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Montag

„Hör endlich auf, mich zu lieben!“

Einige Jahre zuvor, nicht lange nach dem Ersten Weltkrieg, verrichtete Pat (Patrick Lloyd) Sozialarbeit – allerdings würde er es nicht so nennen – in einem Londoner Slum. In der Gemeinde gab es einen Arbeitslosen, der im Begriff war, sich zu Tode zu trinken. Er hatte eine Frau und Kinder und brauchte dringend Hilfe. Eines Tages, als Pat eine Treppe hinaufstieg, um im dritten Stockwerk einen Besuch zu machen, ging dieser Mann einige Stufen vor ihm her. Pat wusste, wie bitter sein Nachbar war, deshalb ging er weiter und sprach ihn nicht an. Der andere konnte das Schweigen nicht ertragen. Plötzlich drehte er sich um und schrie Pat wild ins Gesicht: „Hör endlich auf, mich zu lieben!“

Pat verstand, dass er besser nicht antworten sollte, und verschwand. Einige Tage danach drückte er dem Mann schweigend einen Zettel in die Hand, auf dem stand, dass da und da ein Tischler für eine kleine Arbeit gesucht werde. Diese Einfühlsamkeit hatte einige interessante Folgen. Als der Mann in einer Kneipe hörte, wie jemand eine beleidigende Äußerung über Pat machte, schlug er den Kritiker zu Boden. Aber das war nicht alles. Von da an nahm er auch andere Arbeiten an und kümmerte sich um seine Familie.

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

„Ich habe keine Angst – hast du Hunger?“

Wie ein Magnet, der unweigerlich Eisenspäne anzieht, so zieht Pat (Patrick Lloyd) immer wieder die seltsamsten Zwischenfälle an. Eines Nachts wachte er durch ein Licht erschreckt auf, das ihm ins Gesicht schien.
„Gib dein Geld raus“, sagte der Mann hinter der Taschenlampe.
„Ich habe nicht viel“, antwortete Pat, der noch nicht wach genug war, um sich klar zu machen, wie komisch seine Antwort war. „Aber das, was ich habe, brauche ich selbst.“
„Wo ist es?“ Der Einbrecher schrie fast.
„Wenn ich dir alles geben würde“, antwortete Pat sanft, „dann hätte ich ja nichts mehr für mich.“ Schweigen. Dann sprach Pat weiter: „Weißt du was, ich habe zwar nur wenig, aber das könnten wir teilen.“ Er bemerkte, dass die Pistole langsam gesenkt wurde.
Pat: „Jetzt, wo du die Pistole nicht mehr auf mich richtest, könntest du dich doch setzen!“ Der Einbrecher hob die Pistole wieder an und zielte auf Pat. Er wiederholte seine Forderung. Pat sagte: „Ich habe keine Angst mehr vor dir.“
Einbrecher: „Warum nicht?“
Pat: „Das kann ich dir nicht erklären, es ist eben so: Ich habe keine Angst mehr vor dir… Hast du Hunger?“
Einbrecher: „Ja“.
Pat: „Wir wollen Kaffee trinken und Brötchen essen. Ich kann das ganz schnell machen.“
Einbrecher: „Na gut“. Sie saßen zusammen und aßen und sprachen miteinander.
Pat: „Warum machst du sowas?“
Einbrecher: „Mir fällt nichts anderes ein. Ich würde niemals betteln.“
Pat: „Es wäre schön, wenn du bei mir bliebst und ich dir bei der Arbeitssuche helfen könnte.“
Einbrecher: „Nein – du würdest mich reinlegen.“
Pat: „Warum lässt du nicht die Pistole hier? Wenn sie dich damit erwischen, kriegst du Ärger. Ich hebe sie für dich auf.“
Der Einbrecher sah das ein, ließ die Pistole dort und als sie sich trennten, gaben sie sich die Hand.

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Freitag

Bergarbeiterfrauen in Bolivien: “Befreiung aller Gefangenen!”

Nach sieben Jahren Militärdiktatur versprach am 22. Dezember 1977 Boliviens Präsident General Banzer anlässlich bevorstehender Wahlen eine Generalamnestie für politische Gefangene. Von dieser aber wurden 348 ausgeschlossen.
Aus der Zinnminenstadt Llallagua kamen am 28. Dezember vier Bergarbeiterfrauen, deren Männer von der Amnestie ausgeschlossen waren, mit ihren insgesamt 14 Kindern in die Hauptstadt La Paz, entschlossen, für die Freiheit der Gefangenen in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten. Ihre vier Forderungen: Generalamnestie ohne Einschränkung; Wiederaufnahme aller entlassenen, gefangenen oder exilierten Bergarbeiter in ihre früheren Arbeitsstellen; Rückkehr aller Exilierten (ca. 17000 Personen) und Aufhebung der Besetzung der Bergbauzonen durch die Armee.

Nach Abweisung von der “Permanenten Versammlung für die Menschenrechte”, die eine derartige Aktion für unwirksam hielt, wurden sie im Haus des Erzbischofs Mons. Manrique aufgenommen. Drei Tage später schließen sich zwei weitere Gruppen von elf Personen dem Fasten an, das sie in einer Kirche und am Sitz der unabhängigen katholischen Zeitung “Presencia” durchführen. Solidaritätserklärungen kommen am selben Tag von der Gewerkschaftsföderation der Bergleute, der Frauen-Union Boliviens, dem Interfakultären Komitee der UMSA, der katholischen Kirche und der Permanenten Versammlung für die Menschenrechte. Diese lösen eine Welle der Zustimmung über das ganze Land aus.
Beauftragte der Ministerien suchen die Frauen auf und versprechen, “ihre Fälle” zu revidieren. Die Frauen bestehen dagegen auf der Erfüllung aller Forderungen, da es ihnen nicht nur um die eigenen Familien gehe.

In vielen Städten entstehen Unterstützungskampagnen, am 10. Tag fasten allein in La Paz 300 Personen mit, die meisten im Lande fasten in Kirchen. Universitäten, Betriebe und Minen streiken für kürzere oder längere Zeit, um ihre Solidarität auszudrücken. Expräsident Salinas, der mitfastet, leitet ein neu gebildetes Verhandlungskomitee. Die Regierung weist jedes Verhandlungsangebot zurück, bezichtigt die Streikenden der Subversivität und organisiert Gegendemonstrationen. Wegen der anhaltenden Solidaritätskundgebungen versucht General Banzer über den Erzbischof einen Kompromiss durchzusetzen, der aber von den Fastenden zurückgewiesen wird. Um die Koordinierung des Widerstandes zu behindern, organisiert daraufhin die Regierung über von ihr beauftragte Gewerkschaftskoordinatoren einen Streik, der den Verkehr lahm legt.
Schließlich kommt es doch zu Verhandlungen. Die Regierung bricht diese am Abend des 20. Fastentages ab.

In den frühen Morgenstunden des 21. Tages (17. Januar 1978) besetzt die Polizei viele Orte, an denen sich Fastende aufhalten, außer dem Haus des Erzbischofs, und führt sie z.T. in Krankenhäuser, z.T. in Polizeistationen ab. Das ruft Empörung hervor, immer mehr Menschen solidarisieren sich: 1200 Personen fasten. Der Erzbischof protestiert gegen die Übergriffe gegen die Kirche, exkommuniziert die dafür Verantwortlichen und kündigt gemeinsam mit anderen Bischöfen des Landes eine dreitägige Schließung aller Kirchen an, auch ein Sonntag ist davon betroffen. Gegen Abend ist die Regierung zur Fortsetzung der Verhandlungen bereit, um 23 Uhr wird ein Abkommen erzielt, das alle Forderungen der Fastenden erfüllt, um 23.30 Uhr wird das Fasten beendet, die große Mehrheit der Gefangenen und Verhafteten wird sofort entlassen und die erkämpften Rechte Schritt für Schritt verwirklicht.

(Nach: Hildegard Goss-Mayr [Hrsg.]: Geschenk der Armen an die Reichen. Zeugnisse aus dem gewaltfreien Kampf der erneuerten Kirche in Lateinamerika. Wien, 2. Auflage 1980, S. 123 - 126)

„Was habe ich dir getan?“ - Der Mann mir der Pistole

Er fuchtelte mit der Pistole „Was willst du von mir?“
Am 6. Mai 2001 traf ich im Zug zwischen Hamburg und Essen einen jungen Mann, etwa Mitte 20, einen Russen. Wir kamen ins Gespräch. Ich erzählte ihm von der Gütekraft, auch einige Beispiele gütekräftigen Verhaltens. Daraufhin erzählte er mir das folgende Erlebnis. Er schrieb es auf meine Bitte hin auf Russisch auf und wir übersetzten es gemeinsam. Er nannte mir seinen Namen, will diesen aber nicht erwähnt wissen.

„Ich war mit einem Freund in einer Kneipe. Es war mein erster Barbesuch in Deutschland. Wir hatten nicht vor, lange zu bleiben. Wir hatten nichts zu tun.
Wir gingen in die Bar. Sahen einige Leute, die da saßen und tranken. Manche von ihnen unterhielten sich mit dem Barkeeper, der auch aktiv mittrank. Ich weiß nicht, wie viel der Barkeeper getrunken hatte, bevor wir kamen, aber mit uns zusammen trank er sehr viel.
Zugleich machte dieser Mann eine Show hinter der Bar. Er zerbrach Gläser und ging barfuß über die Scherben. Natürlich verletzte er sich. Als wir schon fast Freunde waren, zog er eine Pistole und richtete sie gegen mich, vor meine Stirn. Ehrlich gesagt, dachte ich in diesem Moment nicht, dass die Pistole echt wäre. Für mich war einfach spannend, was er von mir wollte.
Nun begann dieser Barkeeper, mir von seinem Leben zu klagen und er beschuldigte mich, dass „meine Organisation“ ihn verfolge. Er erzählte so sicher, wie er für nichts und wieder nichts in Polen verwundet worden war. Und sagte, dass er mit dem Zweiten Weltkrieg nichts zu tun hätte, dass er sich nicht schuldig fühlen könne für das, was seine Eltern getan haben. Jede dieser Tiraden beendete er mit zwei Fragen: „Was habe ich dir getan?“ und „Was willst du von mir?“ Und dabei fuchtelte er mit der Pistole herum. Auf beide Fragen antwortete ich natürlich: „Nichts.“
Schließlich blieb mir nichts anderes übrig als ihn völlig betrunken zu machen, bis er in der Verfassung war: „Du bist mein bester Freund!“ Er gab mir die Pistole. Sie war echt. Ich brachte sie in Sicherheit. Später kam die Polizei, weil sich Menschen beschwert hatten, dass es zu laut wäre. Dann verließ ich mit meinem Freund schleunigst das Lokal.“

Martin Arnold

Die Reichskriegsflagge im Fenster gegenüber

Damals, im Jahr 1992, wohnte ich in Köln-Kalk in einer Straße, in der auch viele türkische Einwanderer wohnen, direkt neben einem türkischen Lebensmittelgeschäft. Es war das Jahr der rassistischen Krawalle in Rostock und anderswo. Mein Küchenfenster ging zur Straße hinaus und eines Tages sah ich: In einer Wohnung gegenüber hing direkt am Fenster eine große Reichskriegsflagge. Als engagierter Antifaschist dachte ich spontan zuerst an Steine, Bomben usw., verwarf das zwar gleich, aber mir war klar, dass ich diese Fahne nicht einfach hinnehmen konnte.

Nach ein paar Tagen nahm ich allen Mut zusammen sowie ein Exemplar des Bildbüchleins "Krieg dem Kriege" von Ernst Friedrich zur Hand (Bilder aus dem I. Weltkrieg, um 1925 erschienen, Reprint von Zweitausendeins), ging über die Straße, erwischte auch gleich die richtige Klingel und wurde von einem ca. 18-jährigen Jugendlichen an der Wohnungstür empfangen. Ich sagte ihm, ich sei ein Nachbar und wolle wegen der Reichskriegsflagge mit ihm sprechen. Er sagte, die Wohnung gehöre seinem Freund, der sei gerade auf dem Klo, und bat mich hinein. Besagter, ca. 20, erschien, und war zunächst äußerst reserviert, aber nicht unfreundlich. Wir setzten uns direkt unter die Flagge und kamen ins Gespräch. Die beiden stammten aus Ostdeutschland, arbeiteten bei Ford und regten sich über herumlungernde türkische Jugendliche auf. Ich verwies auf meine türkischen Nachbarn in dem Geschäft; sagte, die sähe ich immer nur fleißig arbeiten. Ja, hm, aber die anderen, vor der Spielhalle... Die Deutschen seien doch so fleißig, und darauf sollten sie stolz sein. Ich sagte: Ich bin mir nicht so sicher, ob das die richtige Art zu leben ist. Die südländische Mentalität, das Abwarten, Genießen des Augenblicks, vielleicht auch eine gewisse Faulheit - das alles hat doch auch einiges für sich. Die beiden waren überrascht und wurden tatsächlich ein bisschen nachdenklich.

Ich kam auf die Flagge zu sprechen, erklärte ihnen, wie gut ich sie von meinem Fenster aus sehen könne und sprach darüber, welche furchtbaren Verbrechen im Zeichen dieser Flagge begangen worden seien. Ich sparte bewusst die Nazizeit aus und sprach über den I. Weltkrieg, gab dem Jüngling das Buch dazu in die Hand, er könne es sich ja mal durchblättern. Es zeigt die Gesichter von Kriegsversehrten, Menschen mit riesigen Löchern im Gesicht, grauenhaft! Die beiden bestanden darauf, dass man als Deutscher doch stolz sein könne auf das, was Deutsche geleistet hätten. Ich stimmte zu und sagte: Ja, auch ich bin stolz darauf, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg schon 1914 erkannt hatten, worauf der Krieg hinauslief, und die ganze Zeit über dagegen gekämpft und sogar ihr Leben dafür geopfert hatten...  Dass ich als "Wessi" wegen dieser Dinge sogar bei den Kommunisten gewesen war, das konnten sie nun gar nicht verstehen, klar. Gut, wir gingen auseinander, sie werden sich wohl noch genügend über den Spinner von gegenüber gewundert haben, aber drei Wochen später war die Flagge weg.

aufgeschrieben im April 2001

Toni Kalverbenden, Köln

Freitag Abend im Jugendzentrum

Pfarrer Reinhard Kolb

Im Frühjahr 1972 erlebte ich das Folgende:

An einem Freitag Abend war im Gemeindezentrum im Jugendkeller Disco für die Älteren ab 20 Uhr. Zu den Gästen gehörten einige recht problematische Jugendliche. Ich erinnere mich an die Verabschiedung eines von ihnen, der eine Haftzeit in der Jugendstrafanstalt Siegburg antreten musste. F. war ein eher labiler junger Mann. Er ist später etwa 35jährig an seinem Alkoholismus zugrunde gegangen.

An jenem Abend kam er angetrunken und begann zu randalieren. Den Leiter der Disco, einen Studenten der Sozialpädagogik, schlug er k.o., kreischend verließen die Mädchen den Disco-Raum. Ich hatte Alkoholverbot gegeben, bei Zuwiderhandlung Hausverbot. Das sprach ich nun F. gegenüber aus, fasste ihn am Arm, um ihn hinauszuführen. Da packte er meine Krawatte, drehte sie und würgte mich. Ich keuchte: „Lass mich los!“ Er: „Erst wenn du mich loslässt!“ Ich ließ seinen Arm los, er meine Krawatte. Doch nun schrie er mich an: „Ich will mich mit dir schlagen! Komm, wehr’ dich!“ Ich erwiderte ihm: „Ich bin Christ. Ich wehre mich nicht. Aber wenn du mich auch zusammenschlagen willst, warte, bis ich meine Brille abgegeben habe, die brauche ich am Sonntag noch.“ Und ich gab meine Brille an einen Danebenstehenden. Da schrie er mich an: „Wenn du dich nicht wehren willst, kann ich mich nicht mit dir schlagen“, und rannte ins Dunkel hinaus, über die befahrene vierspurige B 224, vor dem Gemeindezentrum - und noch einmal hielt ich den Atem an.

aufgeschrieben im Juli 1999


Zum Frieden anstiften - Das Streetworker-Projekt - Ein Sommertag im Freibad

Ernst von der Recke

Leichtfüßig und beschwingt zogen etwa vierzig Jugendliche durchs Schwimmbadgelände zum Volleyballplatz - vorneweg die Jungen, gefolgt von den Mädchen. Ein lebhaftes Sprachgemisch aus gebrochenem deutsch, türkisch und russisch erfüllte die Luft. Zurück blieben ein junger Mann türkischer Abstammung, ein Bosnier und eine deutsche Frau. Nur langsam verzog sich die Menge der Schaulustigen. In einigem Abstand standen die Bademeister mit blassen Gesichtern. Das Handy, das sie seit einer dreiviertel Stunde in der Hand hielten, um im Bedarfsfall sofort die Polizei rufen zu können, ließen sie sinken. Die deutsche Frau hielt einen Stapel alter Zaunlatten mit heraussteckenden Nägeln in der Hand. Etwas ratlos stand sie da und guckte der abziehenden Gruppe nach: "Kann das gut gehen, wenn die behaupten, sie wollten jetzt miteinander Volleyball spielen?!"
Was war passiert, und wer war dieses Gespann von drei jungen Erwachsenen, die offenbar vom Erfolg ihrer Arbeit überrascht und noch etwas ungläubig der abziehenden Gruppe munterer Jugendlicher und Kinder hinterher schauten?

Der Ort des Geschehens war das zentrale Freibad in Wetzlar. Hier gibt es seit dem Sommer 1996 ein sogenanntes Streetworker-Projekt. Etwa 20 Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedlicher Abstammung und Herkunft sind seither jedes Frühjahr  vorbereitet worden, während der Sommerferien nachmittags von 14 Uhr bis 18 Uhr  für einen Dienst zur Verfügung zu stehen, verbunden mit einer finanziellen Anerkennung. Sie sind in Dreierteams eingeteilt. Dabei ist Sorge getragen, daß diese Untergruppen möglichst beiderlei Geschlecht enthalten und Sprachkompetenzen in Deutsch, Türkisch und einer slawischen Sprache besitzen.

Das Motto, unter dem dieses Projekt steht, heißt "Grenzen setzen - Räume öffnen". Getragen wird es von einem großen Kreis von Personen aus der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendarbeit, einschließlich der Polizei mit ihrer "Arbeitsgruppe Gewalttäter an Schulen", von Personen verschiedener kultureller und religiöser Vereine und Einrichtungen, ferner aus dem Bereich der Resozialisation und nicht zuletzt aus dem Sozialdezernat und dem Koordinierungsbüro für Jugend und Soziales der Stadt Wetzlar. Der Beitrag, zu dem wir als Laurentiuskonvent angefragt wurden, lag in dem Entwurf und der Durchführung eines Trainings für die "Poolworker".

Dem oben angedeuteten Konfliktende ging wohl der heißeste Streit in der vierjährigen Geschichte des Projekts voraus. Ercan, der Freiwillige mit türkischer Abstammung, hatte einen Schlag gehört und beim Hinschauen wahrgenommen, daß ein rußlanddeutscher Jugendlicher einen kurdischen Jugendlichen offenbar ohne jegliche Vorwarnung am Rand des Freibads ins Gesicht geschlagen hatte. Andere waren ebenfalls aufmerksam geworden und durch den offenen Disput formierten sich in Windeseile zwei Gruppen, eine türkisch und eine russisch sprechende. Die Emotionen auf der Seite des Geschlagenen kochten hoch - "seit drei Jahren habe ich mich nicht mehr geprügelt, jetzt ist es mal wieder soweit!..." Einige gingen an einen nicht weit entfernten Lattenzaun und rissen einige Latten heraus, mit denen sie sich bewaffneten. Ercan hatte die türkisch geführte Diskussion mitverfolgt und schritt ein - deutsch sprechend. Er wurde sofort als unerwünschter Eindringling identifiziert:  "Was will der denn?" fragte ein Junge auf türkisch. Ercan überraschte ihn und die anderen, indem er auf türkisch antwortete und erklärte, wer und in welcher Funktion er hier sei und daß er nicht dulden würde, daß sie hier auf dem Schwimmbadgelände eine Schlägerei vom  Zaun brachen. Sichtbar in ihrem Schwung gebremst, einigte sich die Gruppe, vor den Eingang vom Schwimmbadgelände zu gehen. Irgendwann wurde das Schwimmbad ja schließen, dann wurden sie sich "die Russen" greifen.

Um den, der geschlagen hatte, hatte sich ebenfalls sehr schnell eine Gruppe von rußlanddeutschen Jungen und Mädchen gesammelt. Ihre Empörung bestand darin, daß der Kurde eins „ihrer“ Mädchen belästigt hatte. Zu ihnen hatte sich Almir, ein bosnischer Freiwilliger gesellt. Er verstand in etwa, was sie sagten und brachte sich als Streetworker beruhigend ein.

Als letzte kam Ulrike hinzu, eine Deutsche, die auch außerhalb des Projekts schon Erfahrung in Mediation gesammelt hatte. Sie erkundigte sich schnell  bei ihren beiden Kollegen, befand, daß es keine befriedigende Option sei, daß das Problem sich lediglich außerhalb des Schwimmbadzaunes verlagert habe und daß sie eine Vermittlung wagen wollte. Die Gruppe der Rußlanddeutschen war sofort bereit, sich auf eine Konfrontation mit der Gegenseite einzulassen. Sie folgten Ulrike auf ihrem Weg zu der Gruppe im Eingangsbereich. Im Handumdrehen war dieser Bereich dicht, niemand konnte mehr hinein oder hinaus.

Der Versuch, die herauszufinden, die ursprünglich beteiligten waren, erwies sich als äußerst  schwierig. Andere, die nicht unmittelbar am Streit beteiligt waren, hetzten am meisten. Die Absicht, die Auslöser des Streites gesondert zu nehmen, erwies sich als gänzlich unmöglich. Die Angelegenheit war zu einer Ehrensache geworden, in der es jetzt keine Unbeteiligten mehr gab. Almir und Ercan standen zwischen den Gruppen und hielten "ihre" Leute sowohl mit ihrer Körper- wie mit ihrer Seelen- und Gütekraft in Schach. Ulrike stand ebenfalls dazwischen und wendete sich blitzschnell von der einen zu der anderen Seite, immer bemüht, die Betroffenheit und den Hergang zu verstehen und dies als Anfrage an die andere Seite weiterzugeben. Als sich herausgestellte hatte, daß der, der geschlagen hatte, überhaupt kein deutsch verstand und sich jemand als Dolmetscher anbot, gelang es leichter, den Fortgang der Auseinandersetzung zu strukturieren. Die Wahrnehmung des Hergangs war unterschiedlich. Ob der kurdische Jugendliche die Schwester des Rußlanddeutschen geschubst habe oder er sie nur angeredet hatte, blieb unklar. Die Wende kam an dem Punkt, als der Kurde seinen Kontrahenten fragte, warum er denn gleich geschlagen habe. Sie seien hier doch  in Deutschland und nicht in Kasachstan und auch nicht in Anatolien. Hier dürfe man Mädchen anschauen und auch mit ihnen reden. Der Angeredete erklärte, daß er ihn ja nicht ansprechen konnte, da er weder deutsch noch kurdisch spreche. Um die Familienehre zu wahren, sei ihm nur die Möglichkeit des Zuschlagens geblieben.

Damit war die alle verbindende Herausforderung auf dem Tisch: An einem fremden Ort mit anderen Sitten die Beziehung zum anderen Geschlecht aufzubauen und dabei sein ererbtes Ehrgefühl zu wahren! Dies war tatsächlich ein Thema, das alle betraf, nicht nur die beiden primär am Streit beteiligten. Eine Lösung des Streites war nun nicht mehr weit: Der Rußlanddeutsche entschuldigte sich bei dem Kurden, und der Kurde bei dem Mädchen. Beide taten es jetzt aus freien Stücken und im Respekt vor den Bedürfnissen des anderen und seinen Grenzen.

Das, was normalerweise am Anfang einer Mediation geschieht, nämlich daß man sich gegenseitig vorstellt, konnte in diesem Fall erst jetzt geschehen: Ulrike wandte sich an die, die eine Latte in der Hand hielten, stellte sich vor und fragte sie nach ihrem Namen. Dann bat sie, ihr die Latten auszuhändigen. So endete mit der freiwilligen Entwaffnung auch die Anonymität. Der Wunsch, miteinander spielen zu gehen, entsprach dem guten Gefühl, ein existentielles Problem bearbeitet zu haben und darüber miteinander vertraut worden zu sein.

Ercan, der nach seiner Zeit der Arbeitslosigkeit wieder die Schulbank drückt, um das Abitur nachzumachen, ist inzwischen ein begehrter Mitarbeiter in der städtischen Jugendarbeit. Almir, der immer noch nicht in seine Heimat zurückkehren kann, lebt und denkt europäisch. Er hat in Deutschland einen Beitrag zum Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien geben können. Das läßt ihn und uns hoffen, daß er ähnliches auch in seiner zerrissenen Heimat einmal wird leisten können. Ulrike sucht ihren Weg als Mediatorin im schulischen Bereich und in der Stadtteilarbeit.

Eine ausführliche Dokumentation über das Streetworker-Projekt ist über Frau Barbara Bayani vom Koordinationsbüro des Bürgermeisters der Stadt Wetzlar (Ernst-Leitz-Str. 30, 35578 Wetzlar, Tel. 06441/99-472) zu beziehen. Eine weitere Kontaktperson und Mitinitiator des Projektes ist Herr Harald Wurges vom Stadtjugendring Wetzlar (Tel. 06441/35922). Beide Personen besitzen die besondere Begabung, Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft leben und solche, die in verantwortlicher Position sitzen in einen gemeinsamen Prozeß zu verweben.

Meine persönlichen Voraussetzungen zur Mitwirkung an einem solchen Projekt sind geprägt durch Erfahrungen mit der Arbeit von Friedensdiensten (19971/72 habe ich als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen an einem ähnlichen Projekt in einem Getto im nordamerikanischen Bundesstaat Mississippi teilgenommen) und durch meine Einbindung in die Lebensgemeinschaft des Laurentiuskonvents. Seit seiner Gründung 1959 haben Mitglieder des Konventes sich immer wieder diakonisch engagiert. Hierzu gehört auch die Entwicklung des Gedankens eines Schalom-Diakonats. Er hat sich in der Gründung des Oekumenischen Dienstes im Konziliaren Prozeß mit der Geschäftsstelle in Wethen (Mittelstr. 4, 34474 Diemelstadt, Tel.: 05694 8033) und seinen unterschiedlichen Trainingsangeboten zu einem zivilen Friedensdienst praktisch verwirklicht.

Theologisch - das ist uns dieses Jahr in der Karwoche bei der Meditation von den drei Leidensankündigungen Jesu und den daran anschließenden Jüngerbelehrungen (Mk 8,9+10) so deutlich geworden - gründet und orientiert sich unsere Praxis an der Treue zum Evangelium und ihrer Umsetzung in einer sozialen und politischen Diakonie. Nachfolge Jesu - das Stichwort in den drei biblischen Texten - führt in Situationen von Not und Gewalt, aber Gottes Geist lenkt auch hindurch zu neuen Freundschaften und tragfähigen Beziehungen.

Ernst von der Recke ist Mitglied der ökumenischen Lebensgemeinschaft Laurentiuskonvent in Laufdorf (Ringstr. 21, 35641 Schöffengrund), verheiratet und Vater von drei Töchtern. Von der Ausbildung her Theologe arbeitet er mit einer halben Stelle bei der Lebenshilfe Wetzlar. Mit seiner Frau engagiert er sich im Bereich Mediation, besonders an Schulen und in der Arbeit des friedenskirchlichen Netzes Church and Peace.


In Mexiko wurde mit Gütekraft ein Mord verhindert

Es war im Jahr 1971, als mein Mann und ich für den Versöhnungsbund in Mexiko tätig waren. Eines Abends saßen wir dort in einer Kneipe. Am Nachbartisch unterhielten sich lautstark zwei Männer. Sie tranken Schnaps. Einer der beiden sprach in dem lebhaften Gespräch eine Beleidigung gegen den anderen aus. Sie gerieten in Streit. Plötzlich sprang der Beleidigte impulsiv auf, zückte ein Messer und ging auf den ersten los.
Wir sahen das alles, aus nächster Nähe. Was konnten wir tun?
Mein Mann handelte schnell. Er stand auf und schlug dem Mann mit seiner Hand von oben so auf das rechte Handgelenk, dass das Messer zu Boden fiel.
Damit zog er den Angriff des Mannes auf sich. Und er stellte sich ihm so gegenüber, dass er ihn anschauen konnte, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und er fragte ihn sofort: Da muss dir dein Kollege etwas ganz Schlimmes angetan haben, dass du so heftig reagiert hast? Worum handelt es sich denn?
Die einfühlsame Frage machte klar, dass der Schlag auf die Hand kein Angriff gegen die Person des Mannes war, dass mein Mann keineswegs die Absicht hatte, ihm in irgendeiner Weise Schaden zuzufügen, sondern die Wut des Angreifers auf sich zu lenken und einen Mord zu verhindern.
Der Mann konnte durch das anschließende Gespräch beruhigt und die Situation entschärft werden.

von Hildegard Goss-Mayr

Wien 1945: Russische Soldaten verhalten sich menschlich.

 Wien war bombardiert worden, der Krieg verloren, die Russen marschierten ein. Und sie hatten das Recht des Siegers, das Recht, sich alles zu nehmen, nicht nur Hab und Gut, auch Frauen. Sie gingen von Haus zu Haus. Auf Geheiß meines Vaters gingen meine Mutter und die anderen Frauen im Haus in den Keller. Er selbst schloss die Haustür nicht ab. Wie bei den anderen Häusern stießen die Soldaten mit den Gewehrkolben gegen die Tür, wohl in der Erwartung, sie auf diese Weise öffnen zu müssen. Mein Vater jedoch erwartete sie und öffnete die Tür. Er hatte kein Russisch gelernt. Die Gewehrläufe, die sich sofort gegen ihn richteten, schob er langsam zur Seite und lud die Männer mit einer Geste ein, einzutreten. Das war für die russische Kampftruppe offenbar eine völlig neue Erfahrung. Sie traten ein, vermuteten jedoch zunächst eine Falle. Mit vorgehaltenem Gewehr gingen sie in alle Zimmer. Mein Vater lud sie ein, sich zu setzen. Das taten sie, als sie merkten, dass sie nicht bedroht wurden. Dann holte er die Frauen aus dem Keller und alle saßen mit den Männern zusammen. Die Soldaten taten niemandem etwas zu Leide. Als sie gingen, blieb einer von ihnen noch an einer Ikone, die bei uns an der Wand hing, stehen. Er sagte: „Ja Chrestianin“ das heißt auf Russisch: Ich bin Christ.

Später kamen noch weitere Soldaten zu uns. Da gab es teilweise sehr schwierige Situationen.
So schützte mein Vater die bedrohten Frauen einerseits, andererseits war er bemüht, die Soldaten aus ihrer Haltung der Feindschaft und Angst herauszuholen. Er war bereit, dafür sein Leben einzusetzen.

Mannheimer Hoffnungsgeschichten

Mannheimer OberstufenschülerInnen schreiben Hoffnungsgeschichten der Überwindung von Gewalt
(Ökumenisches Bildungszentrum sanctclara Mannheim, 28.3.01)


Im Bereich Geschwisterstreit: Nach verbalen Attacken und Androhungen von “Gewalt mit Fäusten” zogen mein Bruder und ich uns kurz ins jeweilige Zimmer zurück, besannen das, was gerade gelaufen war, und entschuldigten uns beim Anderen. Öfter Besinnung und Nachdenken bringt etwas!

Bei mir im Basketballtraining gibt es ein paar ziemlich “coole” Typen, die denken, dass sie die Tollsten sind. Als ich von denen angemacht wurde, kam ein Kumpel von mir (eigentlich ein ziemlich schmächtiger Kerl), hat sich hinter mich gestellt und signalisiert, dass er zu mir steht. Da sind die Typen weitergegangen. Das war ein tolles Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine ist und Freunde hat, die helfen.

Eine freundschaftliche Rangelei im Zug zwischen zwei Freunden wird zu einer richtigen Prügelei. Der eine hat schon eine blutige Nase, als mein Freund und ich dazu kommen. Wir schnappen uns jeder einen und fangen ihn an zu kitzeln. Daraufhin müssen sie sich wohl oder übel loslassen und hören auf miteinander zu kämpfen.

Eine Klassenkameradin hat eine andere ständig fertiggemacht wegen Aussehens, Verhalten etc.. Irgendwann bekam die eine dann ein selbst geschriebenes Gedicht der anderen, die sich nicht unterkriegen ließ, zur Ansicht. Und sie hatte plötzlich Ehrfurcht vor ihr und ihrer Fähigkeit des Schreibens.

Ich kam mit meinem Motorrad an eine rote Ampel und fuhr zwischen den Autoschlangen, die sich auf beiden Spuren gebildet hatten, bis an die Haltelinie vor. Ein LKW-Fahrer kurbelte die Fensterscheibe runter und begann rumzuschreien: “Hast du ‘nen Bremsfehler oder bist du einfach nur blöd, du Idiot?” Ich drehte mich um und sagte zu ihm: “Komm schon, Mann, ich werde doch bei dem Wetter nicht hinter 20 Autos im stop&go-Verkehr fahren. Trotzdem sorry.” Er winkte mir gerade nur lässig mit der Hand und lächelte.

Bei uns in der Clique gab es mal ein nettes Mädchen. Sie ist mit dem Jungen zusammengekommen, der am meisten Einfluß auf alle hatte. Leider ist die Beziehung nach 9 Monaten zerbrochen und von den anderen (außer mir) wollte keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben. Sie wußte lange nicht, was sie falsch gemacht hatte. Und ich sagte ihr immer, dass es nicht an ihr läge. Wir wurden die besten Freunde. Letzten Samstag feierte die Clique eine Party. Sie wollte sich mit mir treffen. Wir unterhielten uns in angetrunkenem Zustand. Irgendwie standen auf einmal alle neben uns und wir redeten über alles, was noch nicht geklärt worden war (über 2 Stunden lang). In dieser Woche meldeten sich einige wieder bei ihr und haben zugegeben, dass sie sie eigentlich gar nicht so schlimm finden. Jetzt treffen sich viele wieder mit ihr. Das gibt dem Mädchen viel Kraft, die sie in den Monaten davor verloren hatte!

Konfliktsituation vor dem Haus: zwei Kindergartenkinder streiten sich um einen Bobbycar. Da kommt der ältere Bruder eines der Kinder dazu und zeigt den beiden, wie sie den Bobbycar mit Anhänger gemeinsam nutzen können, indem einer Fahrer und einer Fahrgast ist. Das Spiel geht friedlich weiter.

Neulich am Paradeplatz:  eine Klassenkameradin wurde von ihrem Ex-Freund und 6 Skinheads verfolgt. Wir Mädchen blieben bei ihr, auch wenn wir nicht viel ausrichten konnten, und liefen nicht weg. Ich denke, dass wir hier Zivilcourage bewiesen. Verbal konnten wir den Konflikt teilweise lösen. Meiner Meinung nach, muss Gewaltüberwindung bei Bildung ansetzen.

Unser Raucherhof sollte geschlossen werden, wenn er weiterhin so schmutzig ist. Doch es gab Leute, die ihn dann putzten und nicht anfingen zu randalieren!

Ich sah vor kurzem eine Reportage im TV mit dem Thema Zivilcourage. Es wurde dabei festgestellt, dass in Konfliktsituationen öfters Menschen ab 35 wegsehen als die jüngere Generation. Dass also die heranwachsende Gesellschaft lernt oder gelernt hat helfend einzugreifen. Ich denke, das ist ein Punkt, der Hoffnung bringt.

“Sanfte Gewalt” - Eigenes Foto: Großstadt, Autostraße, Randstein zwischen benzin- und ölbeflecktem Asphalt und zugeparktem Gehweg: Aus einer Fuge heraus wächst und blüht ein Löwenzahn!

Ein zierlicher Siebtklässler wird von einem großgewachsenen Klassenkameraden mit leichten Stößen provoziert zurückzuschlagen. “Schlag zurück! Komm, wehr dich...” Der Kleine steht – an die Schulmauer gelehnt – als ob es ihn nichts anginge und schaut den Großen an. Der Zuschauerkreis wird immer größer. Der Kleine läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Große hat keine Chance. Die Zuschauer sind mehr und mehr gegen ihn. Sie sagen nichts, aber sie verhindern, dass der Große seine Übermacht ausleben kann. So geht die Pause zu Ende. Der klare Sieger ist der Kleine. Der Große gibt auf. Seine Provokation läuft ins Leere. Auf die Frage, warum er sich nicht gewehrt habe, sagt der Kleine: “Ich habe gegen den Großen keine Chance. Das einzige, was ich tun kann, ist: Nerven bewahren. Wenn ich zurückschlage, hat er einen Grund mich zu schlagen. Den Spaß gönne ich ihm nicht. Zum Raufen gehören immer zwei.”

Streitschlichtersituation: Zwei Schüler im verbalen Schlagabtausch werden von einem Mitschüler angesprochen: “Du fühlst dich jetzt wohl sauwohl!?” Überraschung! Stille. Nächstes Mal wiederholt er die Frage – Stille. “Nein? Warum investierst du dann soviel Energie in etwas, was dir nichts bringt?” Später läßt der verbale Streit nach. Inzwischen wurde einer der Streithähne selbst Streitschlichter.


Quelle: Mannheimer OberstufenschülerInnen teilen ihre Geschichten bei einer Veranstaltung zur Dekade "Gewalt überwinden" am 28.3.01 im Ökumenischen Bildungszentrum sanctclara in Mannheim

Anne Kretzschmar
Dienst fuer Mission, Oekumene und Entwicklung
Evangelische Landeskirche in Württemberg

Schläge nach dem Schlittschuhlaufen - Ein Konflikt, den ich selbst gütekräftig lösen konnte.

Die Situation, die ich schildern möchte, spielte sich vor ungefähr 3 Jahren ab. Ausgangspunkt war, dass ich mit drei Freunden in der Eissporthalle in Chemnitz Schlittschuhlaufen war. Damals war ich 16 Jahre alt und meine Freunde waren beide 18. Es war ein ganz normaler Samstagabend und wir hatten sehr viel Spaß. Als wir dann gegen 22 Uhr zu unserem Auto zurücklaufen wollten, sahen wir eine Gruppe von ca. 6 Jugendlichen auf uns zu kommen. Diese waren zwischen 20 – 25 Jahre alt, ziemlich angetrunken, randalierten und schienen auch eine rechtsgerichtete Einstellung zu haben. Das schlossen wir daraus, dass die Jugendlichen Bomberjacken, Springerstiefel und auch sehr kurze Haare hatten. Wir hingegen waren und sind Anhänger der Gothic-Szene und waren schwarz gekleidet. Wir beschlossen, die Straßenseite zu wechseln, denn wir hatten keine Lust mal wieder ein paar aufs Maul zu kriegen, nur weil wir andere Kleidung, eine andere Ansicht oder einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Doch auch die Gruppe wechselte die Straßenseite und folgte uns nun. Als wir das bemerkten bekamen wir schon ein ungutes Gefühl, denn wir hatten schon mehrere Begegnungen mit solchen Jugendlichen hinter uns. Also versuchten wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Wir rannten zunächst die Hauptstraße entlang mit der Hoffnung ein vorbeifahrendes Auto würde vielleicht anhalten und uns helfen, aber alle Autos fuhren vorbei, obwohl man genau sehen konnte, dass wir verfolgt wurden. Je länger diese Jagd dauerte, umso mehr Panik bekamen wir. Wir konnten nicht einmal untereinander klären, was wir nun tun sollten. Nur eines war klar; wir würden uns nicht trennen, denn zu dritt gegen sechs ist besser als allein gegen diese bestehen zu müssen. Leider mussten wir nach kurzer Zeit die Hauptstraße verlassen, denn das Auto stand in einer kleinen Nebenstraße. Als wir dann noch ungefähr 800m von unserem Auto entfernt waren, hatte uns die Gruppe doch noch eingeholt. Wir hatten schon wieder Hoffnung, doch noch heil aus der Situation heraus zu kommen, aber es sollte wohl nicht sein. Jedenfalls die Gruppe hatte uns eingeholt und uns sofort umstellt um zu verhindern, dass wir nochmals versuchen zu entkommen. Was nun folgte, war nichts Neues für uns. Jeder von uns musste erst einmal ein paar Schläge einstecken. Ich bekam, nachdem sie uns verbal provozierten und uns anrempelten, einen Schlag in den Magen und mehrere in die Gegend der Nieren aber ich konnte mich auf den Beinen halten um so zu verhindern, dass sie auf mich eintreten können. Meinen Freunden erging es nicht viel anders. Sie mussten auch Schläge in den Bauch, ins Gesicht und sogar Tritte einstecken. Doch wir nahmen die Schläge und Tritte hin ohne zurückzuschlagen. Wir wussten, sobald wir uns wehren würden, hätten sie einen Grund noch mehr und vor allem noch härter auf uns einzuschlagen. Ich bemerkte dann irgendwann, dass einige dieser Jugendlichen Eishockeyschals trugen und mir fiel ein, dass an diesem Tag der ETC Crimmitschau ein wichtiges Spiel gewonnen hatte. Ich weiß im Nachhinein gar nicht mehr wie ich das bemerkt habe und was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, aber vielleicht habe ich darin eine Möglichkeit gesehen mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Also versuchte ich ein Gespräch ins Rollen zu bringen, ohne zu wissen, ob und wie das funktionieren sollte oder ob es überhaupt funktionieren würde. Ich begann also einen der Jugendlichen auf seinen Schal anzusprechen und ob er denn Eishockeyfan sei und das Spiel gesehen hat. Zu Beginn wollte keiner der Jugendlichen so recht darauf eingehen, denn schließlich muss ja eine Gruppe geschlossen zusammenhalten, aber dann passierte für mich das Unvorstellbare. Einer der Jugendlichen begann mit mir zu reden. Ich war völlig überrascht, denn es hatte zunächst den Anschein gehabt, als würde keiner der Jugendlichen darauf eingehen. Aber er antwortete mir auf meine Fragen und war auch sichtlich stolz, dass der ETC das Spiel gewonnen hatte. Je länger ich nun mit ihm redete und auch ich ihm sagte, dass ich den ETC gut finde und mich freue, dass dieser gewonnen hat, umso weniger wurde ich attackiert. Nun versuchte ich auch meine Freunde in das Gespräch mit einzubinden, um zu erreichen, dass auch sie nicht mehr attackiert würden. Und es funktionierte. Wir unterhielten uns nun über Eishockey, den ETC Crimmitschau und das gewonnene Spiel. Am Ende hatten wir es geschafft die Gruppe in ein Gespräch zu verwickeln und so zu verhindern, dass wir weiterhin zusammengeschlagen werden. Wir waren echt froh, dass es diesmal so gut ausgegangen war und konnten endlich nach Hause fahren. Ich weiß nicht mehr in welcher Zeitspanne sich das alles zugetragen hat aber es war für mich das erste mal, dass ich einen solchen Konflikt (gütekräftig) lösen konnte und es bestärkte mich in meiner Auffassung, dass man versuchen sollte, Konflikte immer auf eine solche Art und Weise zu lösen. Ich hatte zwar auch vor diesem Zeitpunkt schon die Meinung, dass es sinnvoller ist, Konflikte auf friedlicher Basis zu lösen als sich durch Gewalt leiten zu lassen, aber es hatte nie wirklich funktioniert. Aber an diesem  Abend hat es das und es war ein tolles Gefühl.

Dirk Lemke (aufgeschrieben im Juli 2002)

Der Dieb mit dem Messer

In Frankreich gibt es eine Lebensgemeinschaft in der Tradition Gandhis, die Arche (gegründet 1948 von Lanza del Vasto). Ein deutscher Praktikant dort beobachtete auf dem Markt der nahen Kleinstadt, wie jemand einer Frau das Portmonee aus dem Rucksack entwendete. Er ging dem Dieb nach, musste sich lange durch das Marktgedränge schlängeln, dann stand er ihm gegenüber und bat um das Portmonee. Da zog der andere ein Messer und bedrohte ihn. Daraufhin sagte der Deutsche: "Moi - non-violent - - portemonnaie!" ("Ich - gewaltfrei - - Portmonee"), mehr brachte er an Französisch nicht heraus, und er hob seine beiden Hände neben sich in Adoranten-Haltung mit den Handflächen zum Gegenüber. Da gab ihm dieser das Portmonee.

(Nach dem Bericht dieser Frau, einer Bewohnerin der Arche La Fleyssière, aufgeschrieben von Martin Arnold im Juni 2002)

Großmutter wartet auf Kurt Felix

Die Großmutter hatte ihre Wocheneinkäufe im Supermarkt erledigt und schickte sich an, wie üblich im Selbstbedienungsrestaurant ein kleines Mittagsmahl einzunehmen. Mit Glück ergatterte sie in vorweihnachtlichen Gedränge ein freies Tischchen, an das sie ihre Handtasche und Einkaufstüten stellte.

Erna B. geht ans Buffet, von wo sie mit einer Suppe und Würstchen an ihren Tisch zurückkehrt. Sie stellt fest, dass sie das Besteck vergessen hat, und geht nochmals zum Buffet, wo Gabeln, Löffel und Messer zu Hunderten bereitliegen. Als sie zum zweitenmal an ihren Platz zurückkommt, sieht sie zu ihrem Schrecken einen Schwarzen an ihrem Tisch sitzen, der in aller Zufriedenheit ihre Suppe löffelt.

Ehe die Großmutter Zeit hat, sich zu ärgern, schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf: Nur nicht aus der Rolle fallen, da muss Kurt Felix mit seiner versteckten Kamera am Werk sein! Geistesgegenwärtig fasst sie ihren Löffel ein wenig enger, geht auf den Tisch zu, nimmt neben dem Schwarzen Platz und beginnt, mit diesem zusammen die Suppe und die Würstchen zu verzehren. Der Tischgenosse, weder erstaunt noch verlegen, lächelt Erna B. zu und schiebt ihr den Teller näher. Die Großmutter lächelt den Schwarzen an, und ohne ein Wort zu wechseln, verspeisen die beiden Suppe und Würstchen. Sie lächeln sich mehrmals zu und an, stumm, und als das gemeinsame Mahl beendet ist, erhebt sich der Schwarze, geht zum Buffet und kommt mit zwei Tassen Kaffee zurück. Wieder lächeln sie sich an, als der Mann den einen Kaffee vor die Großmutter stellt, und schweigend genießen sie das dampfende Getränk. Dann erhebt sich das Gegenüber und verabschiedet sich mit einem Lächeln.

Die Großmutter, die ihre "Rolle" bisher souverän gespielt hat, erwartet nach dem Verschwinden des Schwarzen Kurt Felix, der ihr die Lösung des Rätsels, das ja für die Großmutter gar keines ist, bringen soll. Kurt Felix erscheint jedoch nicht, und nach längerem Ausharren greift Erna B. nach ihrer Handtasche. Welch ein Schreck, als die gute Frau feststellen muss, dass sowohl ihre Handtasche als auch die Einkäufe verschwunden sind. Schlagartig ändert sich ihre Laune, und aus dem netten Mann wird mit einem Mal ein verdammter Ausländer. Entrüstet schaut die Geprellte umher. Sie will sich schon erheben, um verschiedene Maßnahmen zu ergreifen, als ihr Blick an einem Tischchen weiter drüben haften bleibt: dort steht ihre Handtasche, neben den Tragetaschen, in denen ihre Einkäufe sind. Und auf dem Tischchen wartet ein Teller, dessen Inhalt sie nur erraten kann. Erst jetzt wird die Großmutter gewahr, dass sie am falschen Tisch Platz genommen hatte, als sie mit dem Besteck zurückkam. Sie sei sofort nach Hause gegangen und habe sich bis tief in den Abend geschämt, berichtete später Erna B.


Eine wahre Begebenheit, nacherzählt von Paul Bischof aus dem Tagesanzeiger vom 30.12.1985

Fremdenfeindlichkeit überwinden

Im Rahmen einer Unterrichtsreihe über „Fremdenfeindlichkeit und ihre Überwindung“ im Religionsunterricht einer 9. Klasse hatte ich mit einer Afrikanerin einen Unterrichtsbesuch vereinbart. Sie war bereit zum Erfahrungsbericht und Gespräch.

Am Tag vor dem vereinbarten Treffen sagte sie ihren Unterrichtsbesuch ab. Auf dem Weg nach Bonn war sie in einer Straßenbahn von zwei Jugendlichen übel beschimpft, beleidigt und an den Haaren gerissen worden. Niemand von den übrigen Fahrgästen hatte eingegriffen. An der nächsten Haltestelle war sie allein ausgestiegen. Dieses Erlebnis hatte sie seelisch schwer verletzt und verunsichert. Sie war nicht mehr in der Lage zu dem vereinbarten Schulbesuch.

Nachdem das Gespräch mit der Afrikanerin auf diese Weise unmöglich gemacht worden war, hatte sich die Schülergruppe auf diese Erfahrung mit Fremdenfeindlichkeit und Verantwortungslosigkeit konzentriert. Ein genauer Bericht über das Ereignis wurde abgefaßt und an die Stadtwerke geschickt mit Bitte um Antwort und Information über Handlungsmöglichkeiten. Unser Brief wurde von der Leitung der Bonner Verkehrsbetriebe sehr ernst genommen und beantwortet. - Alle Fahrer/innen waren (schon kurz vorher) in- formiert worden, daß sie für Zwischenfälle in ihrer Bahn bzw. ihrem Bus zuständig sind. Jede/r Fahrer/in ist ausgerüstet und angewiesen, zur nächsten Haltestelle ggf. die Polizei zu rufen.

Im Rollenspiel haben wir eigene Reaktionen in einer solchen Situation probiert. Hauptpunkte waren: Hinsehen! Andere Fahrgäste ansprechen zu gemeinsamer Reaktion! Den Fahrer aufmerksam machen! Jemand kann per Handy die Polizei rufen. Mehrere rufen sofort laut in den Wagen, daß die Polizei gerufen wird / worden ist.

In einem nächsten Schritt haben die Schüler/innen einen Artikel für die Schülerzeitung verfaßt, in dem sie über die Erfahrung mit Fremdenfeindlichkeit und die erfahrenen Reaktionen berichteten. - Es wurden Plakate gemacht, auf denen alle Schüler/innen und Lehrer/innen hingewiesen wurden auf Handlungsmöglichkeiten in solchen gewaltträchtigen Situationen. Der informative Brief von der Leitung der Stadtwerke wurde in der Schülerzeitung veröffentlicht.


 Ute Reichold

Späte Gerechtigkeit für die „Neun Freunde von Rock Hill“

Rehabilitation von US-Bürgerrechtskämpfern in South Carolina nach 54 Jahren

X Rock Hill, Süd-Carolina. Ein Richter in Rock Hill, South Carolina hat am 27. Januar 2015 das Urteil gegen neun schwarze Männer aufgehoben, die 1961 wegen eines SitIns in einem Speiselokal für Weiße eingesperrt worden waren.

54 Jahre, nachdem sie wegen ihres Anti-Rassentrennungs-Protests in der einstigen Textilverabeitungsstadt kamen die 9 Afroamerikaner – auch bekannt als die 9 Freunde – in ihrer Sonntagskleidung erneut zum Gericht, als ob der Richter sie erneut verurteilen wolle. Ein Mann ging am Stock, ein anderer saß im Rollstuhl. Einige waren dicker als damals und einige hatten weniger Haar als bei ihrer Inhaftierung 1961, als sie zu 30 Tagen Zwangsarbeit im Strafvollzug des Stadtgefängnisses verurteilt wurden.

Das Gericht kam damals zusammen. Der Richter verlas ihre Namen. Jeder stand auf oder hob die Hand, als er aufgerufen wurde. Jedes Gesicht war ernst. „Angeklagt des Hausfriedensbruchs“ sagte der Richter nach jedem Namen. Urteil: „Schuldig“. Strafe: 100 $ oder 30 Tage. Haft.

Aber an diesem Tag im Jahr 2015 beantragte die Staatsanwaltschaft von South Carolina, die Einträge im Strafregister zu löschen und die Urteile wegen Hausfriedensbruchs aufzuheben.

New York Times, 28.01.2014

Siehe auch, Bericht und Video:
http://www.nytimes.com/2015/01/29/us/south-carolina-court-clears-friendship-nine-in-1961-sit-in.html

Donnerstag

Achtung vor dem Gegner

"Im Geheimnis eines Seufzers kann das ungesungene Lied des Friedens keimen. Klagemauer Nacht, von dem Blitze eines Gebetes kannst du zertrümmert werden."           

So beginnt ein Gedicht von Nelly Sachs. Von beidem will ich erzählen, sowohl Geheimnis eines Seufzers, aus dem ahnungslos das ungesungene Lied des Friedens keimen kann, als auch vom Blitze eines Gebetes.

Die Seufzer galten der Herausforderung, der ich mich unentrinnbar stellen musste, damit die „Klagemauer Nacht von dem Blitze eines Gebetes zertrümmert werden“ konnte. Doch davon ahnte ich nichts in jenen Tagen, als in Lateinamerika eine Militärdiktatur nach der anderen errichtet wurde, während ich  als blutjunge Krankenschwester in Elendsvierteln Not zu lindern versuchte. Egal an welche Grenze oder in welch entlegenen Winkel eines Landes ich kam, überall begann die Willkür der Stiefel zu herrschen. Sogar in jenem winzigen Nest hoch in den Anden, in dem es nichts zu bewachen gab, weder Grenze noch Straße oder Bahn, Bergwerk oder Bank, nicht einmal ein Geschäft, nichts. Nur eine winzige Schule, in der der Lehrer spanisch und die Kinder quechua sprachen.
Vor meiner Abreise nach einem kurzen Zwischenstopp in der Heimat, hatte ich  einem Freund verraten, dass ich mich einer Guerillabewegung anschließen wolle. Es sei doch sinnlos innerhalb eines übermächtigen Systems direkter und struktureller Gewalt „Pflasterl zu picken“, anstatt zu verhindern, dass Menschen so zugerichtet werden. Als letzte Gegenrede schob mir jener Freund schweigend ein Buch über Gandhi in eine Außentasche meines Rucksacks. Dort fand ich es zwei Wochen später, angekommen „am Ende der Welt“ nach einem sechzehnstündigen Ritt durch eine atemberaubende Landschaft über einen Pass von 5200m. Bei zugig flattrigem Kerzenschein las ich darin, erstaunt, kopfschüttelnd, voll Widerspruch, ungläubig. Eingemummelt in meinen Schlafsack in dem armseligen Quartier raubte mir Gandhi oft den dringend nötigen Schlaf. Noch ein paar Monate würde ich hier als Krankenschwester arbeiten, dann eintauchen in den Kampf um eine gerechtere  Welt.

Aber Gandhis Weg hält mich auf Trab, wenn ich hoch zu Ross stundenlang unterwegs bin von einem Dorf zum andern. Überall erwartet mich mehr Arbeit, als ich allein bewältigen kann. Zu Fuß schaffe ich die steilen Wege  zwischen 3000 und 4500m Höhe nicht. Die armen Bauern haben weder Reit- noch Lasttiere, nur ganz wenige können sich einen Esel leisten. Die steilen, steinigen Felder reichen gerade für ihre Schafe. Also habe ich mir ein Pferd ausgeliehen, denn ich brauche fast täglich eines.  Auf der Koppel der Militärpolizei hatte ich eines entdeckt, das anscheinend nie gebraucht wurde. Es war der Hengst und die Militärpolizisten hatten sich einen ganz besonderen Spaß erwartet, als sie mir die Ausleihe genehmigten. Aber das wäre nun eine andere Geschichte. Nur so viel zum Verständnis meines Berichtes: Von Pferden hatte ich keine Ahnung. Ich ließ mich von ihnen mit großem Vergnügen durch die Gegend tragen. Das war alles.  Bei meinem Annäherungsmanöver an den Hengst konnte ich mich nur auf meine Intuition verlassen. Die verstand der „schwarze Teufel“, wie ihn die MPs nannten, offensichtlich besser als deren Schläge.  Noch hatte ich keine Ahnung, welch besonders gewalttätigen Ruf die Militärpolizei in jener Gegend hatte.
In den einsamen Stunden zu Pferd beschäftigt mich ein spezieller Gedanke aus meiner Nachtlektüre ganz besonders: Gandhi rät, den Gegner durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abzubringen. Wiederholt war da die Rede davon, wie wichtig im gewaltfreien Kampf die Achtung vor dem Gegner sei. Die Achtung vor dem Gegner, wie geht das? Wie bewahrt man sich die Achtung vor dem Gegner, wenn man nur widerwärtige Abscheu fühlt oder nackte Angst?

Jedes Mal tauchen vor mir Bilder auf -  wie das einer wehrlosen Frau, die von zwei Militärpolizisten an ihren langen Haaren aus einer Blechtonne gezogen und mit den Gewehrkolben brutal zusammen geschlagen wird oder-
 wie ich selber vollkommen ausraste in hilfloser Wut über die menschenverachtenden, zynischen Antworten eines Firmenchefs.  Sprachlos geworden hole ich mit lautem Räuspern den dicken Patzen Wut aus meiner tiefsten Tiefe und spucke ihn auf seinen schön polierten Mahagonitisch.
Ich weiß nicht, wie das geht: Achtung vor dem Gegner! Aber ich weiß, dass Gandhi auch  solche Gegner meint, wie sie in meiner Erinnerung auftauchen.
Dass meine fast zwanghafte Auseinandersetzung mit der „ Achtung vor dem Gegner“  etwas mit meiner Kindheit zu tun haben könnte, kam mir damals überhaupt nicht in den Sinn. Dabei hatte ich doch von Kindesbeinen an geübt, wie man einen Gegner durch Verachtung strafen kann. Ganz unfreiwillig hatte ich entdeckt, wie ich meinen ehemals geliebten Volksschullehrer bestrafen konnte. Die Straftechnik ergab sich aus einer psychosomatischen Reaktion:  Ich war vor Entsetzen erstarrt, als er meinem Bruder und seinem Freund befahl, vor der ganzen Klasse die Hosen auszuziehen und sich auf die erste Bank zu legen, während er den Riemen aus seiner Hose zog. Dann forderte er die Klasse auf  laut zu zählen. Zehn Schläge für jeden. Und mit jedem Schlag wuchs mein Grauen, denn was sich im Gesicht meines  Lehrers breit machte, ging über mein Entsetzen hinaus: Es gefiel ihm! Ja, das Schlagen oder die Schmerzensschreie bereiteten ihm sichtlich Vergnügen.
Daran starb meine erste große Liebe und ich erstarrte. In den darauffolgenden Stunden konnte ich nicht antworten und an den kommenden Tagen entdeckte ich, dass ich, bis dahin eindeutig seine Lieblingsschülerin, ihn damit bestrafen  konnte, dass ich ihn bockig schweigend anstarrte. Ich antwortete nicht mehr auf seine Fragen,  reagierte weder auf seine Drohungen noch auf sein Gebrüll. Ich sah wie ich ihn quälen konnte und entdeckte, ohne es wirklich zu begreifen, wie Verachtung den Gegner klein macht.

Der Lehrer wurde irgendwann versetzt aber mein Vater blieb. An ihm exerzierte ich von da an meine Entdeckung, wenn er meine Mutter mit seinen unerträglichen Schikanen terrorisierte. Ich ignorierte ihn so gut es ging, grüßte ihn nicht, schaute bewusst an ihm vorbei, antwortete auf keine seiner Fragen, verließ, wenn es irgendwie ging, jeden Raum, sobald er ihn betrat, übte gezielt Verachtung des Gegners,  obwohl ich damals - oder vielleicht weil ich noch kein einziges Wort für mein Tun hatte.  Aber meine Spucke auf dem Mahagonitisch des Firmenchefs zeigt, wie weit ich nach Jahren des Trainings in der Disziplin „ Verachtung des Gegners“ gekommen war.
Nun aber sitzt „die Achtung vor dem Gegner“ wie ein Stachel in mir. Ich bin viel unterwegs mit “meinem Hengst“, komme oft sehr spät zurück ins Dorf, bringe dann immer mein Pferd zurück auf die Koppel der Militärpolizei, schaue meistens bei Kranken im Ort vorbei, richte  noch die nötigsten Dinge her für den kommenden Tag. So auch in jener Nacht. Im winzigen Licht einer Kerosinfunzel suche ich zusammen, was ich für den morgigen Tag brauche.

Plötzlich ist da ein Geräusch hinter mir. Und noch bevor ich mich umdrehen kann, umklammern zwei Pranken meinen Hals. Drücken zu.  Fest. Ich hatte nach der Kerosinfunzel greifen wollen, als ich das Geräusch hörte. Die fiel zu Boden und ein riesiger Militärstiefel trat auf sie. Ich ringe nach Luft, winde mich sinnlos, möchte schreien, kein Laut, kein Atemzug, mein Kopf, meine Ohren platzen,  meine Sinne schwinden – kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, schießt es wie ein Blitz durch mein Hirn: Die Achtung vor dem Gegner!
Bevor ich ohnmächtig werde, nehme ich noch wahr, wie meine Hände zitternd, flattrig über die Pranken streicheln, die mich würgen und ---  wie der Militärpolizist mich loslässt.
Ich liege am Boden, kann nicht atmen, weiß nicht, wo ich bin. Mein Hals, was ist mit meinem Hals?   Ich ersticke. Es ist stockdunkel. Ich möchte aufstehen, aber jemand hält mich fest. Plötzlich sagt eine leise, dumpf gepresste Männerstimme direkt neben mir: Porque? Porque has hecho esto? Warum? Warum hast du das getan?
Was?  Was habe ich getan?  Ich kann nicht reden. Mein Hals ist zu. Ich würge, ich kann den Speichel nicht schlucken, ringe nach Luft, bringe kein Wort heraus.
Ganz kurz blitzt vor meinem Gesicht eine Taschenlampe auf. Ich sehe eine Hand, eine Taschenlampe, mehr nicht. Ich weiß nicht wie lange ich schon da liege. Ich friere entsetzlich, wage aber nicht, mich zu rühren, versuche sogar mein Schlottern vor Angst und Kälte zu unterdrücken. Panik vor dem neben mir und Panik vor dem in mir: die Verletzungen im Hals drohen mich zu ersticken.
Langsam dämmert mir, was geschehen ist und dass es jeden Augenblick wieder passieren kann.  Der Mann ist ganz nahe. Aber er fragt immer wieder: Porque? Porque has hecho esto?
Er fragt mich, warum ich das getan habe. Allmählich begreife ich:  Er fragt nach dem Blitz in meinem Gehirn:  „die Achtung vor dem Gegner“, die meine Hände bewegte um seine zu streicheln. Wenn ich reden könnte, würde ich ihm sagen, dass nicht ich es war, die das getan hat. Es geschah durch mich.
Nachdem ich nichts sagen kann und mich nicht zu rühren getraue, beginnt er zu reden: „Du, du hast über meine Hand gestreichelt. Warum hast du das gemacht? Das hat noch keine, keine einzige Frau getan.“
Er redet und ich friere, aber je länger er redet, umso mehr verschwindet meine Angst. Mein Hals ist so geschwollen ,dass ich immer wieder meine, doch noch zu ersticken. Er redet mit leiser, heiserer Stimme von seiner Kindheit. Ich verstehe nicht alles. Irgendwann habe ich den Eindruck, dass er weint.
Nach qualvoll endloser Zeit höre ich Schritte. Er packt meinen Arm. „Hör gut zu! Zu niemand ein Wort! Du zeigst mich nicht an! Dafür lass ich die Weiber in Ruh!“
Die Schritte sind verhallt. Er steht auf und geht, der Comandante.

Schlotternd rapple ich mich hoch, finde Gott sei Dank eine Kerze und Zünder, suche nach einem abschwellenden Medikament, wickle ein Dreieckstuch mit Salbe um meinen Hals und schleppe mich todmüde und halb erfroren zu meinem Zimmer, verkrieche mich in meinen Schlafsack und weiß, dass ich gerettet bin:
Die Achtung vor dem Gegner hat mich gerettet, obwohl ich gar nicht richtig begriffen habe, wie das geht oder was da vor sich ging in jenem Augenblick, als der „Blitz eines Gebetes“ den Würgegriff löste. Was für eine Kraft ist das, die meine Hände bewegte?
Keine andere Kraft hätte mich retten können, kein Selbstverteidigungstrick, erst recht keine Gewalt. Und wenn ein einziger halbverstandener Satz aus Gandhis Lehre mehr bewirkt als ich mir überhaupt vorstellen kann, wozu dann mit der Waffe kämpfen?
Meine Augen fallen mir zu in der Gewissheit, dass ich von nun an geborgen bin in dieser Kraft und vor allem: dass keine andere Kraft unser beider Schicksal hätte wenden können.  Denn zutiefst in mir weiß ich, dass nicht nur ich gerettet worden bin in dieser Nacht.
Nelly Sachs sagt da zum Abschluss ihres Gedichts:“ Und alle, die Gott verschlafen haben, wachen hinter den stürzenden Mauern zu ihm auf.“
Eine Woche lang war ich sehr krank. Ich hatte hohes Fieber, hustete und mein Hals wollte nicht abschwellen. Die Würgemale waren noch viel länger zu sehen. Und obwohl ich sie verdeckte, hatte ich immer den Eindruck, dass alle Menschen um mich herum wussten, was geschehen war.
So lange ich dort war, hielt sich der Comandante an sein Versprechen. An meinen Teil hielt ich mich bis  vor wenigen Jahren, denn meine Kehle schnürte sich augenblicklich zu, wenn ich an das Ereignis dachte. Auch ohne daran zu denken, passierte es  mir häufig, dass ich plötzlich nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen konnte. Und noch immer erzähle ich nicht gerne davon und wenn ich es tue, nur um zu bezeugen, dass Gewaltfreiheit die innere Auseinandersetzung braucht mit dem, was kaum zu begreifen und dennoch viel wirksamer ist als alle Gewalt.
Inzwischen sind mehr als vierzig Jahre vergangen und ich bin noch immer am Üben, von Begegnung zu Begegnung. Vor allem dann, wenn ich diese am liebsten vermeiden würde, wie die mit den martialisch aufgetakelten Burschen in ihren Springerstiefeln, die mir fast jede Nacht entgegenkamen auf meinem Heimweg. Schon das Dröhnen ihrer Stiefel machte mir Angst. Sobald ich sie sah oder hörte, wechselte ich  die Straßenseite.

Eigentlich kenne ich keinen einzigen solchen Typen, weiß nichts von ihrem Leben, weiß nicht einmal ob die links oder rechts oder irgendwas Politisches sind, nehme aber von vornherein an, dass sie gewalttätig sind. Zumindest verbal, so laut und derb wie die sich gebärden. Skinheads, Rechtsradikale, Gesindel jedenfalls. Doch ich kenne keinen einzigen.
Ganz fest nehme ich mir vor, die Straßenseite nicht mehr zu wechseln. Es dauert Wochen. Denn jedes Mal, wenn ich es versuchen möchte, kommt mir gerade diese Gruppe noch lauter, martialischer, besoffener vor als die vorige. Lieber doch erst morgen.
Endlich, nach Wochen gelingt es mir geradeaus weiter zu gehen. Sie machen Platz, lassen mich vorbei ohne mich zu anzurempeln, ohne mich zu beschimpfen. Wie ganz normale Leute. Wahrscheinlich sind sie das ja, wollen nur nicht so aussehen.

Viele Wochen lang übe ich: Menschen sind sie, einfach nur Menschen wie ich. Nicht einmal Gegner, nur Gegenüber. Ihnen gebührt meine Achtung wie allen anderen Menschen auch. Einige müssen mich schon kennen, denn eines Nachts marschiere ich durch ein Spalier und wir grüßen einander. Gerne würde ich stehen bleiben und ein Gespräch beginnen, aber dafür reicht mein Mut noch nicht.
Aber die Übung hat mich vorbereitet für einen anderen Augenblick: Ich stehe am helllichten Tag an einer Bushaltestelle und beobachte eine Gruppe junger Männer, die heftig streiten. Keine Ahnung in welcher Sprache, aber das Gewaltpotential steigt hörbar bei jedem Wort. Da sehe ich ein Messer aufblitzen, Blut spritzt von der Hand eines Burschen, der offensichtlich versuchte, dem anderen das Messer zu entreißen. Zugleich sehe ich, dass ein Bus kommt. Es ist nur eine Station bis zur Unfallchirurgie. Blitzschnell bin ich mitten in der Gruppe, packe den Blutenden am Arm und ziehe ihn zum Bus. Er folgt brav wie ein Kind. Dabei bin ich viel kleiner, rund und alt, keine beeindruckende Erscheinung, aber keiner hindert mich. Nur den Buschauffeur muss ich anbrüllen, dass er endlich fahren soll, anstatt mir zu erklären, dass er nicht die Rettung sei.
Während ich im WC der Unfallambulanz das Blut des jungen Mannes aus meinem Pullover spüle, wird mir erst klar, was ich da getan habe und auch, dass ich es niemals getan hätte ohne die wochenlange Übung mit meinen martialischen Nachtwächtern.

Gandhi sei Dank!

Das Sommermärchen in Potsdam

Es war das berühmte Sommermärchen. In Deutschland fand die Fußball-WM 2006 statt. Ich bin kein ausgesprochener Fußballfan, hatte aber einige Spiele mit Interesse mitverfolgt. Als Deutschland gegen Italien im Halbfinale stand, war ich gerade bei meiner Tante in Potsdam zu Besuch und hatte eigentlich vor, wenn ich schon mal dort wäre, nach Berlin auf die Fanmeile zu fahren. Aber meine Tante meinte, in Potsdam gäbe es auch eine schöne Fanmeile, da könne ich sogar zu Fuß hingehen. So landete ich am Potsdamer Brandenburger Tor inmitten von einem kleinen Trupp von Nachzüglern, die aus Sicherheitsgründen erst mit ca. 10-minütiger Verspätung auf den gut gefüllten Platz gelassen wurden.

Die Stimmung war gut, und ich genoss das Gemeinschaftsgefühl auf dem Platz. Nur aus einer Ecke am Rand schallten hin und wieder unschöne Parolen. Einmal habe ich dagegen angebrüllt. Ich hatte mir angewöhnt, während der Live-Übertragungen zu beten, wenn ein Spieler sich verletzte, anstatt den unheilprohezeihenden Kommentatoren zu zuhören. Als auf der Leinwand gezeigt wurde, wie ein Italiener verletzt vom Platz getragen wurde, hörte ich bei uns auf dem Platz die boshafte Schadenfreude: „Hub-Hub-Hubschraubereinsatz". Da habe ich laut „Nein" gebrüllt. Da die Stimmung insgesamt ziemlich emotional war, wurde dieser Gefühlsausbruch meinerseits von den Umstehenden als normal eingestuft und sogar anerkennend zur Kenntnis genommen, was ein wenig grotesk war.

Am Ende blieb das große Feiern ja leider aus, weil Italien die Partie für sich entschieden hatte. Der Platz leerte sich allmählich. Die meisten waren friedlich und strömten dem Ausgang zu. Aber in einer Ecke formierten sich ein paar wütende Hass-Parolen-Brüller. Ich wollte gehen, stellte mich dann aber doch erst an einen der aufgestellten Biertische, um ein paar Augenblicke zu beten. Das Gebet gab mir die Gewissheit, dass Liebe mächtiger ist als Hass. Daraufhin verließ ich den Platz und schlenderte durch die Brandenburger Straße, eine lange Fußgängerzone. Irgendwo hinter mir hörte ich die aggressive Fangruppe, während vor mir auf der linken Seite ein italienisches Restaurant auftauchte. Dort feierte man natürlich den Sieg, ein paar junge Italiener standen draußen; vielleicht waren es 5 oder 6, ich kann es aber nicht mehr sicher sagen.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was mich dazu veranlasste, langsamer zu gehen, dann muss ich zugeben, dass es tatsächlich der Wunsch war dazwischen zu bleiben, um verhindern/ eingreifen zu können. Das klingt ziemlich idiotisch, war aber so. Jedenfalls überholte mich der deutsche Fanblock (ich weiß nicht, wie viele es waren, aber sie waren mehr als die Italiener), so dass ich genau hinter ihnen war, als es passierte. Erstes Anpöbeln durch die Deutschen. Die Italiener waren zurückhaltender; ich weiß nicht, ob sie etwas erwiederten. Einer aus der deutschen Gruppe schüttete den Inhalt eines Plastikbechers in Richtung der italienischen Gruppe, und dann gingen die beiden Gruppen aufeinander los. Dann ging alles irgendwie sehr schnell. Ich stand auf einmal mit erhobenen, ausgebreiteten Armen mittendrin und schaute meine Landsleuten in die Augen, die Italiener im Rücken. In dem Augenblick hatte ich gar keine Angst. Nur das Gefühl: nein, das darf nicht sein. Ich habe aber auch keinen Hass gespürt, und auch keine Verachtung. Ich glaube, das war wichtig. Einer wollte an mir vorbei, er war ungefähr so groß wie ich, vielleicht auch etwas kleiner, aber stämmig. Ich habe mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn gelehnt, die Hände ausgestreckt auf seinem Brustkorb abgestützt. Mit einem zweiten Angreifer habe ich es genauso gemacht. Und dann gingen sie weiter. Sie gingen einfach weiter. Ließen die Italiener und mich dort einfach stehen. Ich war dann recht verdattert. Keine Ahnung, was die Italiener über die Situation gedacht haben, denn ich habe mit ihnen kein einziges Wort gewechselt, bin dann auch einfach gegangen.

Einen Block weiter standen Polizisten. Während die Schlachtenbummler rechts um die Ecke bogen, ging ich links zu den Polizisten und sagte, sie sollten doch diese Gruppe mal im Auge behalten, und ich sagte allen Ernstes, dass ich gerade eine Prügelei verhindert hätte. Ich kam mir dann reichlich blöd vor... und auf einmal war ich mir meiner auch gar nicht mehr so sicher, bekam Angst, jemandem aus dieser Gruppe nochmal zu begegnen. Schließlich war ich als Frau alleine unterwegs, es war schon dunkel, und außerdem hatte ich die gerade an die Polizei "verpfiffen"... Ich sah also zu, dass ich auf dem schnellsten Weg nach Hause zu meiner Tante kam.

Rückblickend bin ich einfach sehr dankbar für diese Erfahrung. Ich versuche, mir in dieser ganzen Angelegenheit nicht heroisch vorzukommen, denn ich bin sicher: ohne Gebet und das Vertrauen auf die Gegenwart Gottes wäre diese Situation für mich hochgradig gefährlich gewesen, und aus mir selbst heraus hätte ich niemals tun können, was ich dort getan habe.

Montag

Jerusalem im Jahre 26 n.Chr.

Jerusalem im Jahre 26 n.Chr. Josephus Flavius berichtet von einem Ereignis, an dem „Tausende von Juden” beteiligt waren (Bell. II,9,171f). Es ging um die verpönten Bilder des „Gott-Kaisers” in Rom, die Pilatus nächtens nach Jerusalem hatte bringen lassen, um die Juden zu dessen Verehrung zu veranlassen:
„Die Juden erhoben sich gegen Pilatus in Caesarea, um ihn zu bitten, die Bilder aus Jerusalem zu entfernen [...] Da Pilatus sich weigerte, lagerten sie sich um sein Haus und blieben dort fünf Tage und fünf Nächte. Am sechsten Tag begab sich Pilatus vor sein Tribunal im großen Stadion und rief das Volk unter dem Vorwand zusammen, auf sein Begehren antworten zu wollen; den bewaffneten Soldaten gab er den Befehl, die Juden zu umzingeln. Als die Juden sahen, wie die Soldaten sie mit einem dreifachen Ring umgaben, blieben sie vor diesem unerwarteten Schauspiel stumm. Pilatus, nachdem er ihnen erklärt hatte, er wolle sie töten lassen, falls sie das Bildnis des Kaisers nicht anerkennen würden, gab den Soldaten das Zeichen, ihre Schwerter zu ziehen. Doch die Juden warfen sich, wie auf einen gemeinsamen Befehl, auf die Erde und boten ihren Nacken dar, alle bereit, lieber zu sterben, als das Gesetz zu verletzen. Von diesem religiösen Eifer überwältigt [wörtlich: Das Lautere der Gottesfurcht überbewundernd] , gab Pilatus den Befehl, die Bilder aus Jerusalem zu entfernen.”

Falls Jesus von Nazareth nicht selbst dabei war, so hat er doch mit Sicherheit davon gewusst. Seine Seligpreisungen und die Worte zur Feindesliebe dürften davon beeinflusst sein. (Martin Arnold)

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Tusculum, 4. Jahrhundert v.Chr.

Tusculum, Rom, 4. Jahrhundert v.Chr. Krieg gegen Tusculum, Camillus solle ihn führen, dies beschloss der römische Senat, denn obwohl Tusculum mit Rom verbündet war, hatten Tusculaner mit Erlaubnis ihres Staates zusammen mit den Volskern gegen Rom gekämpft. Titus Livius berichtet davon in seiner Römischen Geschichte Seit der Gründung der Stadt (Buch VI, 25f). Unabhängig von der Frage, wie zuverlässig der Geschichtsschreiber hier erzählt,  können wir das Geschilderte einschließlich der ungewöhnlichen Fortsetzung zum Anlass für weitergehende Überlegungen nehmen. Camillus lässt das römische Heer gegen Tusculum ausrücken, ein Lager aufschlagen – und findet Tusculaner draußen auf den Feldern arbeiten und das Stadttor offen. In Scharen gehen Tusculaner zivil gekleidet den Bewaffneten furchtlos entgegen und bringen den Römern Lebensmittel ins Lager. Camillus vergewissert sich in der Stadt, dass dort ebenso beständiger und ruhiger Friede und normales Treiben herrscht wie vor dem Tor, die Haustüren sind offen. „Entwaffnet durch diese Gelassenheit der Feinde“ (Victus igitur patientia hostium) leitet Camillus das Ende des geplanten Krieges mit den Worten ein: „Tusculaner, ihr habt die wahren Waffen und die wahren Kräfte gefunden, mit denen ihr euer Eigentum vor dem Zorn der Römer schützen werdet.“ Er schickt sie nach Rom, sie sagen dem Senat u.a.: „Wir danken euren Feldherrn sowohl als euren Heeren, dass sie [...] wo kein Feind war, auch keinen finden wollten. [...] Soll uns die Übermacht eurer Waffen fühlbar werden, so wollen wir sie wehrlos fühlen.“ Rom zieht die Soldaten ab.
Durch patientia haben die Feinde den Feldherrn besiegt. Der Geschichtsschreiber lässt den als tugendhaft und vorbildlich dargestellten Feldherrn patientia als wahre Waffe und wahre Kräfte zum Schutz vor Krieg bezeichnen.
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Dramatik in Birmingham

  Mehrere hundert "Neger" von Birmingham hatten beschlossen, sich zu einer Gebetsversammlung in der Nähe des Stadtgefängnisses zu versammeln. Sie trafen sich an der New Pilgrim Baptist Church und setzten sich geordnet in Marsch. "Bull" Connor ließ Polizeihunde holen und Wasserwerfer auffahren. Als die Marschierenden sich der Grenze zwischen dem weißen und dem schwarzen Bezirk näherten, befahl ihnen Connor umzukehren. Reverend Charles Billups, der den Zug anführte, weigerte sich höflich. "Bull" Connor kam in Wut, drehte sich zu seinen Männern um und brüllte:
  "Verdammt! Wasser frei!"
  Was in den nächsten dreißig Sekunden geschah, gehört zu den phantastischsten Ereignissen von Birmingham. "Bull" Connors Leute standen den Marschierenden gegenüber, die mörderischen Schläuche zum Einsatz bereit. Die Demonstranten starrten unverwandt zurück, furcht- und regungslos; viele von ihnen knieten. Langsam erhoben sich die Neger und begannen vorwärts zu gehen. Connors Leute wichen wie gebannt zurück, die Schläuche hingen schlaff in ihren Händen, während Hunderte von Negern vorbeizogen und ungehindert ihre geplante Gebetsversammlung abhielten.



(Quelle: Gernot Jochheim, Die Gewaltfreie Aktion, Hamburg 1984, S.314)