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Donnerstag

Robert Helvey - Der Umsturzhelfer

ROBERT HELVEY

Der Umsturzhelfer

Von Georg Mascolo, Washington

Helvey führt seine Kriege ohne Panzer und Kanonen. Die Armeen des Oberst a.D. sind friedliche Demonstranten in Belgrad, Baku und Kiew - Mädchen in der ersten Reihe, ältere Damen als Kuriere. Der Experte für Revolutionen weiß, worauf es beim Sturz eines Regimes ankommt: Disziplin und minutiöse Planung.

"Kommen Sie bloß nicht im Anzug", blafft Robert Helvey ins Telefon, "mein Hund haart wahnsinnig." Am Provinzflughafen von Charleston, West Virginia, lehnt der 66-Jährige lässig an der Wand der Ankunftshalle. Sandy wartet im Pick-up-Truck, Pfoten auf dem Polster, die Schnauze gegen die Scheibe gedrückt. Ein kurzer fester Händedruck, ein knappes Nicken des Kopfes auf dem eine Baseballkappe mit dem Emblem des amerikanischen Veteranenverbandes sitzt.

Dennis Brack
Robert L. Helvey: "Wollte hören, was sich diese Friedensengel und Unruhestifter ausgedacht hatten"
Robert Helvey, Oberst a.D. und heute weltweit begehrter Consultant für gewaltlosen Widerstand, setzt den Dodge Dakota mit Schwung rückwärts aus der Parklücke. Sein Haus liegt oben in den Hügeln von Charleston, amerikanische Mittelklasse, die Mauer aus Bruchsteinen hat er selbst gesetzt. Im Garten tummeln sich morgens die Hirsche, neulich tollte dort ein Schwarzbär herum. Ein Idyll. "Aber er ist doch viel zu selten hier", klagt seine Frau Maurene, eine britische Krankenschwester.

Stiftungen engagieren Helvey für Schulungen auf dem Balkan, in Afrika, in Südamerika. Demnächst geht es nach Algerien. Mit den Otpor-Studenten, die heute das "Center for Analysis and Non-Violent Action and Strategy" betreiben, steht er noch immer in Verbindung. "Ich helfe ihnen ein bisschen."

66 und kein bisschen leise

Für seine Gegner ist der Colonel a.D. der lebende Beweis, dass Amerikas Geheimdienste bei den Umstürzen die Regie führen, dass es das von dem Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh beschriebene Programm "Track 2, wirklich gibt". Geben Sie mal meinen Namen bei Google ein", amüsiert sich Helvey und plumpst in einen Gartenstuhl auf seiner Veranda. "Von hier aus wird die Demokratiebewegung in ganz Osteuropa kontrolliert." Und dann erzählt er, eine Dose Milwaukee-Pilsener und eine Tüte Salzbrezeln vor sich, seine Version der Geschichte.

Als junger Freiwilliger meldete er sich für den Vietnam-Krieg, es war die erste seiner drei Dienstzeiten im blutigen Dschungelkrieg. Es folgte die Ausbildung am War College, Dienst im Stab des Pentagon, schließlich Kommandeur einer Kompanie GIs in Westdeutschland. Eine amerikanische Soldatenkarriere, hochdekoriert mit drei Silver Stars. In den achtziger Jahren wurde er zum Militärgeheimdienst DIA versetzt und als Attaché nach Burma, das heutige Myanmar geschickt. Helvey knüpfte Kontakte zur glücklos agierenden Oppositionsbewegung, die sich Scharmützel mit den Truppen der Militärjunta lieferte. Viel tun konnte der US-Oberst nicht, Amerika hatte kein großes Interesse an dem Konflikt. Helvey fühlte sich hilflos. "Das waren tolle Burschen, ich hätte ihnen wirklich gern geholfen."

Oh Boy, da hat es bei mir geklingelt

Zurück in den USA schickte ihn die Armee nach Harvard, Helvey sollte die Kunst der Internationalen Beziehungen pauken - Helvey war auserkoren die Attaché-Schule des Geheimdienstes zu übernehmen. So saß er, ziemlich gelangweilt, eines Tages im Hörsaal als ein gewisser Gene Sharp über die Methode des gewaltlosen Umsturzes referierte. "Ich wollte hören, was sich diese Friedensengel und Unruhestifter wieder ausgedacht hatten. Aber dieser Bursche war unglaublich, oh Boy, da hat es bei mir geklingelt."

Gene Sharp hat mein Leben verändert, bekennt Helvey. "Er hat mir klar gemacht, dass es in diesem Kampf genauso um politische Macht geht wie auf dem Schlachtfeld, nur um einen anderen Weg: Krieg ohne Waffen." Sharp, seit 40 Jahren einer der Vordenker des nicht-militärischen Umsturzes, profunder Kenner des zivilen Widerstandes von Gandhi bis Martin Luther King, Autor eines in 30 Sprachen übersetzen Standardwerkes ("Von der Diktatur zur Demokratie") hatte in dem Berufsmilitär einen neuen Verbündeten gefunden. "Wenn du siehst wie deine Freunde sterben, denkst du schon darüber nach, ob es noch einen anderen Weg gibt," bekennt der alte Soldat. Statt im Hörsaal hockte er mit Sharp in dessen Büro im Albert-Einstein-Institut in Boston, einem Think-Tank für den gewaltlosen Widerstand. Der bedächtige Intellektuelle und der bullige Oberst beschlossen gemeinsam zu versuchen, die Welt ein kleines bisschen zu verändern.

Geheimtreffen nahe der thailändischen Grenze

In seinem Arbeitszimmer, von dem aus Helvey nächtelang mit verschlüsselten E-Mails Oppositionelle mit Ratschlägen versorgt, hängt ein schon verblichenes Foto. Helvey und Gene Sharp ducken sich nebeneinander in einem Schlauchboot, der Außenborder hinterlässt breite weiße Gischtspuren in dem dunklen Wasser. Damals ging es zu einem Geheimtreffen mit den alten Freunden aus Burma, irgendwo nahe der thailändischen Grenze. Im Dschungel gab Helvey seine erste Schulung, Umsturz für Anfänger, bis der thailändische Geheimdienst das Lager aushob. Später kamen die Revoluzzer zur Ausbildung nach Amerika. Das Regime in Myanmar hat ihm das bis heute nicht vergessen: Auf den Kopf des "CIA-Agenten Helvey" ist noch immer eine Belohnung ausgesetzt.

Myanmar wird noch heute von brutalen Militärmachthabern regiert, aber trotz des Fehlschlags dieser ersten Aktion beschloss der inzwischen pensionierte Helvey Gene Sharps Theorien in die Praxis umzusetzen. Im Herbst 2000 meldete sich das Republican Institute und bat den Oberst um einen eiligen Einsatz auf dem Balkan. Otpor brauchte Hilfe. Sie waren schon weit gekommen, Milosevic fühlte sich herausgefordert, aber die Bewegung drohte Schwung zu verlieren. "Sie waren auf der Suche nach einer Idee, wie es weitergeht", sagt Helvey, "ich glaube ich habe ihnen ein bisschen helfen können." In einem Hotel in Budapest hämmerte er den jungen Serben 17 Stunden seine Theorien für einen gewaltlosen Umsturz ein. "Ich habe ihnen gesagt, ich bin kein gottverdammter Pazifist und werde es auch nicht mehr werden," erinnert sich Helvey und krault Sandy zärtlich im Nacken. "Es geht darum die Macht der Regierung zu untergraben, ihre Schwächen zu finden und gnadenlos auszunutzen. Ich habe ihnen beigebracht, einen ordentlichen Kriegsplan zu entwerfen. Ich führe den Krieg nicht für euch, aber ich zeige euch, wie ihr ihn gewinnen könnt."

Der Umsturz beginnt beim Abendessen in der Familie

Was also ist das Geheimnis einer erfolgreichen Revolution à la Sharp/Helvey? Der Oberst kneift die Augen zusammen, als wolle er den nächsten Diktator ins Visier nehmen. "Die größte Schwäche der Opposition ist ihr Mangel an solider Planung. Macht gibt es nicht nur ganz oben in einem Staat, jeder Polizist, Soldat, Bürokrat und Bauer hat ebenfalls welche. Die muss ich zu Zweiflern und dann im letzten Schritt zu Verbündeten machen." Ein erfolgreicher Umsturz, doziert Helvey, beginne beim Abendessen der Familie. "Die Töchter und Söhne des örtlichen Polizeichefs, oder des Kommandierenden der Kaserne um die Ecke, sind ungeheuer wichtig. Sie bringen die neuen Ideen in die Familie, das Nachdenken beginnt und im entscheidenden Moment werden ihre Väter nicht das Bild einer Horde abgefeimter Staatsfeinde, sondern ihrer eigenen Kinder vor Augen haben." "All die jungen Dinger in der ersten Reihe, das ist doch kein Zufal"

Riesige Demonstrationen sind ein Kernstück in Helveys Kalkül, "sie beweisen den Menschen, dass jemand mächtiger ist, als ihre eigene Regierung". "Meine Streitkräfte", nennt Helvey die Protestierer, "ich hätte nie gedacht, dass die Hälfte von ihnen mal Frauen sein werden. Schauen Sie sich doch mal die Bilder der großen Demonstrationen an, all die jungen Dinger in der ersten Reihe, die mit den Soldaten flirten und die Emotionen abkühlen. Das ist doch kein Zufall, das ist Strategie."

Für ältere Damen gibt es in Helveys Kriegsplan auch eine Aufgabe - als Kuriere. "Die Wahrscheinlichkeit, dass sie angehalten und gefilzt werden, ist geringer." Es klingt als plaudere er bei einem Drink im Offizierscasino, erschöpft von einem harten Tag mit den neuen Rekruten. Ein Aufmarsch in Belgrad, Baku, oder Kiew ist für den Ex-Militär nichts anderes als eine Kompanie GIs auf dem Kasernenhof zu schleifen. Disziplin und minutiöse Planung sind doch gleich, sagt Helvey und lächelt. "Meine Aufgabe hat sich nicht sonderlich verändert."

Wie Fahnen flattern bei seinen Aufmärschen die Banner mit den Losungen der Opposition. "Das gibt tolle Bilder fürs Fernsehen und verstellt den hinteren Reihen den Blick auf den furchterregenden Aufmarsch der Staatsmacht." Parolen und Lieder erfüllen den gleichen Zweck: "Wer schreit hört nicht, wenn die Soldaten mit den Gummiknüppeln auf ihre Schilder trommeln, oder Bajonette aufpflanzen."

"Ich bringe ihnen bei gegen den natürlichen Reflex der Angst anzukämpfen, etwas, was auch jeder Soldat lernt", doziert Helvey. "Der normale Reflex ist wegzulaufen, ich aber will 500.000 Menschen auf dem Platz halten. Das geht nur mit Disziplin und Planung." Für Zivilisten, sagt Helvey, haben sie sich in Kiew, Belgrad und Danzig gut gehalten. "Aber Martin Luther King war auch kein Soldat."

Gewalttätig dürfen nur die anderen werden

Direkt aus dem Army-Handbuch stammt die Anweisung, dass jeder vom Geheimdienst verhaftete einen detaillierten Bericht über seine Erfahrungen abliefern muss: "Wurde er in den Wagen gesetzt, oder geschmissen, wie wurde er geschlagen, was wurde gefragt, gab es zu essen? Jeder muss so viel wie möglich über den Gegner wissen, das reduziert die Überraschung, das Unerwartete, wenn man selbst geschnappt wird. Und was ich nicht kenne, macht mir Angst." Kein Alkohol, keine Drogen, keine Waffen und am Ende der Demonstration gehen alle friedlich nach Hause. "Gewalttätig dürfen nur die anderen werden, wenn wir prügeln, verlieren wir die Legitimation und die Unterstützung des Auslandes." Schritt für Schritt vorgehen, bläut Helvey seinen Demokratie-Rekruten ein, nie das Regime endgültig herausfordern, bevor dessen Machtstrukturen nicht untergraben sind. Gene Sharp hat das Massaker am Tienanmen-Platz in Peking miterlebt, als das Politbüro die Demonstranten niedermachen ließ. "Die chinesischen Studenten haben einen Fehler gemacht", sagt Helvey. "Sie hatten schon so viel erreicht, es war Zeit erst einmal nach Hause zu gehen." Die Sonne senkt sich malerisch im Tal, Helvey räkelt sich in seinem Gartenstuhl. "Ist doch alles ziemlich simpel, oder?", freut er sich und grinst. "Man muss kein Wissenschaftler sein, um das herauszufinden."

"Dann hat Bush dieses Desaster angerichtet"

Helvey hat ein Buch über seine Methode geschrieben, schmale 178 Seiten. Keine hochfliegenden Gedanken über das Wesen der Demokratie, kein Plato, Hegel, oder Roosevelt, sondern seitenweise praktische Tipps für den Staatsstreich von unten. Gerade wird es in Farsi und Russisch übersetzt. Gattin Maurene bittet zu Tisch, sie hat Lasagne gemacht. Helvey ist hungrig. Aber was bitte hat es nun mit all den Vorwürfen auf sich, dass er solche Umstürze im Auftrag der CIA vorbereitet? Liegt das, bei seiner Biografie nicht nahe? "Die Menschen lieben Verschwörungstheorien", sagt Helvey und schaut ein bisschen traurig drein. "Ich mag diese Regierung nicht. Vor zwei Jahren habe ich irakische Oppositionelle geschult, das waren kluge Leute. Vielleicht hätte es noch zehn Jahre gedauert. Stattdessen hat Bush dieses verdammte Desaster angerichtet. Jetzt verspricht er nie wieder Freiheit gegen Stabilität einzutauschen und dass wir nie wieder mit den Falschen gemeinsame Sache machen." Helvey springt mit einem Ruck vom Gartentisch auf, er lächelt böse. "Na gut, wann greifen wir dann endlich Saudi-Arabien an."


Der Mann, der den dritten Weltkrieg verhinderte

Vergessener Held
Der Mann, der den dritten Weltkrieg verhinderte

Atomraketen im Anflug: Im September 1983 erlebte Stanislaw Petrow den Alptraum. Die sowjetische Frühwarnzentrale meldete den Start amerikanischer Raketen. Die Apokalypse? Oder nur ein Fehlalarm? Dem Oberst blieben Minuten, um die wohl wichtigste Entscheidung des 20. Jahrhunderts zu treffen.

Vergessener Held: Der Mann, der den dritten Weltkrieg verhinderte


"Der Himmel", sagt Stanislaw Petrow, 70, Sohn eines sowjetischen Kampfpiloten, Oberst a.D. der Luftabwehrstreitkräfte, ein Weltenretter im Ruhestand, "der Himmel hält immer Überraschungen bereit." So wie damals, als der Himmel ihn zu täuschen versuchte, aber Petrow ihm auf die Schliche kam. Er hat sich nicht blenden lassen.

Es war 1983, der Kalte Krieg steuerte gerade auf seinen Höhepunkt zu. Die Sowjets hatten seit Mitte der siebziger Jahre mehr als 400 Raketen des Typs SS-20 "Saber" in Dienst gestellt, Spitzname: "Schrecken Europas". Zwei Drittel der modernen Raketen waren auf Westeuropa ausgerichtet, auf Ziele wie London, Paris, Bonn. Jede Rakete verfügte über eine Sprengkraft von bis zu einer Megatonne, 50-mal mehr als die 1945 über dem japanischen Nagasaki abgeworfene Atombombe "Fat Man".

Im Frühjahr 1983 berechneten Ärzte aus Ulm die Folgen eines Angriffs mit einer sowjetischen SS-20 auf ihre Stadt. Ihr Ergebnis: Im Bruchteil einer Sekunde würde über Ulm ein Feuerball von mehreren Hundert Metern Durchmesser entstehen. Die Innenstadt würde ausradiert, an der Stelle des gotischen Münsters ein Krater klaffen. Selbst im Umkreis von vier Kilometern Entfernung um die City würden Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen. Die Bilanz einer einzigen Bombe: 123.000 Tote, 80.000 Schwerverletzte.

Moskau rechnete jederzeit mit einem Atomangriff 

Der Westen reagierte auf die SS-20-Bedrohung seinerseits mit Aufrüstung - und ließ in Europa Pershing-II-Raketen aufstellen: In Washington führte seit 1981 Ronald Reagan das Zepter, der 40. Präsident der USA wollte die Sowjetunion - das "Reich des Bösen" - in einem Wettrüsten in die Knie zwingen.

Die Stimmung war aufgeheizt, Moskau rechnete jederzeit mit einem Überraschungsangriff der USA, Sowjetführer Juri Andropow war überzeugt, Amerika plane den Erstschlag. Noch als Chef des sowjetischen Geheimdiensts hatte er deswegen Operation "RJAN" gestartet: Mitarbeiter der KGB-Residenturen spähten seit 1981 rund um die Uhr Regierungseinrichtungen in den Hauptstädten des Westens aus. Überstunden hochrangiger Beamter und nachts hell erleuchtete Bürofenster galten ebenso als Alarmzeichen wie ein erhöhtes Briefaufkommen bei der Post und massenhafte Einlagerung von Lebensmitteln. Es hätten Vorbereitungen für einen Angriff sein können.

Wo Oberst Petrow arbeitete - davon hatte seine Familie keine Ahnung. Frau Raissa und die beiden Kinder stellten nie Fragen. Am 25. September 1983 verabschiedeten sie Petrow, um 20 Uhr begann seine Schicht in Serpuchow-15. Der Ort, rund 90 Kilometer südlich von Moskau, war auf keiner frei erhältlichen Landkarte verzeichnet, eine geschlossene Stadt, errichtet um einen Stützpunkt der Streitkräfte der Luftverteidigung. Hier befand sich die Zentrale des satellitengestützen Raketenwarnsystems "Oko", hier diente Oberst Petrow.

Der Feind soll früher sterben - das ist die Logik des Kalten Krieges 

Obschon vom Rang Offizier, war Petrow selbst Zivilist, ein studierter Ingenieur. "Die Welt kann froh sein, dass ich in dieser Nacht das Kommando geführt habe - und kein dumpfer Militär", sagt Petrow heute. Vielleicht hätte ein Militär anders entschieden, streng nach Vorschrift, vermutlich falsch. Petrow dagegen vertraute seinem Gefühl.

Der Nutzen von Frühwarnsystemen wie "Oko" war damals begrenzt. Dessen Satelliten können einen bevorstehenden Nuklearschlag zwar rund zehn Minuten früher melden als die klassische Radarüberwachung, doch ihn verhindern, die Raketen abfangen, das konnte "Oko" nicht. Immerhin konnte man den vernichtenden Gegenschlag früher starten, als wenn man sich nur auf Radarüberwachung stützt, Dutzende Millionen Menschen auf der Seite des Feindes stürben dann wenige Minuten früher. In der Logik des Kalten Krieges ist das ein Fortschritt. 

Nachdem die Amerikaner als erste ein eigenes Frühwarnsystem in Betrieb genommen hatten, arbeiteten die Sowjets fieberhaft daran, den Rückstand wettzumachen. Ab 1972 wuchsen in Serpuchow-15 die Antennen von "Oko" in die Höhe, Petrow war von Anfang an dabei. Die Computerprogramme stammten von ihm, und auch das Handbuch zur Bedienung des neuen Systems. Für Petrow war es der Job, den er sich stets erträumt hatte. "Ich war so glücklich, als ich erfuhr, dass ich mit dem Kosmos zu tun haben würde." 

Sirenen künden vom Beginn der Apokalypse 

Doch an jenem 26. September verwandelte sich der Traum in einen Alptraum. Kurz vor Mitternacht jaulten die Sirenen, auf dem 30 Meter messenden Bildschirm vor Petrow leuchteten rote Buchstaben auf: START. Das System hatte den Abschuss einer Atomrakete von einer US-Basis registriert. Spionagesatellit Kosmos 1382, seit einem Jahr im All, meldete den Beginn der Apokalypse. 25 Minuten blieben bis zum Einschlag, irgendwo in Russland.

Im Kontrollzentrum Serpuchow-15 richteten sich die Augenpaare von 200 Mitarbeitern auf Oberst Petrow.

Dass ein Atomschlag stattfinden würde, schien damals nicht nur möglich, sondern sogar höchst wahrscheinlich. Russische Spione hatten kurz zuvor von einem geplanten Großmanöver der Nato erfahren. "Able Archer 83" sollte Ende November starten - und einen Atomkrieg simulieren. Den nervösen Machthabern in Moskau galt dies als Beweis westlicher Angriffsvorhaben. 

Wie nervös die Finger am Abzug waren, zeigte der Abschuss eines südkoreanisches Passagierjets Anfang September. Wohl versehentlich war Korean Airlines Flug 007 in russischen Luftraum eingedrungen. Moskau fackelte nicht lang und gab den Kampfpiloten den Angriffsbefehl, 269 Menschen starben.

Falscher Alarm oder totale Vernichtung?
Petrow jedoch bewahrte Ruhe. Er erhob sich von seinem Pult. Jeder seiner Untergebenen sollte ihn sehen. Er konnte jetzt keine Panik gebrauchen, er brüllte: "Hinsetzen! Weiterarbeiten!"

Petrow dachte in diesem Moment weder an die Millionen möglicher Opfer eines Nuklearkonflikts noch an seine Familie, er dachte an Teelöffel: Niemand löffelt einen Wassereimer langsam mit einem Teelöffel aus, sagte er sich leise, niemals würden die USA einzelne Raketen auf die UdSSR feuern. Ein nuklearer Angriff würde mit der Vernichtungskraft von Hunderten Raketen gleichzeitig erfolgen, so hatte er es gelernt. "Nur: Sicher war ich mir in dem Moment natürlich nicht", erinnert sich Petrow.

Dann rief er seinen Vorgesetzten an. "Es ist ein falscher Alarm", rapportierte Petrow. Die Leitung knisterte. "Verstanden." Als Petrow auflegte, jaulten die Sirenen erneut: Kosmos 1382 meldete den zweiten Raketenstart und wenig später den Anflug drei weiterer Raketen. Die Systeme in Serpuchow-15 liefen einwandfrei, sie melden keine Fehler. Petrow misstraute den Riesenrechnern, die in 16 Schränken leise schnurrten, dennoch: "Wir sind klüger als die Computer. Wir haben sie geschaffen."

750 Millionen Tote, 340 Millionen Verletzte - die Bilanz eines Atomkriegs 

Niemals war die Welt der atomaren Vernichtung näher als in dieser Nacht, sagt Bruce Blair, US-Abrüstungsexperte und heute Chef des World Security Institute. "Die oberste sowjetische Führung hätte, wenn sie über einen Angriff informiert worden wäre und da sie binnen Minuten einen Entschluss fällen musste, die Entscheidung für einen Vergeltungsangriff getroffen." Andropow, der damals bereits vom Krankenbett aus regierte, hätte wohl den "roten Knopf" gedrückt - und damit einen tatsächlichen Nuklearschlag der Amerikaner provoziert.


Der SPIEGEL berichtete 1983, was ein Atomkrieg für die Welt bedeuten würde: Rund 5000 Sprengköpfe würden über dichtbesiedelten Gebieten in Nordamerika, Europa und Asien niederregnen, 1124 Städte, praktisch alle Zentren mit mehr als 100.000 Einwohnern, würden ausgelöscht. Der Cambridge-Mediziner Hugh Middleton rechnete weltweit mit 750 Millionen Toten und 340 Millionen Verwundeten.
Doch dank Stanislaw Petrow kam es nicht dazu. Nach wenigen Minuten bestätigen die Radarsysteme seine Einschätzung. Es war ein Fehlalarm. Vermutlich täuschte ein von einer seltenen Wolkenformation reflektierter Sonnenstrahl das sowjetische Warnsystem, Satellit Kosmos 1382 deutete den Lichtblitz als Start einer Rakete.
Tadel von der eigenen Führung, Ehrung vom Klassenfeind
Oberst Petrow hat seiner Frau Raissa nie erzählt von jener Nacht und den fünf Raketenphantomen, der Vorfall unterlag der Geheimhaltung. Erst 1998 enthüllte ihn Generaloberst Juri Wotinzew, damals Petrows Vorgesetzter, in einem Interview. Raissa aber starb schon 1997 an Krebs.
Petrow wohnt jetzt in Frjasino, einem Vorort von Moskau. Er lebt zurückgezogen, einsam. Der alte Oberst hat einen Fetzen Firmament an die speckige Küchenwand gepinnt, er klebt gleich neben der alten Marienikone, eine Karte des Sternenhimmels. "Etwas ergreift mich noch immer", sagt Petrow, schlohweißes Haar, buschige Brauen, "wenn ich in den Kosmos schaue."
Petrow bekam damals für seine Heldentat keine Orden, sondern einen Tadel - weil er vergaß, seine Beobachtungen im Dienstbuch festzuhalten, während die Alarmsirenen schrillten. Die Ehrungen folgen erst später - vom einstigen Klassenfeind. Nach dem Bekanntwerden des Zwischenfalls sandten dankbare Westeuropäer und US-Bürger Fanpost ins Städtchen Frjasino. Eine Britin schickte ein Pfund Kaffee, ein Amerikaner einen Englischkurs - und Hollywoodstar Kevin Costner 500 Dollar. Petrow reiste nach New York, erhielt dort den "World Citizens Award".

"Der Mann, der die Welt rettete" nannten ihn die Zeitungen aus Übersee, und "Stan the Man". "Glauben Sie mir", sagt Petrow, "ich bin kein Held. Ich habe nur meine Arbeit getan." So sieht er es. Alle anderen wissen: Er hat die Menschheit vor einem nuklearen Inferno bewahrt.
© Christian O. Bruch/ laif
Benjamin Bidder/ SPIEGEL ONLINE
Mittwoch, 21.04.2010   18:14 Uhr