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Freitag

Norwegen 1942: ”Ihr Lehrer habt mir alles verdorben!”

Vom Widerstand norwegischer Lehrer gegen die Naziherrschaft 1940 - 1943

Norwegen wurde im April 1940 von den Deutschen besetzt. Die Deutschen ernannten den pro-deutschen Norweger Vidkun Quisling zum neuen Regierungschef. Als die Deutschen die Gesetze nach NS-Grundsätzen umformen wollten, traten sämtliche Mitglieder des Obersten Gerichtshofes zurück. Eine Untergrundzeitung wurde in den fünf Jahren der deutschen Besatzung aufrechterhalten.
Im Februar 1942 machte Quisling den Versuch, einen korporativen Staat nach dem Muster Mussolinis zu gründen. Er begann bei der Lehrerschaft. Nach Aufhebung der ehemaligen Lehrerorganisation wurde eine neue mit dem Chef der Quislingschen Geheimpolizei an der Spitze gegründet.

Eine geheime Lehrerorganisation schlug den Lehrern vor, sich in vier Punkten zu widersetzen.
Am 20. Februar 1942 sandten etwa 9000 der 12000 norwegischen Lehrer eine handschriftliche Erklärung an das Unterrichtsministerium mit folgendem Wortlaut: "Ich erkläre, dass ich die Jugend Norwegens nicht nach den Richtlinien der Nasjonal Samling unterrichten kann, da ich dies mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Die Mitgliedschaft in dieser Organisation würde mich zwingen, auch andere Handlungen zu begehen, die im Widerspruch zu den Pflichten meines Berufes stehen. Ich sehe mich daher gezwungen zu erklären, dass es mir nicht möglich ist, mich als Mitglied der neuen Lehrerorganisation zu betrachten."

Am 25. Februar gab die Regierung Quisling bekannt, dass die Proteste der Lehrer als offizielle Amtsniederlegung angesehen und dass die Lehrer, wenn sie darauf beharrten, entlassen würden; das Unterrichtsministerium schloss unter dem Vorwand der Kohlenknappheit alle Schulen. Aus allen Teilen des Landes wurde daraufhin Heizmaterial angeboten, um den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten. Die offiziellen Zeitungen erwähnten nichts von dem Widerstand der Lehrer, aber die "Kohlenferien" verbreiteten die Nachricht überall. Das Unterrichtsministerium setzte eine Frist bis zum 15. März: Lehrern, die sich danach den Anordnungen der Regierung widersetzen würden, wurde mit dem Verlust ihrer Anstellung, ihres Gehaltes und ihrer Pension gedroht. Zehntausende, nahezu zehn Prozent aller Eltern Norwegens, protestieren dagegen schriftlich bei der Regierung.

Die Lehrer blieben hart. Nicht einer gab nach. Ab dem 20. März wurden Hunderte von Lehrern willkürlich herausgegriffen und verhaftet. Bei den Ostergottesdiensten verurteilten die Geistlichen diese Verhaftungen.
Die Lehrer wurden in ein Konzentrationslager nach Grini gebracht. Von einer nicht bekannt gegebenen Quelle - nicht von der Regierung - erhielten deren Familien den Gegenwert ihrer Gehälter für die ganze Dauer ihrer Internierung. Im Lager erließ die Regierung ein Ultimatum an die gefangenen Lehrer, aber nur drei lenkten ein. Die 687 Lehrer wurden in Viehwagen in ein anderes Konzentrationslager, etwa 200 Kilometer von Oslo entfernt, gebracht. Auf den Bahnhöfen versammelten sich die Kinder und sangen für sie bei der Durchfahrt des Zuges Lieder.
Im neuen Lager wurden sie zu noch härterer Arbeit unter extremen Bedingungen und Schikanen und minimalster Ernährung gezwungen. Nach zwei Tagen wurden 76 der älteren Lehrer zwischen 55 und 59 Jahren von den Lagerbeamten befragt, aber keiner gab nach.

An den meisten Orten Norwegens ließ die Regierung die Schulen am 8. April wieder öffnen. Die nicht inhaftierten Lehrer, die sich an diesem Tag zum Dienst meldeten, erklärten öffentlich, dass sie der neuen Lehrerorganisation von Quisling nicht angehörten und sprachen auch mit ihren Schülern über ihr Gewissen, vom Geiste der Wahrheit und von der Verantwortung, die sie trügen. Ein starkes Solidaritätsgefühl verband die gesamte Lehrerschaft.
Nach Tagen weiterer Einschüchterungsmaßnahmen im Lager fragte die Lagerleitung jeden einzelnen der Lehrer, ob er einen Widerruf des Protestschreibens unterschreiben würde. Von 637 Lehrern widerriefen 32. So wurden Demütigungen, Foltergymnastik und die Hungerrationen fortgesetzt. Auch verbreiteten die Behörden drohende Gerüchte, was mit den Lehrern bei weiterer Weigerung geschehen werde. Dennoch gaben die Frauen der Lehrer zu verstehen, dass sie ein Nachgeben ihrer Ehemänner nicht wünschten.

Erneut wurden die Lehrer weiter verfrachtet und in Kirkenes der Wehrmacht übergeben Diese zwang sie zu pausenloser Schwerstarbeit im Hafen. Ein Lehrer starb durch die Strapazen.
Die Deportation der Lehrer nach Kirkenes verhärtete die Stimmung und den Widerstandswillen der übrigen Bevölkerung Norwegens. Als Quisling am 22. März mit einer Gruppe von Lehrern in einer kleinen Stadt sprach, erging er sich in Drohungen, Ausfällen und Wutausbrüchen. Er schloss mit den Worten: "Ihr Lehrer habt mir alles verdorben!", und ließ sie verhaften. Am folgenden Tag begaben sich einige Lehrer, die bei der Unterredung nicht zugegen gewesen waren, zum Amtsgebäude und baten darum, mit den anderen gefangen gesetzt zu werden.
Ende August wurden 50 erkrankte Lehrer nach Hause gesandt. Am 16. September kehrte eine zweite Gruppe von rund 100 Männern aus dem Lager zurück. Am 4. November folgten die übrigen etwa 400 Lehrer nach acht Monaten härtester Zwangsarbeit. Man gestattete ihnen, ihre Lehrtätigkeit auszuüben, ohne dass sie ihre Grundsätze widerrufen mussten.
Über die Formen, die der Widerstand annahm, schrieb später einer der Führer, Diderich Lund, dass der wirtschaftliche Widerstand Norwegens völlig zusammenbrach. Sabotage war nur in geringem Masse wirksam, und die Geheimtätigkeit war ebenfalls nicht so wirksam wie die stolze, gerade Offenheit und das Verbleiben bei der Wahrheit. Diejenigen, die in diesem Sinne Widerstand leisteten, wurden - so Lund - ,’von einem eigenartigen Glücksgefühl erfüllt, selbst unter harten und schweren Bedingungen [...] (aus) unerschütterliche(r) Überzeugung des Kämpfens für eine gute Sache ...’

Wien 1945: Russische Soldaten verhalten sich menschlich.

 Wien war bombardiert worden, der Krieg verloren, die Russen marschierten ein. Und sie hatten das Recht des Siegers, das Recht, sich alles zu nehmen, nicht nur Hab und Gut, auch Frauen. Sie gingen von Haus zu Haus. Auf Geheiß meines Vaters gingen meine Mutter und die anderen Frauen im Haus in den Keller. Er selbst schloss die Haustür nicht ab. Wie bei den anderen Häusern stießen die Soldaten mit den Gewehrkolben gegen die Tür, wohl in der Erwartung, sie auf diese Weise öffnen zu müssen. Mein Vater jedoch erwartete sie und öffnete die Tür. Er hatte kein Russisch gelernt. Die Gewehrläufe, die sich sofort gegen ihn richteten, schob er langsam zur Seite und lud die Männer mit einer Geste ein, einzutreten. Das war für die russische Kampftruppe offenbar eine völlig neue Erfahrung. Sie traten ein, vermuteten jedoch zunächst eine Falle. Mit vorgehaltenem Gewehr gingen sie in alle Zimmer. Mein Vater lud sie ein, sich zu setzen. Das taten sie, als sie merkten, dass sie nicht bedroht wurden. Dann holte er die Frauen aus dem Keller und alle saßen mit den Männern zusammen. Die Soldaten taten niemandem etwas zu Leide. Als sie gingen, blieb einer von ihnen noch an einer Ikone, die bei uns an der Wand hing, stehen. Er sagte: „Ja Chrestianin“ das heißt auf Russisch: Ich bin Christ.

Später kamen noch weitere Soldaten zu uns. Da gab es teilweise sehr schwierige Situationen.
So schützte mein Vater die bedrohten Frauen einerseits, andererseits war er bemüht, die Soldaten aus ihrer Haltung der Feindschaft und Angst herauszuholen. Er war bereit, dafür sein Leben einzusetzen.

Donnerstag

Unverbesserlich christlich

Am Abend um zehn (dies wurde vor Oktober 1950 geschrieben, als er seine Arbeit als Grubenarbeiter wieder aufgab) nimmt ein teilweise kahler, recht dunkelhäutiger, athletisch aussehender Franzose in einem Overall, einundvierzig Jahre alt, seine Arbeit in einer belgischen Kohlengrube in Quaregnon auf. Er wird täglich außer sonntags acht Stunden unter Tage arbeiten. An den Sonntagen singt, predigt und betet er in seiner Kirche. Er leitet Gesprächsgruppen, ermutigt ehemalige Alkoholiker und lehrt Jugendliche zusammenarbeiten. Sein Zeitplan verlangt fast übermenschliche Kräfte.

Philippe Vernier ist vielleicht nicht von dieser Welt. Aber sicherlich ist er in ihr. Er ist so tief mit ihr verbunden, dass man mit Sicherheit sagen kann: Kaum jemals, wenn überhaupt, hat ein Mensch solche Erfahrungen gemacht und ist aus diesen Prüfungen mit einem reicheren Geist und einem stärkeren Körper hervorgegangen.
Er ist ein Mann, dessen Nest der Himmel ist. Dort liegt seine Sicherheit und nicht auf dem Boden, kuschelig warm zwischen beschützenden Zweigen und Gräsern, umgeben von Distelwolle. Wie Homers Seevogel „freut er sich seiner Schwingen“.

Wozu, so fragt er mit dem heiligen Franziskus, sind die Diener Gottes auf der Erde da, wenn nicht dazu „die Herzen der Menschen zu erheben und sie zur himmlischen Freude einzuladen?“
Das Recht darauf hat er sich verdient. 1933-1935 verbrachte er etwa zwei Jahre in Einzelhaft, weil er einer Methode treu war, die sich vollständig von der des Tötens unterschied. Während er in der Einzelzelle saß, nahm er die Gewohnheit an, seine Meditationen aufzuschreiben. Es bedurfte Jahre später großer Überzeugungskraft, ihn dazu zu bringen, dass er ihrer Veröffentlichung zustimmte. In einer dieser Meditationen stellt er Überlegungen zu zwei Arten von Mut an: „eine, die schlägt, und eine, die erträgt und liebt … Die zweite nimmt an und fängt den Schlag auf, anstatt ihn zurückzugeben.“ Dieser überlegene Mut, mit dessen Hilfe ein Mensch Tag für Tag ohne Zeugen und ohne Lob durchhalten kann, „verwandelt den Sturzbach des eigenen Wesens mit seinen Überschwemmungen und Dürren in einen schiffbaren Fluss“ (zitiert nach: „With the Master“ von Philippe Vernier, Fellowship Press, 21 Audubon St., New York).

Philipps Leben war anscheinend immer so gewesen. Kein französischer Kerker konnte sein Singen zum Schweigen bringen.
Er gestand mir viele Jahre später, dass er während dieses Martyriums „Wunder und Freude erlebt hatte. Gott war mir so nah und so real, dass mich das manchmal fast überwältigt.“ Als er einmal in hochgemuter Stimmung zu singen begann, ärgerte das einen Wächter so sehr, dass er den jungen Mann acht Tage lang an einer besonderen Strafzelle isolierte. Dort gab es weder einen Hocker noch eine Pritsche, nur eine Steinbank. Die Hälfte der Zeit bekam er nur Wasser und Brot. Aber dieses Erlebnis war weit davon entfernt, ihn zu ducken, es half ihm im Gegenteil dazu, sich zu erheben. Diese acht Tage, sagte er (und ich werde niemals vergessen, wie er seine Arme ausbreitete, als er sich daran erinnerte, wie sein Geist befreit wurde) – diese acht Tage waren „ein Lied in der Tiefe meines Herzens. Ich empfand das Glück eines Kindes, das gerettet worden war. Mir war, als ob ich auf einem Meer gewesen wäre, alle wären ertrunken und dann ergriffen mich Gottes Arme und hoben mich in die Höhe!“

Nach der Zeit in Einzelhaft verbrachte er weitere fünf Monate „mit den anderen“ und arbeitete als Friseur. Einer seiner Mithäftlinge war ein junger Schwarzer, der im Gefängnis saß, weil er einem weißen Offizier ins Gesicht geschlagen hatte. Was Verniers Freundlichkeit für diesen bedeutete, wird durch das folgende Ereignis deutlich. Der Schwarze benahm sich eines Tages auffällig gewalttätig. so dass er erwarten konnte, mit besonderer Strenge bestraft zu werden. Er hoffte, dass er in der Nähe seines weißen Freundes eingesperrt würde. Diese Hoffnung erfüllte sich. In dieser Nacht hörte Vernier eine bekannte Stimme auf dem Korridor.
„Wie bist du denn hierher gekommen?“ rief er.
Der andere erklärte seine Strategie. Die beiden in ihren voneinander getrennten Zellen lachten gemeinsam.

Immer wieder erwies sich in dem Prozess, der zu seiner Verurteilung zu einer langen Haftstrafe führte, seine Anziehungskraft und seine Führungsstärke. Der Vater eines Elfjährigen erzählte, wie dieser junge Pastor, als er in Lille mit Benachteiligten arbeitete, seinem Sohn wie ein älterer Bruder gewesen sei. Der Junge starb an Meningitis. Wenn die Schmerzen für ihn unerträglich wurden, fragte er nach Vernier, weil der der Einzige war, der ihn beruhigen konnte. Vernier betrat dann den Krankenraum, ging zu seinem Bett, legte dem Jungen die Hand auf die Stirn und betete. Der Patient schlief dann ein, aber zuvor murmelte er erleichtert, „Danke, Philo, danke!“

Vernier liebt sein Heimatland wie nur wenige – und zwar auf eine Weise, die mit seinem Gewissen übereinstimmt. Es wäre für ihn eine Art Verrat, wenn er Waffen benutzte, um etwas so Kostbares zu verteidigen. Das kann natürlich ein Militärgericht nicht verstehen. Ein Gerichtspräsident, vor dessen Gericht er stand, weil er sich geweigert hatte, eine Militäruniform anzuziehen, argumentierte so: „Sie sprechen von der menschlichen Bruderschaft, aber könnten sie diese nicht besser predigen, wenn Sie nicht im Gefängnis wären?“
Vernier antwortete: „Predigen ist nicht das Einzige. Wenn Sie zugeben, dass es geistige Werte gibt, dann müssen Sie anerkennen, dass man Gott und der Menschheit auch mit rein geistigen Mitteln dienen kann. Dazu gehört auch das Gebet.“
„Aber auch Gebet ist nicht das Einzige“, antwortete der Präsident. „Es gibt auch Worte. Sie als Pastor haben eine Kanzel zur Verfügung, um die Gute Nachricht zu verbreiten.“
„Aber“, sage Vernier höflich, aber bestimmt, „wenn ich mit etwas beginne, das ich als Verrat ansehe, dann haben meine Worte keinen Wert mehr. Ich kann nur sprechen, wenn ich mein Verhalten und meinen Glauben in Übereinstimmung miteinander gebracht habe.“
Der Präsident erwiderte, dass wir Menschen nun einmal „nicht im Absoluten leben“.
„Wenn Christen dem zustimmen“, sagte Vernier, „dann verweigern sie die Grundlagen des Dienstes an Jesus Christus.“

Das war fünf oder sechs Wochen vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Als Europa zum zweiten Mal in Angst und Hass aufflammte, verließ Vernier, obwohl er nun Pastor einer Missionskirche bei den Grubenarbeitern in Belgien in der Nähe von Mons war, seine Freu und sein Kind und meldete sich sofort bei der Militärbehörde in Frankreich, um sich als christlicher Kriegsdienstverweigerer eintragen zu lassen.

Nachdem er vier Monaten im Gefängnis gewesen war, wurde er zu weiteren vier Jahren verurteilt. Aber zuvor legte er vor dem Militärgericht folgendes Zeugnis ab:
„Ich will mit meiner Haltung durchaus weder ein Urteil über irgendeinen von Ihnen noch über die, die kämpfen, ausdrücken. Nicht durch eine Theorie wird einer zum Christen, sondern durch die Integrität des Herzens, und ich weiß, dass viele Offiziere und Soldaten bessere Menschen sind als ich. Ich bin nur ein armer Sünder, voller Fehler und in vielerlei Hinsicht schlechter als sie. Aber ich glaube, dass es an diesem Tag und an diesem Ort meine Pflicht ist, klar und deutlich meine Überzeugung darzustellen. Sie sehen das vielleicht als eine rein intellektuelle Angelegenheit an, dass die Bibel den Krieg nicht heilig sprechen kann und dass es mir unmöglich ist, einen Menschen zu töten … Zu einigen Zeiten gab es in der Geschichte eine Art christlicher Offensive. Da wurden gewisse fest etablierte Theorien bekämpft. Es war z. B. einmal möglich, Christ zu sein und trotzdem Sklaven zu besitzen. Aber eines schönen Tages kämpfte eine christliche Offensive gegen diese Idee und triumphierte über sie. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Christen und die Menschen im Allgemeinen ihre Ansichten über den Krieg nicht ändern, sie zugrunde gehen werden. Ich gründe mich auf christliche Prinzipien….Trotz der Dunkelheit, in der wir uns befinden, trage ich eine sehr große Hoffnung in mir: Ich hoffe auf die Macht Gottes.“

Etwa drei Monate später sprengte eine explodierende Bombe die Tür des Gefängnisses. Vernier machte sich auf den Nachhauseweg. Sein Bruder war bei ihm. Ihre Reise verlief nicht besonders ruhig. Beide wurden zweimal zum Tode verurteilt: das erste Mal von der Landespolizei, die sie in eine Art Turm sperrte. Die Polizisten beschuldigten sie, zur 5. Kolonne zu gehören und schuld an der Niederlage zu sein. Aber da ihr Hauptmann nicht da war, durften sie sie nicht erschießen. Dann kamen die Deutschen und die Polizisten rannten weg. Die Männer im Turm vergaßen sie. Die beiden Brüder hatten vergeblich versucht, die Tür mit deinem Eimergriff aufzubrechen. Aus Verzweiflung waren sie dann eingeschlafen. Am nächsten Morgen kam ein Polizist und öffnete ihnen die Tür. Als er ihre Geschichte und ihre Gründe für die Kriegsdienstverweigerung gehört hatte, sagte er, sie hätten Recht. Dann umarmte er sie und ließ sie gehen.

Das zweite Todesurteil fällten die Deutschen, die sie gefangen nahmen, als sie ihrer Wege gehen wollten. Wieder hatten sie Glück. Auf dem langen Marsch flüsterte ihnen an einer Straßenbiegung ein alter Mann zu: „Lauft nach links, Jungs!“ Unbemerkt schlichen sie sich nach links aus der Reihe, liefen sehr schnell und versteckten sich 24 Stunden lang in einem Heuhaufen. Zwei Tage danach erreichten sie auf Seitenwegen Le Cambon in den Hügeln Frankreichs. Schließlich kehrte Philippe nach Quaregnon in Belgien zurück, wo seine Familie und seine Gemeinde waren.

Seine Frau Henriette war so heldenhaft und humorvoll wie er. Ihr drittes Kind, ein Junge, wurde fast wörtlich zwischen fallenden Bomben geboren – es waren unsere (amerikanische) Bomben. Eins unserer Kirchenmitglieder ging sie ein paar Tage später besuchen. Es war ein Oberst, der unter erheblicher Gefahr zum „Pfarrhaus“ vordrang. Er brachte als Zeichen der Anerkennung durch unsere Kirche Frau Vernier 150.000 $ in Francs. In seinem Brief vom 6. Februar 1945 stellt er seine Eindrücke dar:

„Nicht oft wird einem Menschen während seines Lebens Gelegenheit gegeben, ins Himmelreich eingetreten zu sein. Aber genau das empfand ich, als ich das Haus Vernier verließ … Als ich an die Tür klopfte, erschienen zwei Engel auf der Schwelle. Zwar hatten sie keine Flügel, aber die Kinder mit den strahlenden Augen, die mich begrüßten, gaben mir das Gefühl, dass ich vor der Himmelspforte stand und von zwei Cherubim hereingebeten wurde. Auf meine Frage antworteten Sie: ‚Papa ist nicht zu Hause’, dann gingen sie ihre Mutter holen. Als sie in den Flur trat, erkannte ich an der Güte in ihrem Gesicht, dass ich einer geheiligten Person gegenüberstand. Sie war höchst erfreut über eure Nachricht und die bescheidene Gabe. Vielleicht war es ebenso gut, dass ihr Mann zu diesem Zeitpunkt einen Gottesdienst in seiner Gemeinde abhielt, denn ich stelle ihn mir gerne weiter so vor, wie ihr ihn in eurem Brief beschrieben habt und wie er in den Beschreibungen der Menschen des Stadtteils erscheint – ja, sicherlich wie der heilige Franziskus. … Ich erfuhr, dass das Geld nicht in der Familie Vernier bleiben, sondern dass es dafür verwendet würde, die zu unterstützen, denen die Familie in allen diesen Jahren so aufopfernd gedient hatte. … Ich war neun Stunden in einem Eisenbahnwagen der Armee unterwegs gewesen und schließlich halb erfroren an meinem Bestimmungsort angekommen. Das waren die kältesten Stunden, die ich je erlebt hatte, aber die Wärme des Hauses, das ich betrat, machte mir klar, dass meine Leiden im Vergleich mit all den Leiden, denen diese Menschen in den letzten fünf Jahren unterworfen gewesen waren, keinerlei Bedeutung hatten.“

Nach dem Krieg war als ein Zeichen ihres Glaubens an das Leben Philippe und Henriette ein zweiter Sohn geboren worden. Die Jahre danach waren voller Arbeit, aber es gab keine Verwirrungen mehr. Ein Mitpastor gab einmal die folgende Beschreibung: „Philippe ist der Organisator, Leben und Seele einiger Ferienlager. Er ist ihr Athlet, Koch, Assistent und Pförtner, der unermüdliche Erzähler aufregender Geschichten, Autor von Theaterstücken und Schauspieler. Sie hätten ihn dabei sehen sollen, wie er den Chorgesang von hundert Jungen leitete. Er wiegte mit dem Klang seiner Flöte die Kinder in den Schlaf, bis er selbst einschlief.“

Diese Darstellung scheint zwar übertrieben, aber sie ist dennoch wahr. Nur dass Philippe ständig neue und dringendere Aufgaben übernimmt. Nachdem die deutsche Besetzung vorüber war, schrieb er, er wolle die Erfahrungen seines Lebens dazu verwenden, „einen weiteren Krieg unmöglich zu machen.“ Einige Jahre später schrieb er, dass er Fortschritte in dieser Richtung plante, indem er „versuchte, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jeder immer mehr etwas gibt und empfängt, anders als in einer klerikalen Organisation, in denen der Pastor die spirituellen Aktivitäten monopolisiert … Seit Anfang Oktober arbeite ich als Grubenarbeiter in einer Kohlengrube im Ort. Das tue ich teilweise, um mich besser in dieses Gemeindekonzept einzubringen, und teilweise auch, um in engeren Kontakt mit den Grubenarbeitern zu kommen, unter denen ich seit zehn Jahren lebe. Das gibt mir Gelegenheit zu wunderbaren Kontakten mit meinen neuen Kameraden: Belgiern, Italienern, Deutschen, Polen, Ungarn, Litauern und anderen. … Für gewöhnlich schlafe ich am Morgen und verrichte meine Arbeit für die Kirche nachmittags und abends.“

Niemand kann Philippe Vernier mit einem einzigen Satz zutreffend charakterisieren. Allerdings gelang das fast einem verärgerten Armeeoffizier. Zwar kann sein Freund die Tatsächlichkeit dieser Geschichte nicht beweisen, jedoch ist Vernier zu wahrheitsliebend, um sie zu leugnen. Es war etwa fünfzehn Jahre zuvor. Der Offizier hatte sein Bestes getan, diesen intelligenten, bescheidenen, vitalen, fröhlichen und freundlichen Gefangenen mit dem eisernen Willen dazu zu bringen, sich zu fügen. Die Armee hatte monatelang ohne Erfolg die alten Techniken bei ihm angewendet. Danach sollte dieser Offizier einen Schlussbericht anfertigen. Dahin, wo zu diesem Zweck in dem Formular Platz gelassen war, kritzelte er verzweifelt: „Unverbesserlich christlich.“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

„Es geht mir nicht um mich, aber ich denke an meine Frau und an meine Tochter…“

Genau dort wollen wir ansetzen. Wie schützt man am besten eine junge Frau oder Tochter vor einer Eroberungsarmee, die gerade triumphal durch die Stadt marschiert ist, wenn die Soldaten etwa eine Woche lang frei haben und mehr oder weniger tun, was sie wollen? Gibt es da denn überhaupt eine Möglichkeit?

Natürlich ist das ein großes Problem. Hunderttausende von Eltern mussten 1945 in Deutschland damit fertig werden. Eins war jedenfalls klar: Es war unmöglich, sie durch physische Kraft zu schützen. Manchmal konnte man sie dadurch schützen, dass man die Sieger bestach, aber das gab nur vorübergehend Sicherheit.
Die meisten Menschen mögen über den Schrecken dieser Tage nicht sprechen. Nur in zwei oder drei Fällen haben wir Einzelheiten darüber gehört, wie die Menschen mit dieser Situation fertig wurden.

l945 lebte Lotte Hoffman mit ihrer etwa sechzehnjährigen Tochter in ihrer halbzerstörten Wohnung in einem Vorort von Berlin. Russische Soldaten streiften überall herum. Einige vergewaltigten und töteten, viele plünderten. Plötzlich brachen sie auch in ihre Wohnung herein. Was konnte sie tun? Sie konnte nicht Russisch, aber sie hatte eine schöne Singstimme. In ihrer Verzweiflung bat sie im Stillen Gott um Hilfe. Daraus ergab sich ganz natürlich der nächste Schritt. Sie setzte sich ans Klavier und sang deutsche Volkslieder. Bald zeigten die Soldaten, die noch einige Augenblicke zuvor anscheinend nur drohen und schreien konnten, eine ganz andere Seite. Sie standen oder saßen um das Klavier herum und jeder war auf seine Weise damit beschäftigt, den Geist, der durch die Musik in ihr Herz eingetreten war, anzuerkennen.

Von da an saßen immer dann, wenn halbbetrunkene Soldaten in der Nähe waren, ein oder zwei russische Soldaten die ganze Nacht bewaffnet in Frau Hoffmanns Zimmer, um sicherzustellen, dass sie und ihre Tochter in Sicherheit waren.

Eine amerikanische Freundin, die 30 Jahre in Dresden gelebt hatte, überlebte die drei großen Luftangriffe auf die Stadt. Diese Luftangriffe kosteten wohl 300 000 andere Einwohner das Leben.
Bevor sie Dresden verlassen und in die Vereinigten Staaten zurückkehren konnte, lebte sie 14 Monate lang unter russischer Besatzung. Während dieser Zeit führte sie sorgfältig Buch. Einige der Ereignisse sind schrecklich und zeigen direkt, welche Grausamkeit der Krieg freisetzt. Andere beleuchten den uns gemeinsamen Boden, auf dem Menschen der unterschiedlichsten Nationen zusammen stehen. Hier sind einige ihrer Erfahrungen in ihrer eigenen lebendigen Erzählweise:
„Vom Tagesanbruch des 8. Mai (1945) an erschütterte Kanonendonner den Boden  so sehr, wie er seit den Bombenangriffen nicht erschüttert worden war. Das war Artilleriefeuer. Türen und Fenster hingen seit den Luftangriffen locker in den Rahmen und schepperten nun nach jedem Schlag bedrohlich. Überall standen Menschen und lauschten. Bleiche Gesichter sahen einander ungläubig an. Was für ein Wahnsinn, deutsche Jungen in dieser letzten Stunde der Katastrophe in den sicheren Tod zu schicken! Plötzlich hörte die Beschießung auf: Die Stadt Dresden oder eher das, was von ihr übrig geblieben war, hatte kapituliert. Bedingungslose Kapitulation an wen? Den Russen war das Privileg zugestanden worden, die Stadt als erste und allein einzunehmen. Eine Nachbarin klopfte an mein Fenster. Ihre Augen waren von Panik geweitet.

‚Sie kommen hierher’, keuchte sie, ‚mein Bruder hat sie gesehen! Was sollen wir nur tun?’
‚Tun? Na gar nichts’, antwortete ich mit, wie ich hoffte, fester Stimme, obwohl auch ich von Angst erfüllt war. ‚Denken Sie daran, wie viele Lügen beide Seiten während des Krieges übereinander verbreitet haben. Sie werden sehen, dass die Russen Menschen wie wir sind, jedenfalls werden sie uns nicht fressen.’
Sie wendete sich ab und schluchzte. Was konnten wir nun wirklich tun? … Das Beste hoffen und glauben.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Gewehrkolben schlug gegen die Haustür. Der alte Papa H, mein freundlicher Wirt, lief, um zu öffnen. Schroffe Stimmen im Hausflur. Ich sprang in die Höhe. Ein Soldat in russischer Uniform war in mein Zimmer eingedrungen. Eine Sekunde lang standen wir einander gegenüber und sahen uns an. Er war jung, blond, hatte blaue Augen, die dunkel vor Erregung waren. Was die wenigen Worte Russisch anging, die ich in den letzten Jahren gelernt hatte, nun, wahrscheinlich würde sie kein Russe jemals verstehen!!... Ich schluckte – lächelte: ‚Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, sie kennen zu lernen’. Ich streckte meine Hand aus, die er mit eisernem Griff fasste und herzlich schüttelte. Er betrachtete mich, das Zimmer und die Fotografien an der Wand. Mit einer unwillkürlichen Bewegung bekreuzigte er sich schnell vor dem Bild der Sixtinischen Madonna. Dann guckte er mürrisch, als wäre er dabei ertappt worden, dass er etwas Verbotenes tat.

‚Amerrika?’
Ich nickte. ‚Ja, Towarisch, wir Freunde.’ Da lachte er fröhlich und erzählte das Blaue vom Himmel, von dem ich nur ab und zu ein Wort verstand. Ohne weitere Umstände ließ er sich auf die Couch neben mir plumpsen – und sprang sofort wieder auf. Er starrte mich mit wildem Verdacht an. ‚Schto eto takoje?’ Was ist das?
Ich sah ihn ängstlich an und verstand nicht. ‚Was ist – was?’
‚Das!’ Er schrie jetzt und zeigte auf die Couch.
‚Couch – Bett – Divan …’ Was meinte er wohl?
Er zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Couch und sah mich dabei immerzu an. Allmählich veränderte sich sein Blick und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem sonnnengebräunten Gesicht aus. Dann ließ er sich wieder neben mich fallen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die weichen Kissen und dann fing er an auf und ab zu springen, auf und ab, und ich, deren Hand er hielt, sprang höflich neben ihm mit. Jetzt verstand ich. Er hatte bis dahin noch nie eine elastische Polsterung erlebt! Seine Neugier erwachte. Er ging durch das Zimmer, drehte den Wasserhahn überm Waschbecken an, wo ‚Wasser aus der Wand kam’, drückte auf die kleinen wunderbaren Knöpfe an zwei Lampen, die irgendwie ‚Licht von der Decke’ herabschickten. Und dann sah er meine kleine goldene Armbanduhr, die ich vergessen hatte wegzuräumen. In Russland gibt es keine Uhrenindustrie, keinen Schmuck – er würde dem Anblick der Uhr nicht widerstehen können. Er könnte zu Hause dafür ja eine ganze Ferienhütte kaufen … Er legte die Hände ineinander wie ein Kind, das um etwas bittet. Dann nahm er die Uhr und streichelte sie mit der rechten Hand, als streichelte er etwas Lebendiges, und sah mich an.

Wäre es nicht besser, etwas freiwillig herzugeben, als es vielleicht weggenommen zu bekommen? Sie bedeutete ihm so viel, so schrecklich viel. In einer plötzlichen Eingebung nickte ich. Er sagte nichts, aber das Glück in seinem harten jungen Gesicht war wirklich sehenswert. Und dann, als wollte er mir beweisen, dass er keinerlei Beute bei sich trug, knöpfte er die Manschetten seines Hemdes auf und schob die Ärmel hoch. Da war keine Uhr. (Später sah ich Soldaten stolz ganze Reihen von Uhren zur Schau stellen, diese kostbaren Schätze, die sie mit nach Hause nehmen würden.) Er drehte seine Taschen um. Sie waren leer und sauber. Er hatte sie offensichtlich noch nie benutzt. Dann musste ich meine Hände in seine Stiefel stecken. Außer einem Messer in einem Seitenfach war da nichts.
Draußen hörte man barsche Schreie und Türenknallen. Er sprang auf. Ein Klaps auf die Wange, ein flüchtiger Kuss auf meine Stirn, ein strahlendes Lächeln – und er lief aus dem Zimmer.“

Diese Freundin reagierte in den Krisentagen mit der nachdenklichen Höflichkeit, die ihr zum Reflex geworden war. Es war ein undramatisches Verhalten, ein Verhalten, das nicht improvisiert werden kann. Wir wollen sehen, wie sie die Geschichte weitererzählt.
„Wir sahen zu, wie die neuen Besatzer einzogen. Während die Männer sich äußerlich nicht viel veränderten – nur war hier und da eine neue Uniform zu sehen -, sie trugen außer Haus und im Haus ihre Militärmützen, ging mit allen Frauen eine interessante Metamorphose vor, auch mit den Soldatinnen. Es waren viele. Wahrscheinlich waren sie als schwer arbeitende Landarbeiterinnen aufgewachsen – Körperbau, Hände und Füße wiesen darauf hin – und hatten in der Armee ein Leben voller Gefahren und größter Entbehrungen geführt. Aber sie waren eben Frauen mit dem Instinkt von Frauen für das Schöne.

Sie kamen in Scharen, in offenen Lastwagen, mit mürrischen Gesichtern, Stupsnasen und vollbusig. Wenn sie Zivilistinnen waren trugen sie hohe Filzstiefel und weiße Kopftücher. Hier warfen sie erste Blicke auf Frauen des Landes, zu dessen Eroberung sie beigetragen hatten. Diese Frauen waren wie meine Freundinnen und ich gekleidet, sehr einfach, ja ärmlich. Für sie jedoch war diese ordentliche Sauberkeit sehr aufregend. Hatte man ihnen nicht erzählt, hier herrschten Armut und Elend, die noch viel größer als ihre eigenen waren? Wie waren dann diese hübschen Kleider möglich: keine Löcher, keine Flicken, keine Flecken? Und sie trugen Hüte oder kleidsame kleine Turbane aus hellem Stoff auf den Köpfen? Erstaunlich. Sie wurden nachdenklich, ärgerlich, neidisch. Manch eine erschreckte Deutsche kam in diesen ersten Wochen ohne Hut nach Hause, bis ihre Befreierinnen schließlich herausfanden, dass sie diese Kleider und Hüte, die sie begehrten, für das Geld kaufen konnten, das sie bekommen hatten, aber bisher noch nicht hatten ausgeben können. Von da an wurde jeder Laden überrannt und nach einer wilden Zeit von Nachfrage ohne Bezahlung einigten sich beide Seiten auf einen steten Handel.

Einerseits war es komisch und andererseits auch ein bisschen Mitleid erregend zu sehen, wie die kräftigen Frauen und Mädchen aus den Frisiersalons kamen: Aus ihren vernachlässigten und so lange Zeit unter Soldatenmützen oder Tüchern verborgenen Haare waren nun Locken geworden. An den Füßen, die bis dahin in Stiefeln gesteckt hatten, trugen sie nun hochhackige Pumps und sie waren in Seide und Spitzen gehüllt, die sie nie zuvor auch nur von Ferne gesehen hatten. Einige dieser Frauen waren regelrechte Schönheiten geworden.

Nie hat mich der Verlust von persönlichem Eigentum weniger geschmerzt als an diesem sonnigen Maimorgen. Mein erschrockener Wirt zog mich zum Küchenfenster und machte mir Zeichen, ich solle durch den zerbrochenen Fensterladen in den Garten sehen. Polnische „Fremdarbeiter“, die von den Russen befreit worden waren, hatten den kleinen Schuppen aufgebrochen, in dem Werkzeuge und meine beiden großen Überseekoffer aufbewahrt wurden. Diese hatten sie aufgeschlitzt. Die Frauen hatten sich auf die Abendkleider gestürzt und probierten sie unter Geschrei und entzücktem Lachen an. Nie habe ich glücklichere Gesichter gesehen als die der beiden, denen es gelungen war, ein schwarzes Chiffonkleid und ein taubenblaues Spitzenkleid über den Kopf zu ziehen. Mit ihren zerarbeiteten Händen glätteten und streichelten sie den feinen Soff über ihren Hüften. Die Bewunderung in den Augen ihrer nicht weniger entzückten Landsleute, die noch abgemagert und zerlumpt in ihren mit Schweißflecken übersäten alten Kleidern dastanden, war rührend.
Vielleicht hätte ich meine Kleider zurückbekommen können. Es hätte wahrscheinlich genügt, die jungen Leute in Englisch anzusprechen, denn die Polen besitzen die besten Umgangsformen der Welt. Aber das wollte ich nicht. Ich konnte ihnen ihr Vergnügen nicht verderben. Als sie gegangen waren, ging ich hinaus. Mein kostbares Leinen lag verstreut und unberührt auf dem Fußboden des Schuppens. Sie hatten nur die nutzlose Eleganz mitgenommen. Aber vielleicht war die ja gar nicht so nutzlos. Hatte sie nicht nach Jahren unsäglicher Entbehrungen einige Menschen glücklich gemacht?“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Lebenswert

Eines Abends lag Heinrich Grüber an einem Ort, wie er erbärmlicher auf der ganzen Erde nicht hätte sein können, bewusstlos in einer Reihe mit Leichnamen. Das geschah im Winter 1941 auf 42 im Konzentrationslager Dachau. Ein paar Stunden zuvor hatte er einen Herzanfall gehabt. Er konnte jederzeit in den Verbrennungsofen geworfen werden.

Ein Mitgefangener hatte jedoch etwas Besonderes an dem Verhalten dieses Leichnams bemerkt, das den Wächtern, die die Leichen inspiziert hatten, entgangen war. Die Augenlider hatten sich anscheinend bewegt. Sobald die Wächter außer Sichtweite waren, sah er genauer zu. Das Herz schlug noch. Schnell brachte er den schwer Kranken in die Krankenstation. Dort kam der Patient wieder zu Bewusstsein. Aber viele Tage lang zweifelte er daran, ob dieses Leben die Anstrengungen wert war. Trotz der Freundlichkeit der Menschen, die wie er zu Hitlers Opfern geworden waren und die ihn gesund pflegten, wurde er von einem Gefühl der Einsamkeit überwältigt. Würde er jemals seine Frau und seinen kleinen Sohn wiedersehen? Wahrscheinlich nicht. Die Kraft schien ihn ebenso schnell wieder zu verlassen, wie er sie zurückgewonnen hatte.

Dann wurde die geringe Hoffnung, die er inzwischen doch in sich genährt hatte, durch die Ankunft einer besonderen Kommission erschüttert. Es war eine Kommission von medizinischen Forschern und Offizieren der gefürchteten Schutzstaffel. Die SS-Leute hatten den Auftrag, die „überflüssigen Esser“ auszusondern und zu töten, d. h. die Gefangenen, die zu schwach zum Arbeiten waren.
Um Grüber vor dem Krematorium zu retten, versteckte der Mann, der ihn gepflegt hatte, ihn unter einem Bett in einer ungeheizten Baracke. Sein einziger Schutz gegen die Temperaturen unter Null waren eine abgetragene Jacke und ebensolche Hose, zwei dünne Decken und Holzschuhe.

Viele Jahre später erklärte Grüber uns fünf oder sechs Zuhörern in einer Westberliner Wohnung: „ Ich habe dieses Martyrium rein durch Gnade überlebt. Was mir in diesem Konzentrationslager widerfuhr, war ein Wunder, das Wunder von Nahrung ohne Brot. Tatsächlich gelang es meinen Freunden, etwas Brot in mein Versteck zu schmuggeln. Aber das, was ich aß, hätte nicht für mein Überleben gereicht. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist, dass mir eine Kraft von jenseits jeder physischen Kraft geschenkt wurde. Ich bezweifle, dass irgendein Tier das hätte überleben können, wozu ich befähigt wurde. Die Tatsache, dass ich jetzt hier bin, beweist mir, dass ein Mensch mit Gottes Hilfe fast alles überstehen kann.“

Worüber dachte Grüber nach, als er unter dem Bett lag und mit aller Kraft gegen den nagenden Hunger und die Kälte ankämpfte? Oft dachte er natürlich an die Ereignisse, die ihn in die gegenwärtige Situation gebracht hatten. Er war in erster Linie darum an diesem Ort, weil er einen recht guten Kampf gekämpft hatte, manchmal sogar erfolgreich, und zwar für Juden. Er war evangelischer Pastor. Berufskollegen waren zu lange blind für die Situation gewesen, aber er konnte sie nicht übersehen. Er war weit davon entfernt, den Antisemitismus zu tolerieren oder gar zu unterstützen, wie einige Kollegen es getan hatten. Sein Gewissen zwang ihn weiterhin dazu, seine Stimme zu erheben und zu handeln. Es war ihm ziemlich klar, dass die Gestapo hart zurückschlagen würde. Aber er wollte es trotzdem wagen. Solange er konnte, würde er so vielen Juden wie möglich dabei helfen, außer Landes zu gehen.

Bald darauf war er der Leiter einer bedeutenden protestantischen Bewegung, die Verfolgte schützte. Er richtete ein Netz aktiver kleiner Hilfszentren im ganzen Land ein und hielt sie in Gang. Im Februar 1940 war er geradenwegs zu Göring gegangen und hatte von ihm gefordert, dass er mit dem Transport, noch dazu in Viehwagen, von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, in Konzentrationslager in Polen aufhören solle.
Man hatte ihm gesagt: „Leuten wie Ihnen können wir leicht den Mund stopfen.“
„Solange ich lebe und meine Stimme erheben kann“, hatte er erwidert, „werde ich Ungerechtigkeit Ungerechtigkeit und Sünde Sünde nennen.“
Er wurde verhaftet und wieder freigelassen. Aber auch dann protestierte er weiter und organisierte Zweigstellen in allen großen Städten Deutschlands, die Rechtshilfe und andere Hilfe leisten sollten. Er würde die erschreckten, aber dankbaren Gesichter derer, die er zu retten versuchte, niemals vergessen.

Dann kam der Tag, an dem die Gestapo energisch durchgriff. Er hatte versucht, sich darauf vorzubereiten. Aber trotzdem war er kaum auf diese letzte Verhaftung gefasst. Als er seinen Körper auf dem harten Boden der Baracke in Dachau hin und herwälzte, erinnerte er sich oft darin, wie er am 21. Dezember 1940 im Viehwagen von Berlin in sein erstes Konzentrationslager, Sachsenhausen, transportiert worden war. Im eiskalten Viehwagen herrschte nichts als Angst. Aber draußen sah er bei seinem „letzten Blick in die freie Welt“ Weihnachtseinkäufer mit ihren Geschenken nach Hause eilen. In den Gärten und auf den Balkonen standen Weihnachtsbäume. Er freute sich an den bunten Hinweisen auf ein bürgerliches Leben!

Er erinnerte sich auch an seine Einführung in das Leben des Konzentrationslagers ein paar Tage später. Es war Samstag vor dem 4. Advent. Über dem Tor zum Lager in Sachsenhausen war der zynische Satz „Arbeit macht frei“ in großen Buchstaben angebracht. Als er dann in seinen dünnen Kleidern dort zitternd vor Kälte stand, stürzte sich plötzlich ein Wächter völlig grundlos auf ihn, schlug ihn zu Boden, schlug ihn mit den Fäusten und trat ihn dann mit seinen Nagelstiefeln. Das war ihm wie das Ende erschienen, aber es war nur der Anfang. Als er dort so schmachvoll und voller Schmerzen lag, hörte er Kirchenglocken von einem Dorf in der Nähe. Was hatten sie ihm zu sagen? Die Glocken forderten ihn dazu auf, seine Gedanken auf das zu richten, woran die protestantischen Kirchen in ganz Deutschland zu dieser Zeit dachten und worüber seine eigene Familie zweifellos auch nachdenken würde. Es waren die erwärmenden Worte eines anderen Pastors, der genauso gelitten hatte. Mitten in all seinem Leid war Paulus dazu fähig gewesen zu sagen „Freuet euch im Herrn allezeit; nochmals will ich sagen: Freuet euch! Lasset eure Freundlichkeit allen Menschn kundwerden! Der Herr ist nahe.“

Aber wie sollte sich ein Mensch in Grübers Situation freuen? Im ersten Augenblick schien der Gedanke lächerlich. Dann fiel ihm Luthers Rat ein: Es gibt Zeiten, in denen sollte man die Bibel wie die Hebräer lesen, nämlich rückwärts. Das würde er versuchen. Er würde den letzten Satz als ersten nehmen: „Der Herr ist nahe.“ Wenn ein Mensch im Konzentrationslager diese Hauptprämisse zum Mittelpunkt seiner Gedanken machen könnte, dann würde sich alles andere daraus ergeben. Er könnte es dann mit allem aufnehmen. Er könnte sich sogar freuen. Ja, wenn Gott nahe war, näher als irgendjemand sonst, könnte die Dunkelheit, die in ihm herrschte, dem Licht weichen. Von nun an würde er sich selbst nicht mehr als Gefangenen einer brutalen Macht, sondern des „lebendigen Gottes“ verstehen.

Nicht lange danach hatte er Gelegenheit, seine neue Denkweise zu überprüfen. Ein Wächter, den er durchaus nicht provoziert hatte, schlug ihm die Zähne ein. Sein Mund blutete noch, aber er erkannte dankbar, dass er dem Mann nur das Beste wünschte. Er war erstaunt, dass er keine Rachegefühle gegen ihn empfand und er erlebte eine seltsame Freude.
Zwar konnte sein Körper hinter einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun eingesperrt sein, der von Wachtürmen umgeben waren, die mit Wachen mit Maschinengewehren bemannt waren. Aber im Grunde seines Wesens war er frei! Er war frei, um diese besondere Kraft zu empfangen, die von außen zu kommen schien, wenn ein Mensch unter Einsatz seines Lebens schwächeren Kameraden bei der Arbeit hilft oder wenn er ihnen etwas von seinem Brot abgibt.

Oft hatte er in Sachsenhausen, wenn die Wachen nicht guckten, mehr als Brot mit seinen Mitgefangenen geteilt. Er hatte ihnen kleine Papierstücke gegeben, auf denen mit Bleistift Zitate aus Gesangbuch und beiden Testamenten standen. Das erfüllte anscheinend ein dringendes Bedürfnis. Sogar Atheisten hatten darum gebeten.

Grüber erinnerte sich an den September 1941, als er nach Dachau überführt wurde. Dort hatte er die menschliche Perversität in noch schrecklicherem Ausmaß erlebt. Er hatte von seinem Versteck unter dem Bett aus gesehen, wie nur ein paar Meter von ihm entfernt Tausende von russischen Kriegsgefangenen in einem besonderen Gebäude zusammengetrieben worden waren. Sie wurden dann, immer nur einige auf einmal, hinausgelassen und erschossen. Aber es gab auch versöhnliche Augenblicke. An Sonntagen nach vier Uhr nachmittags, wenn die Arbeit zu Ende war und die meisten Wächter frei hatten, sammelten sich an verschiedenen Stellen des Lagers unbeobachtet kleine Gruppen von Gefangenen zum Gottesdienst. Um nicht die Aufmerksamkeit von Spionen zu erregen, vermieden sie sorgfältig alle frommen Gesten und taten die ganze Zeit über so, als suchten sie sich die Läuse ab oder flickten ihre Kleider. Aber in Wirklichkeit waren sie auf das aufmerksam, was Grüber ihnen zitierte: die Heilige Schrift. Bevor sie den Gottesdienst beendeten, stärkten sie einander mit dem Vaterunser. Dabei waren sie ganz und gar aufrichtig.

Grüber lag drei lange Wochen unter dem Bett versteckt. Das, was in seinem Geist vor sich ging, als er dort vor Kälte zitternd und fast verhungernd lag, bewirkte, dass es keine verlorene Zeit für ihn war. Er hatte Gelegenheit, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Als er in die alte Routine zurückkehrte, war er fast für ein weiteres Martyrium bereit. Dieses Mal sah es so aus, als würde er dabei sterben.
In Dachau wurden Gefangene oft von nationalsozialistischen Wissenschaftlern für „medizinische Experimenten“ als menschlich Versuchskaninchen benutzt. Einige wurden in eiskaltes Wasser geworfen und dort gelassen. Andere bekamen Injektionen mit tödlichen Keimen oder Medikamenten. Wenn der Versuch gelang, war der Patient tot. Aber bis dahin wurde er von einem Arzt überwacht.

Als der Untersuchungsarzt Grüber nach seinem Beruf fragte, antwortete der, er sei Pastor.
„Mein Großvater war Pastor“, sagte der Arzt nachdenklich.
Hatte der Enkel noch ein Gewissen? fragte sich Grüber. Da Grüber ohnehin bald sterben würde, könnte er vielleicht am Ende seines Weges aus diesem Leben noch die Seele eines Menschen berühren. Er sah ihm fest in die Augen.
„Was denkt Ihr Großvater wohl von Ihnen“, fragte er, „wenn er Sie aus der Ewigkeit beobachtet? Meinen Sie nicht, dass es ihn schmerzt, wenn er sieht, dass Sie Menschen schlechter behandeln, als man Tiere behandelt? Sie spielen mit dem Leben von Menschen, als wäre es wertlos, als wären sie weniger wert als Tiere!“
Einen Augenblick lang herrschte ein entsetzliches Schweigen. Dann bedeutete der Arzt Grüber, in seine Baracke zurückzugehen. Am nächsten Tag wurde er wieder zum Arzt gerufen. Es war derselbe, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte. Er untersuchte ihn sorgfältig. Wozu tat er das? Wie sich später herausstellte, suchte er eine Ausrede, um den Pastor, der sein Gewissen erreicht hatte, zu retten.

Grüber wurde aus der Gruppe derer, die als „lebensunwert“ eingestuft worden waren, herausgenommen. Der Arzt hatte sich persönlich für ihn eingesetzt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Abenteuer mit unbeschränkter Haftung

Soweit sein Gedächtnis in die Vergangenheit reicht, hat Mitsuo Fuchida immer davon geträumt, tapfer für seinen Kaiser zu kämpfen. Am 7. Dezember 1941 wurde das, was bis dahin ein Traum gewesen war, zur atemberaubenden Realität. Der neununddreißigjährige Japaner war damals Kommandeur einer Luftschwadron, die im Sturzflug die vor Pearl Harbor vor Anker liegende amerikanische Flotte angriff.

In der Schlacht von Midway wurde er von einem Flugzeugträger ins Meer geweht. Dabei brach er sich beide Beine, wurde aber bald von der Besatzung eines Zerstörers aufgefischt. Zuvor hatte er über dem chinesischen Meer folgendes Abenteuer überlebt: Als nur noch für zehn Minuten Treibstoff im Tank waren und keine Aussicht bestand, im Nebel den Flugzeugträger zu finden, wies Fuchida seinen Piloten an, so lange aufzusteigen, bis der Treibstoff verbraucht sein würde. In etwa 2 500 m Höhe fing der Motor an zu stottern und ging dann aus. Aber am Horizont sah er durch sein Fernglas in kaum 10 km Entfernung eine Dschunke. Das Flugzeug glitt abwärts und sie schafften es gerade so! Der berühmte „Angreifer“ von Pearl Harbor wurde mitsamt seiner Flugzeugbesatzung sicher an Bord genommen.

Ein andermal – in der Schlacht von Java - wurde sein Flugzeug so schwer beschädigt, dass er in den Bergen von Borneo bruchlanden musste. Durch den Dschungel machten er und seine Flugzeugbesatzung sich auf den Weg zum Meer. Am dritten Tag wurden ihre Lebensgeister plötzlich beflügelt. Fast in Rufweite konnten sie ein Flugzeug ausmachen, das auf dem Boden auf sie wartete. Es war offensichtlich ein Rettungsflugzeug.
Als sie es erreicht hatten, verwandelte sich ihre Freude in Tränen. Es war das defekte Flugzeug, das sie verlassen hatten. Sie waren die ganze Zeit im Kreis gegangen. Die Nahrungsmittel hatten sie aufgebraucht. Sie waren bis zum Äußersten erschöpft. Sogar Kapitän Fuchida spielte mit dem Gedanken, sich einfach auf den Boden zu legen und auf das Ende zu warten. Aber das sollte nicht geschehen. Irgendwie stolperten und krochen sie weiter. Obwohl sie die Krokodile im Fluss dort fürchteten, gelang es ihnen, sich flussabwärts treiben zu lassen. Schließlich fand sie ein Einwohner Borneos und brachte sie an die Küste, wo sie dann von ihren eigenen Leuten gefunden wurden.
Wenn einer sein Bestes tut, um auf Ebene zwei zu kämpfen, und dabei nicht allzu viel darüber nachdenkt, wie er die eigene Haus retten kann, dann ist das nicht unbedingt alles, was einer tun kann. Es kann sein, dass dieser Mensch zur Entdeckung einer viel aufregenderen und völlig neuen Kampfweise geführt wird. Jedenfalls geschah das Kapitän Fuchida. Keiner, wie gescheit er auch bei der Voraussage von Ereignissen sein könnte, hätte sich im Voraus vorstellen können, wie sich die Dinge für den mehrfach ausgezeichneten Kriegshelden wenden würden.

Nach dem Krieg hörte er von der achtzehnjährigen Amerikanerin Margaret Covel. Ein alter Freund erzählte ihm von ihr. Der Freund war ein Veteran und sehr davon beeindruckt, wie sie ihm und anderen Japanern in einem amerikanischen Gefangenenlager geholfen hatte. Sie ging zwischen ihren „Feinden“ umher und machte sie glücklich. Die Gefangenen fragten einander manchmal, warum sie das wohl tat. Schließlich erzählte sie, was für sie der ausreichende Grund dafür war: Ihre Eltern waren Missionare auf den Philippinen gewesen und die Japaner hatten sie als Spione hingerichtet. Eine Zeitlang, nachdem sie davon gehört hatte, war sie voller Hass. Dann kam ihr in den Sinn, dass sie sich einer Sache sicher sein konnte: Ihre Eltern mussten in den letzten traurigen Augenblicken ihres Lebens Gottes Gnade für die erbeten haben, die sie töteten. Dieser Geist konnte sich weiterhin so vervielfachen, dass sie die ehrenamtliche Arbeit für ihre neuen Freunde im Gefangenlager tun konnte.

Fuchida dachte darüber nach. Eine ziemlich lange Zeit tappte er im Dunkeln. Er brauchte eine genauere Erklärung für das Verhalten dieser jungen Frau. Dann kam der Durchbruch: Auf dem Weg zu General MacArthurs Hauptquartier gab ihm ein Amerikaner eine Broschüre mit dem Titel Ich war ein Gefangener Japans. Auf dem Umschlag war der Autor abgebildet. Er gehörte zur wenig glücklichen Schwadron Doolittle, die im Frühjahr 1942 Tokio bombardiert hatte. Der Sergeant hatte vierzig Monate in einem japanischen Gefängnis zugebracht, wo er fast verrückt geworden wäre, weil er die, die ihn gefangen hielten, so brennend hasste. Dann jedoch verdrängten Erinnerungen aus seiner Kindheit die Bitterkeit. Ein Gedanke, den er in der Sonntagsschule aufgeschnappt hatte und von dem er gedacht hatte, dass er ihn für immer aufgegeben hätte, begann sich jetzt zurückzumelden: Niemand muss seinem Hass nachgeben. Jeder kann sich einer anderen Macht öffnen, die den Hass in den Wunsch, andere zu verstehen, verwandelt.

Jacob DeShazer gründete sein Leben von da an auf diese Macht. Nachdem er seine Familie besucht hatte und sich für seine neue Arbeit hatte ausbilden lassen, kehrte er nach Japan zurück, um seinen früheren Feinden von seiner Entdeckung zu erzählen. Sein gedruckter Rechenschaftsbericht faszinierte Fuchida, besonders das, was er da über die Bibel las: Der Amerikaner hatte seine Bewacher immer wieder um eine Bibel gebeten. Seine Bitte war abgelehnt worden. Schließlich brachte man ihm doch eine. Anscheinend enthielt sie genau die Weisheit, die Fuchida so dringend brauchte. Gut also. Er würde das seltsame Buch genau lesen.
Nicht lange danach las er täglich lange Passagen darin. Aber er war immer noch irritiert. Dann kam Fuchida eines Tages an die Stelle, an der erzählt wird, dass Jesus am Kreuz angesichts der Menschen, die ihn foltern und töten, ausruft: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Nun war ihm klar, warum die junge Amerikanerin sich so erstaunlich verhalten hatte. Genau dies war die Art von Mut, die er sein ganzes Leben gesucht hatte! Was einer auf dem Schlachtfeld tat, war verglichen hiermit ein Kinderspiel!

Konnte er von diesem Geist etwas für sich und für Japan nutzen? Jedenfalls konnte er es versuchen. Seine Freunde – und er hat viele, hier und in Japan – können bezeugen, dass der frühere Kriegsheld auf der neuen Ebene, die er so abenteuerlich findet, große Fortschritte gemacht hat. Wenn jemand Kapitän Fuchida selbst fragte, wie weit er gekommen sei, würde er wahrscheinlich lachen und sagen, dass er bisher weder vom Kongress noch vom Reich Orden für die Laienpredigt bekommen habe, die immer noch seine gesamte Zeit in Anspruch nimmt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.


Sie bekam eine Eins in dieser Prüfung

Sogar die Wächter in Ravensbrück kannten Elizabeth Pilinko unter dem Namen „die wunderbare russische Nonne“. Niemand konnte leugnen, dass sie das gewisse Etwas hatte.

Sie gehörte einer wohlhabenden Familie in Südrussland an und hatte an der Frauenuniversität studiert. Danach unterrichtete sie an der Abendschule einer Fabrik. Nach der Oktoberrevolution 1917 setzte sie ihr Leben dafür ein, Terror-Opfer zu retten. Sie tat als Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt Dienst und setzte sich sehr für gute Beziehungen zwischen Kommunisten und Antikommunisten ein. Dadurch geriet sie in Schwierigkeiten. Ein Prozess fand statt, aber irgendwie kam sie davon. Schließlich war sie die Grausamkeiten beider Seiten leid und floh nach Paris. Dort trat sie einem religiösen Orden bei. Unter dem neuen Namen „Mutter Maria“ stürzte sie sich in die Arbeit, den Allerärmsten zu helfen.

Sie trug ausrangierte Männerschuhe und ging, einen Sack auf dem Rücken, durch die Stadt, um Nahrungsmittel zu sammeln, die sie in den schmutzigen Bruchbuden am Seineufer verteilte. Außerdem tat sie für russische Flüchtlinge, was sie nur konnte, besonders für die geisteskranken. Schließlich übernahm sie ein Haus und richtete darin eine Heimstätte für Verzweifelte ein. Als die deutschen Truppen Paris besetzten, versteckte sie verfolgte Juden in den Mauern ihres „Hospitals“.
Kurz darauf wurde sie von der Gestapo gestellt und in das berüchtigte Konzentrationslager in Polen befördert. Das war ihre letzte Prüfung auf dieser Erde. Dort stand ein erst kurz zuvor errichtetes Gebäude.

Die Beamten hatten erklärt, dass es nur ein Badehaus sei. Aber Elizabeth wusste es besser.
Einige Dutzend Frauen wurden in einer Reihe aufgestellt. Es konnte kein Zweifel mehr daran herrschen, wozu das führen sollte. Sie sollten alle durch diese finsteren Tore gehen und sie würden nicht mehr herauskommen. Eine der Frauen, sie war noch sehr jung, brach zusammen. Obwohl Elizabeth nicht auf der Liste stand, ging sie zu der verzweifelten Mitgefangenen und sagte: „Du hast große Angst. Sieh mal, ich will deinen Platz einnehmen.“ Dann ging sie mit den anderen in die Gaskammer.

Seltsamerweise war es Karfreitag 1945.

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Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
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