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Freitag

In Mexiko wurde mit Gütekraft ein Mord verhindert

Es war im Jahr 1971, als mein Mann und ich für den Versöhnungsbund in Mexiko tätig waren. Eines Abends saßen wir dort in einer Kneipe. Am Nachbartisch unterhielten sich lautstark zwei Männer. Sie tranken Schnaps. Einer der beiden sprach in dem lebhaften Gespräch eine Beleidigung gegen den anderen aus. Sie gerieten in Streit. Plötzlich sprang der Beleidigte impulsiv auf, zückte ein Messer und ging auf den ersten los.
Wir sahen das alles, aus nächster Nähe. Was konnten wir tun?
Mein Mann handelte schnell. Er stand auf und schlug dem Mann mit seiner Hand von oben so auf das rechte Handgelenk, dass das Messer zu Boden fiel.
Damit zog er den Angriff des Mannes auf sich. Und er stellte sich ihm so gegenüber, dass er ihn anschauen konnte, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und er fragte ihn sofort: Da muss dir dein Kollege etwas ganz Schlimmes angetan haben, dass du so heftig reagiert hast? Worum handelt es sich denn?
Die einfühlsame Frage machte klar, dass der Schlag auf die Hand kein Angriff gegen die Person des Mannes war, dass mein Mann keineswegs die Absicht hatte, ihm in irgendeiner Weise Schaden zuzufügen, sondern die Wut des Angreifers auf sich zu lenken und einen Mord zu verhindern.
Der Mann konnte durch das anschließende Gespräch beruhigt und die Situation entschärft werden.

von Hildegard Goss-Mayr

Wien 1945: Russische Soldaten verhalten sich menschlich.

 Wien war bombardiert worden, der Krieg verloren, die Russen marschierten ein. Und sie hatten das Recht des Siegers, das Recht, sich alles zu nehmen, nicht nur Hab und Gut, auch Frauen. Sie gingen von Haus zu Haus. Auf Geheiß meines Vaters gingen meine Mutter und die anderen Frauen im Haus in den Keller. Er selbst schloss die Haustür nicht ab. Wie bei den anderen Häusern stießen die Soldaten mit den Gewehrkolben gegen die Tür, wohl in der Erwartung, sie auf diese Weise öffnen zu müssen. Mein Vater jedoch erwartete sie und öffnete die Tür. Er hatte kein Russisch gelernt. Die Gewehrläufe, die sich sofort gegen ihn richteten, schob er langsam zur Seite und lud die Männer mit einer Geste ein, einzutreten. Das war für die russische Kampftruppe offenbar eine völlig neue Erfahrung. Sie traten ein, vermuteten jedoch zunächst eine Falle. Mit vorgehaltenem Gewehr gingen sie in alle Zimmer. Mein Vater lud sie ein, sich zu setzen. Das taten sie, als sie merkten, dass sie nicht bedroht wurden. Dann holte er die Frauen aus dem Keller und alle saßen mit den Männern zusammen. Die Soldaten taten niemandem etwas zu Leide. Als sie gingen, blieb einer von ihnen noch an einer Ikone, die bei uns an der Wand hing, stehen. Er sagte: „Ja Chrestianin“ das heißt auf Russisch: Ich bin Christ.

Später kamen noch weitere Soldaten zu uns. Da gab es teilweise sehr schwierige Situationen.
So schützte mein Vater die bedrohten Frauen einerseits, andererseits war er bemüht, die Soldaten aus ihrer Haltung der Feindschaft und Angst herauszuholen. Er war bereit, dafür sein Leben einzusetzen.

Donnerstag

People Power, Philippinen, 1986, kommentierter Gütekraftbericht

Philippinen schrieben 1986 Menschheitsgeschichte
Systematisch geplant: Die gewaltfrei-gütekräftige Beendigung der Marcos-Diktatur durch Würde anbieten – People Power

Wie am 24. Februar 1986 die Menschenmenge die Panzer stoppte zeigt das Bild unten (WAZ-Titelseite 24.2.1986)

Erstmals in der Menschheitsgeschichte wurde 1986 durch systematisch geplantes gewaltfrei-gütekräftiges Vorgehen eine brutale Diktatur überwunden. Der philippinische Diktator Ferdinand Marcos wurde dazu gebracht, das Land zu verlassen. Die Befreiung beruht auf einer bewussten, 1984 getroffenen Entscheidung von Oppositionellen für die gewaltfrei-gütekräftige Vorgehensweise.

Diese bereiteten sich persönlich und methodisch intensiv auf die Anwendung dieses Konzepts vor. Der Erfolg hatte bald Folgen in den Bewegungen und Organisationen für die Menschenrechte in Thailand und anderen Ländern Asiens sowie auf Madagaskar. Diese Menschheitserfahrung ist jedoch weit darüber hinaus von Bedeutung: Gewaltfreies Vorgehen mit Gütekraft hat bei kompetenter Vorbereitung gute Erfolgschancen, hoch gerüstete Gewaltherrschaft zu überwinden

Was geschah in dem Inselstaat?
Anfang der 1980er Jahre nahmen sowohl der wirtschaftliche Niedergang großer Teile des Volkes als auch die Unterdrückung durch das Marcos-Regime auf den Philippinen erschreckend zu. Weitaus die meisten Einwohner der großen Inseln gehören der katholischen Kirche an. Viele Priester und Ordensleute setzten sich für die Armen und gegen die Verarmung auch politisch ein. Viele Oppositionelle, darunter Gewerkschafter/innen und Studierende, wurden von der Polizei geschlagen, verhaftet oder ermordet. Kommunisten bewaffneten sich im Untergrund und bekamen immer mehr Zulauf.
Benigno Aquino war einer der Hoffnungsträger des Volkes gegen Marcos. Seine lebenslängliche Gefängnisstrafe durfte er durch einen krankheitsbedingten Aufenthalt in den USA unterbrechen. Er entschied sich, in die Heimat zurückzukehren, um sich weiter für die Befreiung von der Diktatur einzusetzen und zwar auf dem Weg der Gütekraft, meist „non-violence“ genannt. Trotz der Warnungen von Marcos, er könne „für seine Sicherheit nicht garantieren“, flog der beliebte Politiker in die philippinische Hauptstadt zurück. In Manila angekommen, wurde er beim Aussteigen aus dem Flugzeug erschossen. Das war 1983. Seitdem demonstrierten viele Menschen regelmäßig gegen die Diktatur. Doch an der diktatorischen Politik änderte sich nichts. Immer mehr Menschen kamen zu der Überzeugung: „Man sieht es ja: Gewaltfreiheit bringt nichts.“ Immer weniger kamen zu friedlichen Demonstrationen. Immer mehr schlossen sich dem bewaffneten Untergrund an. Die Spannung steigerte sich, ein Bürgerkrieg drohte.
1984 folgte das Wiener Ehepaar Jean und Hildegard Goss-Mayr einem Hilferuf von Ordensleuten aus Manila. Sie fuhren zunächst durchs Land, um die Menschen und die Lage kennenzulernen. Dann erläuterten sie führenden Oppositionellen, Gewerkschaftsführern, Studierenden, auch Kirchenleuten und Menschen aus der bürgerlichen Opposition, darunter Benignos Bruder Agapito Aquino, das gewaltfreie Einsatzkonzept der Gütekraft und sagten ihnen, dass die Entscheidung dafür – bei einem skrupellosen Gegner – genauso die Bereitschaft zum Einsatz des Lebens erfordere wie das Vorgehen mit Gewalt. Sie erklärten ihre Bereitwilligkeit, Schulungen und Seminare durchzuführen, sobald eine Entscheidung für eigenes Handeln nach dem Konzept des gewaltfrei-gütekräftigen Vorgehens gefallen sei, und reisten nach Wien zurück.

Im Juni 1984 wurden sie zurückgerufen. Sie hielten Seminare für Multiplikatoren ab, darunter auch eines für 30 Bischöfe. Die neue Organisation AKKAPKA wurde gegründet, die auf breiter Ebene Schulungen und vielfältige andere Vorbereitungen ins Werk setzte. Die neue Zeitschrift „Würde anbieten” informierte und mobilisierte viele Organisationen und Gruppen. Der Glaube spielte eine große Rolle: Die biblische Botschaft mit ihren vielen Befreiungsgeschichten (Exodus usw.) wurde als Impuls zur Befreiung neu entdeckt; religiöse Riten wurden neu mit Inhalt gefüllt und immer mehr auf die eigene Situation der Unterdrückung bezogen – so wuchs der Boden für die „Rosenkranzrevolution“.
Als Marcos für den 7. Februar 1986 aufgrund des Druckes aus den USA sehr kurzfristig Wahlen ansetzte, trafen die Organisationen AKKAPKA, NAMFREL und andere mit Hochdruck Vorbereitungen für die Wahl: Verschiedene Szenarien der Regierung wurden durchgespielt von Stimmenkauf, Urnendiebstahl und Wahlbetrug bis hin zum Ignorieren des Wahlergebnisses, und es wurden jeweils verschiedene Aktionsmöglichkeiten dagegen ausgearbeitet. In einer Zeltstadt in Manilas Innenstadt-Park wurden permanent und massenhaft Schulungen angeboten und gütekräftige Haltung und Methoden, auch durch Fasten, eingeübt. Es war ansteckend, immer mehr machten mit. Am Wahltag retteten Ordensfrauen Urnen vor Bewaffneten, die sie entwenden wollten: Sie hielten die Stimmzettelbehälter mit den Worten „Nur über meine Leiche!“ fest. Nach der Bekanntgabe eines gefälschten Wahlergebnisses wurde zum massenhaften Boykott der Banken, die Marcos nahestanden, übergegangen usw.:
Nichtzusammenarbeit mit dem Unrecht. Marcos-Treue zerstörten den einzigen unabhängigen kirchlichen Sender Radio Veritas; darauf waren die Betreiber vorbereitet, sodass nach kurzer Zeit die Sendungen fortgesetzt wurden. Teile des Militärs begannen, sich von Marcos zu distanzieren, und verschanzten sich im Camp Aginaldo. Kardinal Sin rief die Bevölkerung auf, den Marcos abtrünnigen Soldaten Schutz zu bieten und Nahrungsmittel zu bringen, was sofort massenhaft geschah. Einer Kampfhubschrauber-Einheit befahl Marcos, das Meuterer-Camp zurückzuerobern. Die Soldaten dort bereiteten sich auf ihr Sterben vor, die Eroberer-Einheit aber solidarisierte sich mit ihnen. Dann rollten Panzer-Einheiten auf das Camp zu, aber die Bevölkerung begab sich, von Kardinal Sin aufgerufen, massenhaft auf die Straße und stellte sich, angeführt von Nonnen und Priestern, Brote und Blumen anbietend, singend und mit dem Vater-Unser und dem Rosenkranz-Gebet auf den Lippen, viele mit Tränen in den Augen, den Panzern entgegen. Die Panzer hielten an, die Demonstrierenden sprachen mit den Soldaten und nach Stunden kehrten die Panzer um. Die Herrschaft des Diktators war zerfallen.

 

Nach der Zusage der abtrünnigen Militärs, es werde nicht auf seinen Hubschrauber geschossen, verließ Marcos am 26. 2. 1986 mit seiner Familie den Regierungspalast.
Am 24. Februar 1986 erlebte die Welt, wie Würde-Anbieten politische Macht entfaltete: People Power. Seitdem wird dieser neue Ausdruck (neben Nonviolence und Power of Goodness) weltweit für die gewaltfrei-gütekräftige Vorgehensweise gebraucht. Die massenhafte Nichtzusammenarbeit mit der Diktatur steckte auch die „Sicherheitskräfte“ an. Marcos hatte sie zuvor als stärkste Stütze eingeschätzt – wie es viele Machthaber tun – ein Irrtum. Das gütekräftige Vorgehen war stärker.

Gütekraft:
  Eigentätigkeit,
  Ansteckung und

  Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand sind die drei Hauptwirkungsfaktoren des gütekräftigen Vorgehens.