hier einige Gedanken aus dieser Gesprächsrunde:
- Die Menschheit steckt große Anstrengungen in Konflikte und deren meist mit Gewalt verbundenen Lösungen. Wir sollten lieber unsere Kraft darauf verwenden zu erforschen, wie wir durch gewaltfreie Aktionen solchen Konflikten begegnen können, ja sie erst gar nicht entstehen.
- Zwischen den Konfliktpartnern kann eine Beziehung hergestellt werden, mit Martin Bubers Worten ausgedrückt ein „Zwischenmensch“ entstehen.
- Vorraussetzung für eine gütekräftige Konfliktlösung ist eine Haltung, die positive Energie beinhaltet, die uns fähig macht, mitzutragen, mitzuleiden, Risiko auf sich zu nehmen. Das daraus resultierende Verhalten hat eine verändernde Kraft auch ohne Garantie auf Erfolg
- Diese grundlegende Haltung ist nicht ohne Gewissen oder Glauben möglich; ein Glaube, zu wissen, nicht allein zu sein, daß etwas da, in uns ist, das wahr und richtig ist, alles weiß und uns spüren läßt, ob man richtig handelt.
- Diese Haltung bewahrt vor lähmender Angst, macht uns fähig mit Kreativität und Phantasie weitere Möglichkeiten zu finden für einen überraschenden Ausweg aus der Konfliktsituation. Das Wissen „es gibt immer noch eine andere Möglichkeit“ hilft!
- Gütekräftiges Handeln ist keine Ausnahme, sondern eine permanente Möglichkeit im Alltag dem Anderen zu begegnen.
- Letztendlich bleibt aber der Erfolg den Anderen mit meiner Gütekraft zu erreichen ein Geschenk – „der Geist weht wo er will“.

Schon in diesem ersten Gesprächsabschnitt wurde uns deutlich, wie vielschichtig wir den für uns zum größten Teil neuen Begriff „Gütekraft“ betrachteten.
Im Weiteren versuchten alle Teilnehmer bei sich nachzuspüren, ob es Erlebnisse gab, in denen „Gütekraft“ zugegen war:
- Eine Freundin berichtete:“ Wenn ich aus dem Meeting kam, waren alle so nett zu mir. Ich erkannte, es waren nicht die Anderen, sondern ich hatte aus dem Meeting etwas mitnehmen können, das den Anderen in einer besonderen Weise ansprach, ohne daß ich mich besonders anstrengen mußte. Es ist eine „himmlische Gütekraft“ oder auch „göttliche Kraft“ die unzerstörbar ist, im Gegensatz zur berechnenden „äußeren Kraft“ (=unsere Zivilisation)“
Auch wenn unserer Meinung nach gütekräftiges Handeln zugegen war, bleibt eine für uns positive Konfliktlösung ein Geschenk und an den folgenden Beispielen mit „Nicht-Erfolg“ haben wir viele Aspekte der Gütekraft herausarbeiten können.
- Eine wirklich ehrlich gemeinte Bitte um Verzeihung wurde nicht angenommen sondern niederschmetternd, ja verletzend abgewehrt.
- Einer anderen Freundin blieb der Zugang zur Konfliktpartnerin, trotz mehrerer Bemühungen, zunächst gänzlich verwehrt.
Dazu kamen uns folgende Gedanken:
- Jemandem verzeihen können heißt nicht, daß der Andere die Verzeihung auch annehmen kann.
- Wir müssen Geduld haben, „den Geist wehen lassen“, der Erfolg ist ein Geschenk und nicht programmierbar
- Wir können versuchen uns zurückzunehmen, uns auf eine „andere Stufe zu stellen“, das heißt versuchen eine andere Möglichkeit zu finden, bzw. dem Anderen auf einer anderen Ebene begegnen.
- Wir müssen lernen den Anderen in seiner Wahrheit erst einmal anzunehmen
- Güte kraft läßt sich mit reiner, unberechnender Liebe beschreiben, die spontan und gewaltlos ist und durch mich wirken kann
In unserem Gespräch wurde auch klar, daß es gerade kleine, oft im Verborgenen bleibende, Handlungen sind, die von Gütekraft Beispiel geben:
- ein verschenkter Fahrschein, der zu einem unerwarteten Augenleuchten bei der beschenkten Obdachlosen führte
- eine positive, offene Einstellung und ein freundliches Begegnen meines Gegenübers von dem ich weiß, daß er wütend auf mich ist, nimmt ihm den Wind aus den Segeln und gibt ihm die Möglichkeit mir ohne Abwehr zu begegnen.
- Kinder sind direkt und klar und handeln noch spontan gütekräftig

Das eigentliche Thema der Gesprächsrunde streiften wir immer wieder und gingen dann konkret darauf ein mit den Fragen einer Freundin: “Wie kann ich einen Gott ertragen, der einen Holocaust zuläßt?, der soviel Gewalt zuläßt?- wird „Glauben“ dadurch nicht fragwürdig?“
Zusammenfassend lassen sich unsere Überlegungen wie folgt darstellen: Wir haben die Freiheit der Entscheidung bekommen und müssen mit allen Konsequenzen leben, dürfen Gott aber nicht dafür verantwortlich machen. „Das von Gott“ ist im Opfer und im Täter, aber nicht automatisch in jedem lebendig.
Wenn wir die Kraft in uns wirken lassen, kann „Gutes heraufkommen“ und wird „Schlechtes heruntergedrückt“. Diese Kraft ist immer wieder neu erfahrbar, läßt uns Eins-Sein mit der Quelle und gibt uns ein Vertrauen des Getragenseins; das bedarf keiner bestimmten Religion.
Aus diesem Vertrauen, aus dieser Liebe, die ich erfahren habe, kann ich gütekräftiges Handeln entwickeln und ich empfinde bei der Rückbesinnung auf diese Geborgenheit ein großes Maß an Dankbarkeit. Auch wenn ich mich der Quelle nur annähern kann, sie nicht beim Namen nennen kann, gibt mir dieses Bewußtsein seine große Kraft. Kraft für reine und spontane Liebe zu meinem Nächsten, wie auch zu mir. Diese Liebe ist ohne Besitzansprüche und ohne Kopfbeteiligung sondern ganz aus der Quelle genähft. Tägliche Besinnung, Andacht und Meditation kann wie eine „Ladestation unserer Batterie“ sein, die Liebe und Gütekraft spendet.

Charlotte Haake (Quäkergruppe Stuttgart)

Direkte gewaltfreie Aktionen / Gütekraft-Aktionen gegen Krieg / für Frieden seit 3000 Jahren - eine Sammlung











Donnerstag

Leipzig 1989 – Friedliche Revolution, ein kommentierter Gütekraftbericht

Von Martin Arnold

Am 9. Oktober 1989 stießen in Leipzig 70.000 Menschen mit Gütekraft das Tor zur Überwindung der DDR-Diktatur auf.

Entscheidenden Einfluss hatte eine Kerngruppe, deren Beharrlichkeit gegen alle Widerstände den langsamen Aufbau eines starken Netzwerks ermöglicht hatte. (Hier kommen nur die wichtigsten Fakten des komplexen Geschehens zur Sprache.) Sie bildete sich seit 1982 aus denen, die das Friedensgebet in der evangelischen Nikolaikirche montags um 17 Uhr gestalteten, und wurde von Pfarrer Christian Führer, dem Gemeinderat und auch auf höherer kirchlicher Ebene gestützt und mit Mühe gegen staatliche Angriffe geschützt. Zur Bewusstseins- und Netzwerkbildung trugen u.a. Ökumenische Versammlungen mit ihrem Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und Impulse aus dem Ausland wesentlich bei.



In der ganzen DDR, auch in Leipzig, wurden Menschen in ihrer Meinungsfreiheit unterdrückt und außerdem Tausende von Ausreisewilligen gesellschaftlich total ausgegrenzt; viele waren empört, viele hatten resigniert. Sie gehörten damit in kirchlicher Wahrnehmung zu den „Mühseligen und Beladenen“, für die Jesus gekommen sei und um die sich daher die Kirche zu kümmern habe. Für beide Gruppen stellte die Nikolaikirche – „offen für alle“ – einen Raum offener Begegnung und des freien Gesprächs zur Verfügung. Da die Friedensgebete von den verschiedenen Gruppen gestaltet wurden, fanden auch die Inhalte dieser Gespräche einen kirchen-öffentlichen, sozusagen offiziellen Ausdruck.
Der freie Dialog auch über Politik und Gesellschaft für die Zukunft des Landes, den die DDR-Politik allgemein verhinderte, wurde im Friedensgebet so selbst in einem geschützten Raum quasi-öffentlich begonnen.

Das ist ein wichtiges Kennzeichen des gütekräftigen Vorgehens: Selbst zu beginnen und so die angestrebte Veränderung selbst bereits ansatzweise in Gang zu setzen ist stark. Es ist viel kraftvoller, als einfach nur Forderungen an andere zu richten. Denn es steckt an.

Bei dem Beten wurden bestimmte Grundsätze beachtet: Es soll als Wort der Versöhnung geschehen; keine bloßen Wirklichkeitsbeschreibungen, die in Ausweglosigkeit enden; ein Mindestmaß an Konstruktivität; keine Herabwürdigung von Personen – Gewaltfreiheit vermeidet auch verbale Gewalt; ungeschminkte, ehrliche Zeugnisse der Betroffenheit in Trauer und Wut ohne „die unerträgliche Ausgewogenheit vieler kirchlicher Verlautbarungen“; wahrheitsgemäßes Aufdecken von Unrecht.



All dies zu beachten ist typisch nicht nur für diesen christlichen Umgang mit Problemen, sondern auch allgemein für gütekräftiges Handeln.
So miteinander zu reden und solches Beten, vor allem, wenn es zur Gewohnheit wird, verändert Menschen, die nur noch empört oder hoffnungslos sind oder resigniert haben. Die Anliegen „vor Gott zu bringen“, entlastet von der Vorstellung, selbst alles machen zu müssen, entlastet von eigener Überforderung und ermöglicht Hoffnung durch die Befreiung zu realistischer Beurteilung der Lage, die ja immer zukunftsoffen ist. So veränderte Menschen fassten Vertrauen in die Zukunft anstatt in Wut oder in Angst zu versinken. Je mehr Menschen bewusst in diesem Geist zusammen sind und ihm Ausdruck geben, desto stärker werden Vertrauen, Mut und Hoffnung auf die Zukunft. 

Zwei Tage vor dem 9. Oktober feierte die DDR-Führung das 40jährige Bestehen dieses Staates und demonstrierte wie bereits an einigen Montagen zuvor Skrupellosigkeit, indem sie nicht nur auf Demonstrierende, sondern auch willkürlich auf Passanten, die zufällig vor der Nikolaikirche vorbeigingen, einprügeln und einige von ihnen einsperren ließ – offensichtlich zur Einschüchterung. Ihr war das Friedensgebet ein Dorn im Auge, zumal sich seit einiger Zeit regelmäßig nachher draußen immer mehr Menschen versammelten, öffentlich diskutierten und demonstrierten.
Am 9. Oktober sollte „dem Spuk ein Ende bereitet werden“. Polizei, Soldaten und Betriebskampfgruppen waren aufgestellt, 8000 Bewaffnete. Blutkonserven waren mengenweise in Leipziger Krankenhäusern bereitgestellt. (Wenige Monate zuvor hatte die Pekinger Führung auf dem Platz des Himmlischen Friedens die für Freiheit demonstrierenden Massen grausam umbringen lassen, die DDR-Regierung war einverstanden.) Betriebe, Kindergärten und Schulen schlossen an diesem Tag früher als sonst. Die Bevölkerung wurde davor gewarnt, am Nachmittag auf die Straße zu gehen. Die Kirche, die ganze Stadt stand unter Druck.



In dieser Situation äußerster Anspannung und geschürter Angst behielten viele Menschen dennoch das Vertrauen in die Zukunft und den Mut, die im Laufe von Wochen und Monaten im Zusammensein bei den Gebeten gewachsen waren. Das Praktizieren des offenen Dialogs und die Forderung des offenen Dialogs bei ausdrücklicher Ablehnung von Gewalt hatten Tausende inspiriert. Eltern, die trotz der Massenmord-Drohungen am Friedensgebet teilnahmen, sorgten für den Fall, dass sie nicht wieder nach Hause kommen würden, vor, wer dann für ihre Kinder sorgen würde. Die Nikolaikirche fasste schon vor dem 9. Oktober die Massen nicht mehr. Daher wurde gleichzeitig auch in anderen Kirchen für Frieden gebetet. Um am Entscheidungstag wirklich Interessierten möglichst wenig Platz zu lassen, kamen tausend SED-Funktionäre Stunden vor Beginn in die Nikolaikirche, Christian Führer sieht dies „als einen besonders humorvollen Schachzug Gottes“. Denn auch diese Nichtchristen hörten nun die gütekräftige Jesus-Botschaft von der Gewaltfreiheit – und auch sie hielten sich hinterher an die Bitte „Nehmt die Gewaltlosigkeit aus der Kirche mit hinaus auf die Straßen und Plätze!“ Christian Führer: „Straße und Kirche gehören zusammen!“ In den Kirchen war die Atmosphäre christlich-gütekräftig. Hier und im Rundfunk wurde ein „Aufruf der Sechs“ Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter drei SED-Sekretäre, verlesen, die sich für den Dialog auch mit der Staatsführung – und damit gegen deren Gewalt-Maßnahmen - einsetzten. Nach dem Gebet strömten insgesamt 70.000 friedlich Demonstrierende, viele mit Kerzen in der Hand, auf den Leipziger Ring. Dort wurde schon Stunden zuvor ein illegal gedruckter „Appell“ zur Gewaltlosigkeit massenhaft verteilt – auch an die Bewaffneten. Provokationen wurden von den anderen Demonstrierenden niedergehalten.
Die politische Führung hatte nicht mit solchen Massen gerechnet und war „auf alles, nur nicht auf Kerzen und Gebete vorbereitet“. Es gab schließlich doch keinen Befehl zu Festnahmen oder zum Einsatz von Schlagstöcken oder Schusswaffen. Tiefe Verunsicherung führender Personen wurde damit auch unter diesen manifest. Sie wurde in den folgenden Wochen so stark, dass der Staat zusammenbrach.

Die Ereignisse belegen eindrücklich die große, ansteckende Kraft des gütekräftigen Vorgehens gegen Missstände, das von den Friedensgebeten ausging. 
Der Hintergrund für die Unterdrückung freier Meinungsäußerungen und für die Ausgrenzung Ausreisewilliger war, allen bewusst, der totalitäre Anspruch des Staates, der alle Lebensbereiche aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen beherrschen wollte. Dies war, Christian Führer sah es klar, der eigentliche Missstand. Unter ihm litten große Teile der Bevölkerung mehr oder weniger, sicherlich auch Mitglieder der Partei, in die viele aus beruflichen Gründen und nicht aus Überzeugung eingetreten waren. Die Berechtigung des Totalitätsanspruchs wurde durch Christinnen und Christen bestritten. Das freie Wort war ein Akt der Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand. Eine Kirche, die dafür legal Raum bot, entfiel damit als Stütze des Systems. Zunächst nutzten diejenigen diesen Raum, die aus ihrem Nicht-einverstanden-sein schon persönliche, riskante Folgerungen gezogen hatten: protestierende Jugendliche und Ausreiseantragsteller*innen. Auch Menschen, die sich noch nicht entschieden hatten, wurden durch sie zur montäglichen Teilnahme angeregt. Das gütekräftig gestaltete Gebet und die offenen Gespräche, schließlich auch Demonstrationen (und Beiträge für das Westfernsehen, das die Vorgänge auch weit in der DDR bekannt machte) erwiesen sich als angemessene Medien zum ansteckenden gütekräftigen Umgang mit dem Missstand. Der „Aufruf der Sechs“ zeigt darüber hinaus: Michail Gorbatschows Moskauer Glasnost-Politik (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) und der Runde Tisch der polnischen Staatsführung mit der Solidarność-Bewegung ermutigten auch sozialistische Funktionäre in der DDR, politischen Dialog als sinnvoll anzusehen und folglich dem Missstand ‚totalitärer Staat‘ die Zusammenarbeit aufzukündigen. Der Konflikt war auf der SED-Führungsebene  angekommen. Zum gütekräftigen Vorgehen gehört bei größeren Missständen klassisch dazu, unter denen, die den Missstand aufrechterhalten, Widerspruch gegen ihn zu wecken und zu verstärken. 
Bei der Rosenkranzrevolution auf den Philippinen 1986 wurde methodisch reflektiert genau darauf systematisch hingearbeitet. Bei der Friedlichen Revolution in der DDR geschah die Verunsicherung der herrschenden Kreise, ohne dass die Unzufriedenen gezielt darauf hinarbeiteten. In Leipzig wirkte die Strahlkraft der Friedensgebete, der am 9. Oktober auch die tausend Funktionäre in St. Nikolai ausgesetzt waren. Sie rief nicht nur die Überzeugung von der Richtigkeit des Dialogs, sondern auch die innere Bereitschaft dazu hervor und mit ihr den tragenden Grund für den Verzicht auf Gewalt gegen Andersdenkende. Der Verzicht auf Gewalt bedeutete als Zeichen der Bereitschaft zum Dialog für die SED, als Partei den Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz aufzugeben. Damit entfiel die Rechtfertigung für den – notfalls mit Waffen durchzusetzenden –  Totalitätsanspruch. Dieser wurde nun, weil er dem Dialog im Wege stand, für alle als Missstand erkennbar. Das war die revolutionäre Botschaft, die von Leipzig ausgehend das empfangsbereite Land elektrisierte und unabweisbar auch sämtliche Führungsebenen erreichte. Nahezu im ganzen Land wurde sie an den folgenden Montagen von Hunderttausenden verstärkt. Was bedeutete dies für diejenigen, die vor allem aus jenem Wahrheitsanspruch ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag als Regierende herleiteten? Die Botschaft von der Notwendigkeit des Dialogs war so stark, dass es für sie nur noch eine Frage der Zeit war, abzutreten.
Christian Führer leitete aus den Erfahrungen mit Nichtchrist*innen bei diesen Vorgängen die Forderung einer „Ökumene mit Atheisten“ ab. 
Unter Gütekraft-Aspekten betrachtet steckt darin die Frage, warum Nichtchrist*innen bis hin zu hohen sozialistischen Funktionären schließlich mitmachten. Führer sieht darin das Wirken Gottes, teils ohne dass sie ahnen, Gottes Werkzeuge zu sein (wie Kyros [Jes. 45,1] und Gorbatschow), teils indem sie von der biblischen Botschaft berührt wurden. Es ist das Wirken „einer einzigartigen Kraft, die die friedliche Revolution gelingen ließ“ (Führer). Diese Sicht ist gut vereinbar mit der allgemeineren Antwort, die der Vergleich mit anderen Vorgängen weltweit nahelegt: 
Die Fähigkeit zu gütekräftigem Handeln ist dem Menschen angeboren wie die Sprache: So wie wir sprechen lernen können, sind auch alle Menschen in der Lage, Gutes zu tun. Dies beruht auf der naturgegebenen Verbundenheit aller Menschen miteinander (biblisch: der Mensch ist Gottes Ebenbild, vgl. das Verhalten des ‚ungläubigen‘ barmherzigen Samariters). Diese Verbundenheit bringt die Neigung mit sich, allen mit Wohlwollen und Gerechtigkeit sowie mit Einfühlung und der Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln zu begegnen (Gütekraft-Potenz). Darum entsteht in Menschen, die wahrnehmen, dass jemand dabei tätig ist, Unterdrückung, Unrecht oder Unmenschlichkeit abzubauen, ein inneres Mitschwingen und ein Impuls mitzumachen. Ob sie es tun, hängt von weiteren Faktoren ab. Wir spüren jedoch alle zumindest unbewusst, dass der Einsatz für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit zu unserem Menschsein gehört, und sind deshalb grundsätzlich bereit, uns zum Gutestun anstecken zu lassen. Darum ist möglich, was Paulus (Röm. 12,21) empfiehlt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde Böses mit Gutem“. Und darum beschreibt der Koran (Sure 41, [33. 34] 35) eine Wirklichkeit: „Gutes und Böses ist nicht einerlei; darum wende das Böse durch Gutes ab, dann wird selbst dein Feind dir zum echten Freund werden.“ Es muss nicht immer ein persönlicher Freund werden, es kann auch ein Mitstreiter gegen Unterdrückung werden, der vorher das System unterstützte. Wenn viele sich anstecken lassen, können so auch Strukturen geändert werden. Dies geschieht – geplant oder ungeplant – dadurch, dass immer mehr von denjenigen Personen, die eine ungerechte Struktur aufrechterhalten, zur Nichtzusammenarbeit übergehen – bis die Struktur kippt. Wichtig ist, frühzeitig die besseren Möglichkeiten zu entwerfen und im Ansatz bereits zu verwirklichen.


Quellen:
- Führer, Christian (2009): Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Berlin: Ullstein.
- Führer, Christian (2014): Frech - fromm - frei. Worte, die Geschichte schrieben.
Leipzig: Evang. Verl.-Anst.
- Mündliche Berichte von Augenzeugen in Leipzig.
- Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. – Vorstand (Hg.) (2008): Bericht über das Kolloquium 2008…: Wissenschaftlicher Kongress „Frieden mit dem Unfrieden? Wissensbestände im Wandel“, 29.2.2008 bis 2.3.2008, Leipzig. Online: http://www.afk-web.de/fileadmin/afk-web.de/data/zentral/dokumente/tagungsberichte/AFK-Tagung-2008_Koll_Frieden-mit-dem-Unfrieden.pdf , S. 19-24 [Zugriff 21.09.2014].
- Wikipedia-Artikel zu: Ökumenische Versammlung, Friedliche Revolution, Montagsdemonstrationen [Zugriff 21.09.2014].
- Bürger, Eberhard (2013): Kirche des Friedens werden – Aufbrüche im Bereich der ehemaligen DDR. Eine persönliche Studie zum 25. Jahr der friedlichen Revolution im Jahr 2014. Hg. Deutscher Zweig des International Fellowship of Reconciliation – Versöhnungsbund e.V. ISBN 978-3-00-042460-1

Was ist Gütekraft?

Der Begriff Gütekraft wurde von Martin Arnold geprägt und stellt einen Versuch dar, den Begriff Satyagraha von Mahatma Gandhi ins Deutsche zu übertragen: „Gütekraft bedeutet mehr, als keine Gewalt auszuüben. Gütekraft ist ein mögliches Element oder ein möglicher Aspekt des Prozesses aktiver Konfliktbearbeitung.“ (Wikipedia-Artikel „Gütekraft“)
Zur Begriffsbildung schreibt Martin Arnold: Eine Woche, nachdem meine Familie das Haus verlassen hatte, ging es im Bombenhagel in Flammen auf. Als Kinder spielten wir auf Trümmergrundstücken. Ich war irritiert und schockiert, dass mein Land, Deutschland, den Krieg angefangen hatte. Frieden macht sich nicht von alleine. Der Abschreckungsgedanke: „Um nicht töten zu müssen, bereit sein zu töten“ leuchtete mir ein. Ich ging zur Bundeswehr. Als ich mich entschied, als Christ zu leben, d.h. auch Feindesliebe zu üben, verweigerte ich den Kriegsdienst. Zur Kriegsverhütung ist allerdings mehr erforderlich, als persönlich beim Töten nicht mitzumachen, nämlich „intelligente Feindesliebe“ (Carl Friedrich von Weizsäcker). In den Traditionen von „Gewaltlosigkeit“ und „gewaltfreier Aktion“ wurden dafür Methoden und Aktionsformen entwickelt. Männer und Frauen, die sie erfolgreich anwandten, war die Kraft wichtig, die dabei zu mehr Gerechtigkeit und Frieden führt, z.B. Hildegard Goss-Mayr: Kraft der Gewaltfreiheit, Mohandas K. („Mahatma“) Gandhi: Satyagraha (spr. Satjāgrah) = Gütekraft, Martin Luther King: Strength to love = Stärke, zu lieben. Wie diese Kraft auch politisch wirkt, hat mich brennend interessiert. Die Deutsche Stiftung Friedensforschung ermöglichte mir ein Forschungsprojekt dazu, siehe www.martin-arnold.eu.

Grundelemente der Wirkungsweise: Eigentätigkeit, Mitschwingen, Nichtzusammenarbeit. Bei gütekräftigem Handeln sprechen die Engagierten aus ihrer Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit heraus andere so an, dass diese sich in ihrem Handeln ebenfalls von ihrer eigenen, vielleicht kaum bewussten Neigung zu Wohlwollen und Gerechtigkeit leiten lassen. Dabei spielen vor allem folgende Elemente eine Rolle:
Eigentätigkeit: Gütekräftig Handelnde konzentrieren sich zunächst auf ihre eigene Mitverantwortung an einem Missstand: Sie suchen nach Möglichkeiten, wie sie selber den Missstand abbauen oder dazu beitragen können, und setzen sie um. Wenn dies nicht ausreicht, suchen sie nach Wegen, die Unterstützung anderer zum Abbau des Missstandes zu erhalten. Das engagierte Vorbild und die wohlwollende Haltung stecken andere an. Martin Arnold spricht von Mitschwingen.
Mitschwingen: Andere Menschen werden durch das Vorangehen engagierter Personen zu Solidarität und Unterstützung angeregt. Dadurch wird eine positive Dynamik in Gang gesetzt, eine „Engelsspirale der Gütekraft“ (im Gegensatz zum „Teufelskreis der Gewalt“).
Nichtzusammenarbeit: Wenn nach breitem und intensivem Einsatz und so entstandenem öffentlichem Druck wichtige Schlüsselpersonen sich immer noch weigern, am Abbau des Missstands mitzuwirken, wird deren Macht durch organisierte Nichtzusammenarbeit untergraben. Der Erfolg wird durch die Teilnahme von immer mehr Menschen, durch massenhaftes Mitschwingen, möglich.
Günstige Persönlichkeitsmerkmale: Es gibt verschiedene Eigenschaften, die für gütekräftiges Vorgehen hilfreich sind. Neben einer Grundhaltung des Wohlwollens sind dies vor allem Mut, Ausdauer und Beharrlichkeit sowie Offenheit und die Bereitschaft zum Dialog. Wichtig sind auch Empathie und die Fähigkeit, die Standpunkte, Wahrheiten und positiven Eigenschaften von anderen wahrzunehmen. Diese Fähigkeiten sind möglicherweise nicht alle von Anfang an vorhanden, können aber durch Persönlichkeitsbildung entwickelt werden. Diese Aufgabe gehört zum gütekräftigen Empowerment.
Gütekräftig Handeln = Würde anbieten
Der Ausdruck bezeichnet das gütekräftige Vorgehen unter grundlegenden Aspekten. Es beruht auf folgenden Annahmen:
o Jedem Menschen kommt eine unveräußerliche Würde zu.
o Jeder Mensch will in seiner Würde respektiert werden.
o Menschen zu schädigen verletzt die Würde von Opfer und
    Täter.
o Das Angebot des Opfers zur Vermenschlichung der Beziehung
     kann Tätern die Chance bieten, die eigene Würde und die
     Würde des Opfers wiederherzustellen.
Schädigen („Gewalt“) sieht unter dem Aspekt der Würde so aus: Die schädigende Person („Täter“) verletzt die eigene Würde, indem sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Würde handelt. Die geschädigte Person („Opfer“) wird entwürdigt, das heißt, ohne Rücksicht auf deren Würde behandelt. Die schädigende Person als Subjekt macht die geschädigte Person zum Objekt. „Würde anbieten“ heißt: Die geschädigte Person lässt sich nicht (länger) zum Objekt machen, sie nimmt die Opferrolle nicht an und bietet gleichzeitig der schädigenden Seite die Möglichkeit an, die Täterrolle zu verlassen. Der gemeinsame Gestus solcher Handlungsweisen ist das Anbieten. Dafür bedarf es keiner dritten Person als „Retter“, wohl aber wird eine neue ‚Instanz’ eingeführt, die allgemein hohe Wertschätzung genießt: die Würde. Angeboten wird, die Beziehung neu zu gestalten als eine, in der sich beide mit gleicher Würde begegnen.
 Das Anbieten eröffnet dem Täter neu die Möglichkeit, vom Schädigen deshalb abzulassen, weil er so die eigene Würde und das Verhältnis zum Gegenüber wiederherstellen kann. Die anbietende Person weiß, dass sie niemanden zwingen kann, auf Gewalt zu verzichten, dass also das Angebot abgelehnt werden kann. Das Annehmen ist für religiöse Menschen ein "Wunder", ist "Wirkung des Heiligen Geistes", nicht erzwingbar, ein Geschenk.
Gütekraft als „Würde Anbieten“ setzt keine Religiosität voraus. Das Konzept ist interreligiös anwendbar. Mit Gütekraft können alle möglichen sozialen Missstände überwunden werden, auch solche, die mit institutionell abgesicherter Rüstung skrupellos aufrechterhalten werden.
Eigentätigkeit, Ansteckung und Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand sind die drei Hauptwirkungsfaktoren des gütekräftigen Vorgehens.

Ein Beispiel für gewaltfreies-gütekräftiges Handeln ist die Arbeit von People Power 1986 auf den Philippinen. Ein kommentierter Bericht darüber kann hier nachgelesen werden.