Es geschah einmal in Deutschland während des Krieges in einem Gefangenenlager. Das Leben der Gefangenen war hart. Sie hatten Hunger und litten unter der Kälte und den Anstrengungen der Zwangsarbeit. Abends kehrten sie in ihre Baracken zurück. Ein Wachmann erwartete sie, um mit ihnen seine Scherze zu treiben, die aber nur ihm allein Vergnügen machten. Er zog den einen an der Nase und gab einem anderen einen Tritt in den Bauch. Jeder fragte sich, wer wohl heute an der Reihe wäre.
Eines Abends aber kam einer der Gefangenen von selber zu ihm und sagte:
"Da Sie jeden Tag jemand schlagen müssen, möchte ich Sie bitten, heute mit mir vorlieb zu nehmen."
"Nanu, kleines Französchen! Weil Du so frech bist, rate einmal, wieviel Mal ich Dir mit meiner Reitpeitsche auf den ..."
"Es ist nicht meine Sache zu bestimmen, wieviele Schläge ich verdient habe. Ich überlasse das Ihrem Gewissen."
"Meinem Gewissen, meinem Gewissen? Ich habe kein Gewissen!"
"Doch!", sagte nach einer kleinen Pause der Gefangene. "Doch, Sie haben ein Gewissen. Ihr Zögern beweist, daß Sie ein Gewissen haben, denn Sie haben mich noch immer nicht geschlagen."
Und indem er sich anschickte weiterzugehen, fügte er noch hinzu:
"Ich glaube sogar, daß Sie mich heute abend nicht mehr schlagen werden."
Dann wandte er sich um und ging.
Der andere starrte betroffen vor sich auf den Boden, blaß, mit Tränen in den Augen und zitternden Lippen. Nie zuvor hatte jemand zu diesem Unglücklichen von seinem Gewissen gesprochen. Vielleicht war das die Ursache seiner Rohheit.
Nach diesem Tag wurde kein Gefangener mehr von ihm geschlagen. Ich würde es nicht wagen, diese Geschichte zu erzählen, wenn ich nicht wüßte, daß sie wahr ist.
(Quelle: Lanza del Vasto, Definition der Gewaltlosigkeit, org.1963, hier aus: Albert Schmelzer, Die Arche, Waldkirch 1983, S.57f)
Ereignisse, in denen Gütekraft, Kraft der Gewaltfreiheit, eine Rolle spielte – mehr dazu: www.martin-arnold.eu Dies sind keine Rezepte, nicht zum Nachmachen! Gütekräftiges Handeln im Konflikt heißt, mit einem Aggressor eine Verbindung herzustellen, die ihn an seine Menschlichkeit erinnert. So können Wunder geschehen. Wo das nicht der Fall ist, soll aber keinesfalls Opfern die Verantwortung für das Erlittene zugeschrieben werden.
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