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Freitag

Zum Frieden anstiften - Das Streetworker-Projekt - Ein Sommertag im Freibad

Ernst von der Recke

Leichtfüßig und beschwingt zogen etwa vierzig Jugendliche durchs Schwimmbadgelände zum Volleyballplatz - vorneweg die Jungen, gefolgt von den Mädchen. Ein lebhaftes Sprachgemisch aus gebrochenem deutsch, türkisch und russisch erfüllte die Luft. Zurück blieben ein junger Mann türkischer Abstammung, ein Bosnier und eine deutsche Frau. Nur langsam verzog sich die Menge der Schaulustigen. In einigem Abstand standen die Bademeister mit blassen Gesichtern. Das Handy, das sie seit einer dreiviertel Stunde in der Hand hielten, um im Bedarfsfall sofort die Polizei rufen zu können, ließen sie sinken. Die deutsche Frau hielt einen Stapel alter Zaunlatten mit heraussteckenden Nägeln in der Hand. Etwas ratlos stand sie da und guckte der abziehenden Gruppe nach: "Kann das gut gehen, wenn die behaupten, sie wollten jetzt miteinander Volleyball spielen?!"
Was war passiert, und wer war dieses Gespann von drei jungen Erwachsenen, die offenbar vom Erfolg ihrer Arbeit überrascht und noch etwas ungläubig der abziehenden Gruppe munterer Jugendlicher und Kinder hinterher schauten?

Der Ort des Geschehens war das zentrale Freibad in Wetzlar. Hier gibt es seit dem Sommer 1996 ein sogenanntes Streetworker-Projekt. Etwa 20 Jugendliche und junge Erwachsene unterschiedlicher Abstammung und Herkunft sind seither jedes Frühjahr  vorbereitet worden, während der Sommerferien nachmittags von 14 Uhr bis 18 Uhr  für einen Dienst zur Verfügung zu stehen, verbunden mit einer finanziellen Anerkennung. Sie sind in Dreierteams eingeteilt. Dabei ist Sorge getragen, daß diese Untergruppen möglichst beiderlei Geschlecht enthalten und Sprachkompetenzen in Deutsch, Türkisch und einer slawischen Sprache besitzen.

Das Motto, unter dem dieses Projekt steht, heißt "Grenzen setzen - Räume öffnen". Getragen wird es von einem großen Kreis von Personen aus der freien und öffentlichen Kinder- und Jugendarbeit, einschließlich der Polizei mit ihrer "Arbeitsgruppe Gewalttäter an Schulen", von Personen verschiedener kultureller und religiöser Vereine und Einrichtungen, ferner aus dem Bereich der Resozialisation und nicht zuletzt aus dem Sozialdezernat und dem Koordinierungsbüro für Jugend und Soziales der Stadt Wetzlar. Der Beitrag, zu dem wir als Laurentiuskonvent angefragt wurden, lag in dem Entwurf und der Durchführung eines Trainings für die "Poolworker".

Dem oben angedeuteten Konfliktende ging wohl der heißeste Streit in der vierjährigen Geschichte des Projekts voraus. Ercan, der Freiwillige mit türkischer Abstammung, hatte einen Schlag gehört und beim Hinschauen wahrgenommen, daß ein rußlanddeutscher Jugendlicher einen kurdischen Jugendlichen offenbar ohne jegliche Vorwarnung am Rand des Freibads ins Gesicht geschlagen hatte. Andere waren ebenfalls aufmerksam geworden und durch den offenen Disput formierten sich in Windeseile zwei Gruppen, eine türkisch und eine russisch sprechende. Die Emotionen auf der Seite des Geschlagenen kochten hoch - "seit drei Jahren habe ich mich nicht mehr geprügelt, jetzt ist es mal wieder soweit!..." Einige gingen an einen nicht weit entfernten Lattenzaun und rissen einige Latten heraus, mit denen sie sich bewaffneten. Ercan hatte die türkisch geführte Diskussion mitverfolgt und schritt ein - deutsch sprechend. Er wurde sofort als unerwünschter Eindringling identifiziert:  "Was will der denn?" fragte ein Junge auf türkisch. Ercan überraschte ihn und die anderen, indem er auf türkisch antwortete und erklärte, wer und in welcher Funktion er hier sei und daß er nicht dulden würde, daß sie hier auf dem Schwimmbadgelände eine Schlägerei vom  Zaun brachen. Sichtbar in ihrem Schwung gebremst, einigte sich die Gruppe, vor den Eingang vom Schwimmbadgelände zu gehen. Irgendwann wurde das Schwimmbad ja schließen, dann wurden sie sich "die Russen" greifen.

Um den, der geschlagen hatte, hatte sich ebenfalls sehr schnell eine Gruppe von rußlanddeutschen Jungen und Mädchen gesammelt. Ihre Empörung bestand darin, daß der Kurde eins „ihrer“ Mädchen belästigt hatte. Zu ihnen hatte sich Almir, ein bosnischer Freiwilliger gesellt. Er verstand in etwa, was sie sagten und brachte sich als Streetworker beruhigend ein.

Als letzte kam Ulrike hinzu, eine Deutsche, die auch außerhalb des Projekts schon Erfahrung in Mediation gesammelt hatte. Sie erkundigte sich schnell  bei ihren beiden Kollegen, befand, daß es keine befriedigende Option sei, daß das Problem sich lediglich außerhalb des Schwimmbadzaunes verlagert habe und daß sie eine Vermittlung wagen wollte. Die Gruppe der Rußlanddeutschen war sofort bereit, sich auf eine Konfrontation mit der Gegenseite einzulassen. Sie folgten Ulrike auf ihrem Weg zu der Gruppe im Eingangsbereich. Im Handumdrehen war dieser Bereich dicht, niemand konnte mehr hinein oder hinaus.

Der Versuch, die herauszufinden, die ursprünglich beteiligten waren, erwies sich als äußerst  schwierig. Andere, die nicht unmittelbar am Streit beteiligt waren, hetzten am meisten. Die Absicht, die Auslöser des Streites gesondert zu nehmen, erwies sich als gänzlich unmöglich. Die Angelegenheit war zu einer Ehrensache geworden, in der es jetzt keine Unbeteiligten mehr gab. Almir und Ercan standen zwischen den Gruppen und hielten "ihre" Leute sowohl mit ihrer Körper- wie mit ihrer Seelen- und Gütekraft in Schach. Ulrike stand ebenfalls dazwischen und wendete sich blitzschnell von der einen zu der anderen Seite, immer bemüht, die Betroffenheit und den Hergang zu verstehen und dies als Anfrage an die andere Seite weiterzugeben. Als sich herausgestellte hatte, daß der, der geschlagen hatte, überhaupt kein deutsch verstand und sich jemand als Dolmetscher anbot, gelang es leichter, den Fortgang der Auseinandersetzung zu strukturieren. Die Wahrnehmung des Hergangs war unterschiedlich. Ob der kurdische Jugendliche die Schwester des Rußlanddeutschen geschubst habe oder er sie nur angeredet hatte, blieb unklar. Die Wende kam an dem Punkt, als der Kurde seinen Kontrahenten fragte, warum er denn gleich geschlagen habe. Sie seien hier doch  in Deutschland und nicht in Kasachstan und auch nicht in Anatolien. Hier dürfe man Mädchen anschauen und auch mit ihnen reden. Der Angeredete erklärte, daß er ihn ja nicht ansprechen konnte, da er weder deutsch noch kurdisch spreche. Um die Familienehre zu wahren, sei ihm nur die Möglichkeit des Zuschlagens geblieben.

Damit war die alle verbindende Herausforderung auf dem Tisch: An einem fremden Ort mit anderen Sitten die Beziehung zum anderen Geschlecht aufzubauen und dabei sein ererbtes Ehrgefühl zu wahren! Dies war tatsächlich ein Thema, das alle betraf, nicht nur die beiden primär am Streit beteiligten. Eine Lösung des Streites war nun nicht mehr weit: Der Rußlanddeutsche entschuldigte sich bei dem Kurden, und der Kurde bei dem Mädchen. Beide taten es jetzt aus freien Stücken und im Respekt vor den Bedürfnissen des anderen und seinen Grenzen.

Das, was normalerweise am Anfang einer Mediation geschieht, nämlich daß man sich gegenseitig vorstellt, konnte in diesem Fall erst jetzt geschehen: Ulrike wandte sich an die, die eine Latte in der Hand hielten, stellte sich vor und fragte sie nach ihrem Namen. Dann bat sie, ihr die Latten auszuhändigen. So endete mit der freiwilligen Entwaffnung auch die Anonymität. Der Wunsch, miteinander spielen zu gehen, entsprach dem guten Gefühl, ein existentielles Problem bearbeitet zu haben und darüber miteinander vertraut worden zu sein.

Ercan, der nach seiner Zeit der Arbeitslosigkeit wieder die Schulbank drückt, um das Abitur nachzumachen, ist inzwischen ein begehrter Mitarbeiter in der städtischen Jugendarbeit. Almir, der immer noch nicht in seine Heimat zurückkehren kann, lebt und denkt europäisch. Er hat in Deutschland einen Beitrag zum Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien geben können. Das läßt ihn und uns hoffen, daß er ähnliches auch in seiner zerrissenen Heimat einmal wird leisten können. Ulrike sucht ihren Weg als Mediatorin im schulischen Bereich und in der Stadtteilarbeit.

Eine ausführliche Dokumentation über das Streetworker-Projekt ist über Frau Barbara Bayani vom Koordinationsbüro des Bürgermeisters der Stadt Wetzlar (Ernst-Leitz-Str. 30, 35578 Wetzlar, Tel. 06441/99-472) zu beziehen. Eine weitere Kontaktperson und Mitinitiator des Projektes ist Herr Harald Wurges vom Stadtjugendring Wetzlar (Tel. 06441/35922). Beide Personen besitzen die besondere Begabung, Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft leben und solche, die in verantwortlicher Position sitzen in einen gemeinsamen Prozeß zu verweben.

Meine persönlichen Voraussetzungen zur Mitwirkung an einem solchen Projekt sind geprägt durch Erfahrungen mit der Arbeit von Friedensdiensten (19971/72 habe ich als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen an einem ähnlichen Projekt in einem Getto im nordamerikanischen Bundesstaat Mississippi teilgenommen) und durch meine Einbindung in die Lebensgemeinschaft des Laurentiuskonvents. Seit seiner Gründung 1959 haben Mitglieder des Konventes sich immer wieder diakonisch engagiert. Hierzu gehört auch die Entwicklung des Gedankens eines Schalom-Diakonats. Er hat sich in der Gründung des Oekumenischen Dienstes im Konziliaren Prozeß mit der Geschäftsstelle in Wethen (Mittelstr. 4, 34474 Diemelstadt, Tel.: 05694 8033) und seinen unterschiedlichen Trainingsangeboten zu einem zivilen Friedensdienst praktisch verwirklicht.

Theologisch - das ist uns dieses Jahr in der Karwoche bei der Meditation von den drei Leidensankündigungen Jesu und den daran anschließenden Jüngerbelehrungen (Mk 8,9+10) so deutlich geworden - gründet und orientiert sich unsere Praxis an der Treue zum Evangelium und ihrer Umsetzung in einer sozialen und politischen Diakonie. Nachfolge Jesu - das Stichwort in den drei biblischen Texten - führt in Situationen von Not und Gewalt, aber Gottes Geist lenkt auch hindurch zu neuen Freundschaften und tragfähigen Beziehungen.

Ernst von der Recke ist Mitglied der ökumenischen Lebensgemeinschaft Laurentiuskonvent in Laufdorf (Ringstr. 21, 35641 Schöffengrund), verheiratet und Vater von drei Töchtern. Von der Ausbildung her Theologe arbeitet er mit einer halben Stelle bei der Lebenshilfe Wetzlar. Mit seiner Frau engagiert er sich im Bereich Mediation, besonders an Schulen und in der Arbeit des friedenskirchlichen Netzes Church and Peace.


Mannheimer Hoffnungsgeschichten

Mannheimer OberstufenschülerInnen schreiben Hoffnungsgeschichten der Überwindung von Gewalt
(Ökumenisches Bildungszentrum sanctclara Mannheim, 28.3.01)


Im Bereich Geschwisterstreit: Nach verbalen Attacken und Androhungen von “Gewalt mit Fäusten” zogen mein Bruder und ich uns kurz ins jeweilige Zimmer zurück, besannen das, was gerade gelaufen war, und entschuldigten uns beim Anderen. Öfter Besinnung und Nachdenken bringt etwas!

Bei mir im Basketballtraining gibt es ein paar ziemlich “coole” Typen, die denken, dass sie die Tollsten sind. Als ich von denen angemacht wurde, kam ein Kumpel von mir (eigentlich ein ziemlich schmächtiger Kerl), hat sich hinter mich gestellt und signalisiert, dass er zu mir steht. Da sind die Typen weitergegangen. Das war ein tolles Gefühl zu wissen, dass man nicht alleine ist und Freunde hat, die helfen.

Eine freundschaftliche Rangelei im Zug zwischen zwei Freunden wird zu einer richtigen Prügelei. Der eine hat schon eine blutige Nase, als mein Freund und ich dazu kommen. Wir schnappen uns jeder einen und fangen ihn an zu kitzeln. Daraufhin müssen sie sich wohl oder übel loslassen und hören auf miteinander zu kämpfen.

Eine Klassenkameradin hat eine andere ständig fertiggemacht wegen Aussehens, Verhalten etc.. Irgendwann bekam die eine dann ein selbst geschriebenes Gedicht der anderen, die sich nicht unterkriegen ließ, zur Ansicht. Und sie hatte plötzlich Ehrfurcht vor ihr und ihrer Fähigkeit des Schreibens.

Ich kam mit meinem Motorrad an eine rote Ampel und fuhr zwischen den Autoschlangen, die sich auf beiden Spuren gebildet hatten, bis an die Haltelinie vor. Ein LKW-Fahrer kurbelte die Fensterscheibe runter und begann rumzuschreien: “Hast du ‘nen Bremsfehler oder bist du einfach nur blöd, du Idiot?” Ich drehte mich um und sagte zu ihm: “Komm schon, Mann, ich werde doch bei dem Wetter nicht hinter 20 Autos im stop&go-Verkehr fahren. Trotzdem sorry.” Er winkte mir gerade nur lässig mit der Hand und lächelte.

Bei uns in der Clique gab es mal ein nettes Mädchen. Sie ist mit dem Jungen zusammengekommen, der am meisten Einfluß auf alle hatte. Leider ist die Beziehung nach 9 Monaten zerbrochen und von den anderen (außer mir) wollte keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben. Sie wußte lange nicht, was sie falsch gemacht hatte. Und ich sagte ihr immer, dass es nicht an ihr läge. Wir wurden die besten Freunde. Letzten Samstag feierte die Clique eine Party. Sie wollte sich mit mir treffen. Wir unterhielten uns in angetrunkenem Zustand. Irgendwie standen auf einmal alle neben uns und wir redeten über alles, was noch nicht geklärt worden war (über 2 Stunden lang). In dieser Woche meldeten sich einige wieder bei ihr und haben zugegeben, dass sie sie eigentlich gar nicht so schlimm finden. Jetzt treffen sich viele wieder mit ihr. Das gibt dem Mädchen viel Kraft, die sie in den Monaten davor verloren hatte!

Konfliktsituation vor dem Haus: zwei Kindergartenkinder streiten sich um einen Bobbycar. Da kommt der ältere Bruder eines der Kinder dazu und zeigt den beiden, wie sie den Bobbycar mit Anhänger gemeinsam nutzen können, indem einer Fahrer und einer Fahrgast ist. Das Spiel geht friedlich weiter.

Neulich am Paradeplatz:  eine Klassenkameradin wurde von ihrem Ex-Freund und 6 Skinheads verfolgt. Wir Mädchen blieben bei ihr, auch wenn wir nicht viel ausrichten konnten, und liefen nicht weg. Ich denke, dass wir hier Zivilcourage bewiesen. Verbal konnten wir den Konflikt teilweise lösen. Meiner Meinung nach, muss Gewaltüberwindung bei Bildung ansetzen.

Unser Raucherhof sollte geschlossen werden, wenn er weiterhin so schmutzig ist. Doch es gab Leute, die ihn dann putzten und nicht anfingen zu randalieren!

Ich sah vor kurzem eine Reportage im TV mit dem Thema Zivilcourage. Es wurde dabei festgestellt, dass in Konfliktsituationen öfters Menschen ab 35 wegsehen als die jüngere Generation. Dass also die heranwachsende Gesellschaft lernt oder gelernt hat helfend einzugreifen. Ich denke, das ist ein Punkt, der Hoffnung bringt.

“Sanfte Gewalt” - Eigenes Foto: Großstadt, Autostraße, Randstein zwischen benzin- und ölbeflecktem Asphalt und zugeparktem Gehweg: Aus einer Fuge heraus wächst und blüht ein Löwenzahn!

Ein zierlicher Siebtklässler wird von einem großgewachsenen Klassenkameraden mit leichten Stößen provoziert zurückzuschlagen. “Schlag zurück! Komm, wehr dich...” Der Kleine steht – an die Schulmauer gelehnt – als ob es ihn nichts anginge und schaut den Großen an. Der Zuschauerkreis wird immer größer. Der Kleine läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Große hat keine Chance. Die Zuschauer sind mehr und mehr gegen ihn. Sie sagen nichts, aber sie verhindern, dass der Große seine Übermacht ausleben kann. So geht die Pause zu Ende. Der klare Sieger ist der Kleine. Der Große gibt auf. Seine Provokation läuft ins Leere. Auf die Frage, warum er sich nicht gewehrt habe, sagt der Kleine: “Ich habe gegen den Großen keine Chance. Das einzige, was ich tun kann, ist: Nerven bewahren. Wenn ich zurückschlage, hat er einen Grund mich zu schlagen. Den Spaß gönne ich ihm nicht. Zum Raufen gehören immer zwei.”

Streitschlichtersituation: Zwei Schüler im verbalen Schlagabtausch werden von einem Mitschüler angesprochen: “Du fühlst dich jetzt wohl sauwohl!?” Überraschung! Stille. Nächstes Mal wiederholt er die Frage – Stille. “Nein? Warum investierst du dann soviel Energie in etwas, was dir nichts bringt?” Später läßt der verbale Streit nach. Inzwischen wurde einer der Streithähne selbst Streitschlichter.


Quelle: Mannheimer OberstufenschülerInnen teilen ihre Geschichten bei einer Veranstaltung zur Dekade "Gewalt überwinden" am 28.3.01 im Ökumenischen Bildungszentrum sanctclara in Mannheim

Anne Kretzschmar
Dienst fuer Mission, Oekumene und Entwicklung
Evangelische Landeskirche in Württemberg

Schläge nach dem Schlittschuhlaufen - Ein Konflikt, den ich selbst gütekräftig lösen konnte.

Die Situation, die ich schildern möchte, spielte sich vor ungefähr 3 Jahren ab. Ausgangspunkt war, dass ich mit drei Freunden in der Eissporthalle in Chemnitz Schlittschuhlaufen war. Damals war ich 16 Jahre alt und meine Freunde waren beide 18. Es war ein ganz normaler Samstagabend und wir hatten sehr viel Spaß. Als wir dann gegen 22 Uhr zu unserem Auto zurücklaufen wollten, sahen wir eine Gruppe von ca. 6 Jugendlichen auf uns zu kommen. Diese waren zwischen 20 – 25 Jahre alt, ziemlich angetrunken, randalierten und schienen auch eine rechtsgerichtete Einstellung zu haben. Das schlossen wir daraus, dass die Jugendlichen Bomberjacken, Springerstiefel und auch sehr kurze Haare hatten. Wir hingegen waren und sind Anhänger der Gothic-Szene und waren schwarz gekleidet. Wir beschlossen, die Straßenseite zu wechseln, denn wir hatten keine Lust mal wieder ein paar aufs Maul zu kriegen, nur weil wir andere Kleidung, eine andere Ansicht oder einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Doch auch die Gruppe wechselte die Straßenseite und folgte uns nun. Als wir das bemerkten bekamen wir schon ein ungutes Gefühl, denn wir hatten schon mehrere Begegnungen mit solchen Jugendlichen hinter uns. Also versuchten wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Wir rannten zunächst die Hauptstraße entlang mit der Hoffnung ein vorbeifahrendes Auto würde vielleicht anhalten und uns helfen, aber alle Autos fuhren vorbei, obwohl man genau sehen konnte, dass wir verfolgt wurden. Je länger diese Jagd dauerte, umso mehr Panik bekamen wir. Wir konnten nicht einmal untereinander klären, was wir nun tun sollten. Nur eines war klar; wir würden uns nicht trennen, denn zu dritt gegen sechs ist besser als allein gegen diese bestehen zu müssen. Leider mussten wir nach kurzer Zeit die Hauptstraße verlassen, denn das Auto stand in einer kleinen Nebenstraße. Als wir dann noch ungefähr 800m von unserem Auto entfernt waren, hatte uns die Gruppe doch noch eingeholt. Wir hatten schon wieder Hoffnung, doch noch heil aus der Situation heraus zu kommen, aber es sollte wohl nicht sein. Jedenfalls die Gruppe hatte uns eingeholt und uns sofort umstellt um zu verhindern, dass wir nochmals versuchen zu entkommen. Was nun folgte, war nichts Neues für uns. Jeder von uns musste erst einmal ein paar Schläge einstecken. Ich bekam, nachdem sie uns verbal provozierten und uns anrempelten, einen Schlag in den Magen und mehrere in die Gegend der Nieren aber ich konnte mich auf den Beinen halten um so zu verhindern, dass sie auf mich eintreten können. Meinen Freunden erging es nicht viel anders. Sie mussten auch Schläge in den Bauch, ins Gesicht und sogar Tritte einstecken. Doch wir nahmen die Schläge und Tritte hin ohne zurückzuschlagen. Wir wussten, sobald wir uns wehren würden, hätten sie einen Grund noch mehr und vor allem noch härter auf uns einzuschlagen. Ich bemerkte dann irgendwann, dass einige dieser Jugendlichen Eishockeyschals trugen und mir fiel ein, dass an diesem Tag der ETC Crimmitschau ein wichtiges Spiel gewonnen hatte. Ich weiß im Nachhinein gar nicht mehr wie ich das bemerkt habe und was mir in diesem Moment durch den Kopf ging, aber vielleicht habe ich darin eine Möglichkeit gesehen mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Also versuchte ich ein Gespräch ins Rollen zu bringen, ohne zu wissen, ob und wie das funktionieren sollte oder ob es überhaupt funktionieren würde. Ich begann also einen der Jugendlichen auf seinen Schal anzusprechen und ob er denn Eishockeyfan sei und das Spiel gesehen hat. Zu Beginn wollte keiner der Jugendlichen so recht darauf eingehen, denn schließlich muss ja eine Gruppe geschlossen zusammenhalten, aber dann passierte für mich das Unvorstellbare. Einer der Jugendlichen begann mit mir zu reden. Ich war völlig überrascht, denn es hatte zunächst den Anschein gehabt, als würde keiner der Jugendlichen darauf eingehen. Aber er antwortete mir auf meine Fragen und war auch sichtlich stolz, dass der ETC das Spiel gewonnen hatte. Je länger ich nun mit ihm redete und auch ich ihm sagte, dass ich den ETC gut finde und mich freue, dass dieser gewonnen hat, umso weniger wurde ich attackiert. Nun versuchte ich auch meine Freunde in das Gespräch mit einzubinden, um zu erreichen, dass auch sie nicht mehr attackiert würden. Und es funktionierte. Wir unterhielten uns nun über Eishockey, den ETC Crimmitschau und das gewonnene Spiel. Am Ende hatten wir es geschafft die Gruppe in ein Gespräch zu verwickeln und so zu verhindern, dass wir weiterhin zusammengeschlagen werden. Wir waren echt froh, dass es diesmal so gut ausgegangen war und konnten endlich nach Hause fahren. Ich weiß nicht mehr in welcher Zeitspanne sich das alles zugetragen hat aber es war für mich das erste mal, dass ich einen solchen Konflikt (gütekräftig) lösen konnte und es bestärkte mich in meiner Auffassung, dass man versuchen sollte, Konflikte immer auf eine solche Art und Weise zu lösen. Ich hatte zwar auch vor diesem Zeitpunkt schon die Meinung, dass es sinnvoller ist, Konflikte auf friedlicher Basis zu lösen als sich durch Gewalt leiten zu lassen, aber es hatte nie wirklich funktioniert. Aber an diesem  Abend hat es das und es war ein tolles Gefühl.

Dirk Lemke (aufgeschrieben im Juli 2002)

Donnerstag

Die Abschaffung des Sklavenhandels - ein kleiner Comic


Das Sommermärchen in Potsdam

Es war das berühmte Sommermärchen. In Deutschland fand die Fußball-WM 2006 statt. Ich bin kein ausgesprochener Fußballfan, hatte aber einige Spiele mit Interesse mitverfolgt. Als Deutschland gegen Italien im Halbfinale stand, war ich gerade bei meiner Tante in Potsdam zu Besuch und hatte eigentlich vor, wenn ich schon mal dort wäre, nach Berlin auf die Fanmeile zu fahren. Aber meine Tante meinte, in Potsdam gäbe es auch eine schöne Fanmeile, da könne ich sogar zu Fuß hingehen. So landete ich am Potsdamer Brandenburger Tor inmitten von einem kleinen Trupp von Nachzüglern, die aus Sicherheitsgründen erst mit ca. 10-minütiger Verspätung auf den gut gefüllten Platz gelassen wurden.

Die Stimmung war gut, und ich genoss das Gemeinschaftsgefühl auf dem Platz. Nur aus einer Ecke am Rand schallten hin und wieder unschöne Parolen. Einmal habe ich dagegen angebrüllt. Ich hatte mir angewöhnt, während der Live-Übertragungen zu beten, wenn ein Spieler sich verletzte, anstatt den unheilprohezeihenden Kommentatoren zu zuhören. Als auf der Leinwand gezeigt wurde, wie ein Italiener verletzt vom Platz getragen wurde, hörte ich bei uns auf dem Platz die boshafte Schadenfreude: „Hub-Hub-Hubschraubereinsatz". Da habe ich laut „Nein" gebrüllt. Da die Stimmung insgesamt ziemlich emotional war, wurde dieser Gefühlsausbruch meinerseits von den Umstehenden als normal eingestuft und sogar anerkennend zur Kenntnis genommen, was ein wenig grotesk war.

Am Ende blieb das große Feiern ja leider aus, weil Italien die Partie für sich entschieden hatte. Der Platz leerte sich allmählich. Die meisten waren friedlich und strömten dem Ausgang zu. Aber in einer Ecke formierten sich ein paar wütende Hass-Parolen-Brüller. Ich wollte gehen, stellte mich dann aber doch erst an einen der aufgestellten Biertische, um ein paar Augenblicke zu beten. Das Gebet gab mir die Gewissheit, dass Liebe mächtiger ist als Hass. Daraufhin verließ ich den Platz und schlenderte durch die Brandenburger Straße, eine lange Fußgängerzone. Irgendwo hinter mir hörte ich die aggressive Fangruppe, während vor mir auf der linken Seite ein italienisches Restaurant auftauchte. Dort feierte man natürlich den Sieg, ein paar junge Italiener standen draußen; vielleicht waren es 5 oder 6, ich kann es aber nicht mehr sicher sagen.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, was mich dazu veranlasste, langsamer zu gehen, dann muss ich zugeben, dass es tatsächlich der Wunsch war dazwischen zu bleiben, um verhindern/ eingreifen zu können. Das klingt ziemlich idiotisch, war aber so. Jedenfalls überholte mich der deutsche Fanblock (ich weiß nicht, wie viele es waren, aber sie waren mehr als die Italiener), so dass ich genau hinter ihnen war, als es passierte. Erstes Anpöbeln durch die Deutschen. Die Italiener waren zurückhaltender; ich weiß nicht, ob sie etwas erwiederten. Einer aus der deutschen Gruppe schüttete den Inhalt eines Plastikbechers in Richtung der italienischen Gruppe, und dann gingen die beiden Gruppen aufeinander los. Dann ging alles irgendwie sehr schnell. Ich stand auf einmal mit erhobenen, ausgebreiteten Armen mittendrin und schaute meine Landsleuten in die Augen, die Italiener im Rücken. In dem Augenblick hatte ich gar keine Angst. Nur das Gefühl: nein, das darf nicht sein. Ich habe aber auch keinen Hass gespürt, und auch keine Verachtung. Ich glaube, das war wichtig. Einer wollte an mir vorbei, er war ungefähr so groß wie ich, vielleicht auch etwas kleiner, aber stämmig. Ich habe mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn gelehnt, die Hände ausgestreckt auf seinem Brustkorb abgestützt. Mit einem zweiten Angreifer habe ich es genauso gemacht. Und dann gingen sie weiter. Sie gingen einfach weiter. Ließen die Italiener und mich dort einfach stehen. Ich war dann recht verdattert. Keine Ahnung, was die Italiener über die Situation gedacht haben, denn ich habe mit ihnen kein einziges Wort gewechselt, bin dann auch einfach gegangen.

Einen Block weiter standen Polizisten. Während die Schlachtenbummler rechts um die Ecke bogen, ging ich links zu den Polizisten und sagte, sie sollten doch diese Gruppe mal im Auge behalten, und ich sagte allen Ernstes, dass ich gerade eine Prügelei verhindert hätte. Ich kam mir dann reichlich blöd vor... und auf einmal war ich mir meiner auch gar nicht mehr so sicher, bekam Angst, jemandem aus dieser Gruppe nochmal zu begegnen. Schließlich war ich als Frau alleine unterwegs, es war schon dunkel, und außerdem hatte ich die gerade an die Polizei "verpfiffen"... Ich sah also zu, dass ich auf dem schnellsten Weg nach Hause zu meiner Tante kam.

Rückblickend bin ich einfach sehr dankbar für diese Erfahrung. Ich versuche, mir in dieser ganzen Angelegenheit nicht heroisch vorzukommen, denn ich bin sicher: ohne Gebet und das Vertrauen auf die Gegenwart Gottes wäre diese Situation für mich hochgradig gefährlich gewesen, und aus mir selbst heraus hätte ich niemals tun können, was ich dort getan habe.

Samstag

Überfall auf ein Gewerkschafts-Büro

  Eines Tages kommt eine Todesschwadron ins Büro gestürmt, wo etwa zehn Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen an der Arbeit sind. Die schwerbewaffneten Männer richten ihre Maschinenpistolen auf die Anwesenden und schreien, alle müssten sich mit ausgebreiteten Armen kopfunter auf den Boden werfen! Julio, der zunächst am Eingang sitzt, reagiert blitzschnell:
  "Nein, wir tun das nicht! Ihr könnt mich umbringen, ich weigere mich! Wenn Ihr mich niederschießt, dann müßt Ihr gleichfalls alle anderen töten! Wer seid Ihr überhaupt? Was wollt Ihr? Wer hat Euch geschickt?"
  Die Todesschwadron, durch diese unerwartete Weigerung aus dem Konzept gebracht, reagiert im Moment verunsichert.
  Julio bringt heraus, daß sie von der Nationalpolizei sind. Rasch realisiert er, daß er ihnen einen Ausweg bieten muß, um ihr Gesicht zu wahren:
  "Was wollt Ihr? Wollt Ihr Geld? Hier, zweitausend colones!"
  "Wir wollen Dollares!"
  "Nichts da, macht, daß Ihr rauskommt, hinaus, hinaus ...!"
  Und die Gewerkschafter folgen ihnen noch bis zum wartenden Auto nach.



(Quelle: Ueli Wildberger, Peace Brigades International, in Neue Wege, Zürich 11/92, S.322)

Gruppen - Treffen

  Freitag Abend, die Jugendkneipe des Brückenhaus e.V. ist wieder gut voll. Von Ehrenamtlichen wurde sie eingerichtet und jetzt betrieben, die hier in zwei Stadtteilen zusammen mit dem Sozialarbeiter sowohl mit ausländischen als auch mit rechtsorientierten Jugendlichen arbeiten. Gerade letztere treffen sich ganz gerne hier. Schon öfter mal kam es da zu einzelnen Zwischenfällen verschiedener Art; doch verliefen sie zumeist glimpflich. Aber so gespannt wie an diesem Freitag abend war es noch nie.
  Vor dem Haus hatten sich 40 Leute versammelt - sogenannte Linke. Sie waren zum Teil vermummt, trugen einige Stangen und Schläger bei sich, die sie einem Metallzaun entwendet hatten; und auch das Gerücht ging um, sie hätten Molotow-Cocktails dabei. Sogleich waren die Jungs in der Kneipe in Alarmbereitschaft. Sie bedienten sich bei einem nahegelegenen Container und versorgten sich mit allerlei Metallbrocken als Bewaffnung. Die Stimmung war geladen.
  Da griffen die anwesenden Ehrenamtlichen ein. In guter und schneller Reaktion baten sie zunächst alle "ihre" Leute, wieder ins Haus zu kommen; ein breitschultriger stellte sich dann in die Türe, um sie zu versperren. Damit war schon mal eine erste Konfron-tationsmöglichkeit verhindert, indem die Gruppen ganz klar getrennt waren.
  Nun wagte es einer der Ehrenamtlichen und ging hinaus direkt auf die Gruppe der Linken zu:
  "Ich bin der Vertreter des Brückenhaus e.V.; und wer ist Euer Vertreter?"
  Das überraschte; das lehnten sie erst mal ab:
  "Nein, wir haben keinen Vertreter; das brauchen wir doch nicht."
  Nach einigem zögerlichen Überlegen gab es dann doch einen. Nun war eine Grundlage für eine erste Diskussion geschaffen.
  "Wißt Ihr, was das Brückenhaus ist und was wir da machen?", fragte der Ehrenamtliche aus der Kneipe.
  "Ja", antwortete die andere Seite sehr schnell. "Ihr habt da die Faschos drin; und also seid ihr auch für die."

  Erst später wurde uns nochmal deutlich, daß dies die allgemeine Überzeugung bei den Linken bzw. Autonomen des Stadtteils war, obwohl wir im Rahmen unserer akzeptierenden Jugendarbeit sicher ganz anderes machen. Unser Standpunkt ist politisch gerade nicht rechts.
  Nach einigem Wortwechsel dieser Art wurde die Situation allerdings noch einmal verschärft. Ein paar Jugendliche, die in die Kneipe wollten, kamen von außerhalb dazu. Sie waren nun als neue Gruppe da draußen. Und nun wollte einer von den Linken rein ins Haus und mit denen drin diskutieren. Allerdings waren nun schon einige ausfällige Attacken verbaler Art zu hören. Ob das gut geht?
  Es war wohl auch eine gute Portion Glück, daß nichts ernsthaftes passierte. Denn nach einiger Zeit kamen nun doch etwa 10 der Linken in die Kneipe; die anderen hatten sich inzwischen verzogen. Und auch hier reagierten die ehrenamtlichen Mitarbeiter wieder sehr geschickt: Mit Eimern gingen sie herum und sammelten vor dem Zusammenkommen auf beiden Seiten alle Waffen ein.
  Im Folgenden blieb es ruhig, wenn auch mit heftigen Diskussionen. Am Ende stand die Vereinbarung, sich in den nächsten Tagen noch einmal zu einer geordneten Diskussion zu treffen, an der auch türkische Jugendliche teilnehmen sollten. Sie fand statt - und war ein voller Erfolg!



(Quelle: Martin Lempp, Kirchheim/Teck)

Der Dritte Weg

  Martin Luther King vermittelte diesen Dritten Weg Jesu (die Gewaltfreiheit, d.Red.) so an seine Anhänger, daß er zur ethischen Grundlage der gesamten Bürgerrechtsbewegung werden konnte.
  Eines Abends, als Selma in Alabama das Zentrum der Bürgerrechtskämpfe war, stand eine riesige Menschenmenge aus schwarzen und weißen Aktivisten vor der baptistischen Ebenezer-Kirche. Die Nachricht, die ein schwarzer Bestattungsunternehmer aus Montgomery mitbrachte, schlug in ihre Versammlung ein wie ein Blitz. Er berichtete, wie an diesem Nachmittag nahe beim Kapitol berittene Polizisten in eine Gruppe schwarzer demonstrierender Studenten hineingestürmt waren und die Demonstranten zusammengeschlagen hatten. Zwei Stunden lang hatten die Polizisten sodann die Krankenwagen daran gehindert, zu den Verletzten vorzudringen. Unser Informant war der Fahrer eines dieser Krankenwagen. Er war sofort nach Selma gefahren, um uns davon zu unterrichten, was geschehen war.
  Die Menge vor der Kirche kochte vor Wut. Der Ruf "Losmarschieren!" wurde immer lauter. Hinter der Menge, auf der anderen Straßenseite, standen die Staatstruppen von Alabama und die lokalen Polizeikräfte mit Sheriff Jim Clark in Alarmbereitschaft. Die Lage war explosiv.
  Da ging ein junger schwarzer Pfarrer zum Mikrophon und sagte:
  "Es ist Zeit, daß wir ein Lied singen."
  Er begann mit der Verszeile:
  "Liebt ihr Martin Luther King?"
  Diejenigen, die das Lied kannten, stimmten in den Refrain ein:
  "Sicherlich, sicherlich, sicherlich, Herr!"
  Dann ging er alle Führergestalten der Bürgerrechtsbewegung durch. Die Menge erwärmte sich mehr und mehr für das Lied und beantwortete jeden Vers:
  "Sicherlich, sicherlich, sicherlich, Herr!"
  Ohne Vorwarnung sang der Pastor plötzlich:
  "Liebt ihr Jim Clark?" - das war der Sheriff!
  "Si...cherlich, Herr!", kam das zögernde, verebbende Echo.
  "Liebt ihr Jim Clark?", wiederholte der Pfarrer.
  "Sicherlich, Herr!", tönte das Echo schon lauter.
  "Liebt ihr Jim Clark?".
  Mittlerweile war der Groschen gefallen:
  "Sicherlich, Sicherlich, Sicherlich, Herr!"
  Dann ergriff Pfarrer James Bevel das Mikrophon.
  "Wir kämpfen nicht nur für unsere Rechte", sagte er, "sondern für das Wohl der gesamten Gesellschaft. Es reicht uns nicht, Jim Clark zu besiegen - können Sie mich hören, Jim? - , wir wollen Sie bekehren. Wir können nicht gewinnen, solange wir unsere Unterdrücker hassen. Wir werden sie lieben, bis sie sich verändern."
  Und Jim Clark veränderte sich wirklich. Als der Feldzug zur Wähler-Registrierung abgeschlossen war, merkte Jim Clark , daß er ohne die schwarzen Stimmen nicht wiedergewählt werden konnte. So begann er, schwarze Wähler zu hofieren. Später bekannte er sogar - wie ich meine, ehrlich - , daß er sich in seiner Einstellung gegenüber den Schwarzen geirrt hätte.



(Quelle: Walter Wink, Angesichts des Feindes - Der dritte Weg Jesu in Südafrika und anderswo, München 1988, S.82ff)

Donnerstag

Der Pazifist greift zum Gewehr

Die japanischen Soldaten näherten sich der verlassenen Amerikanischen Universität ein paar Kilometer außerhalb des kleinen chinesischen Dorfes. Merlin Bishop, der amerikanische Missionar, der dort allein zurückgeblieben war, konnte schon das bedrohliche Maschinengewehrfeuer in der Ferne hören, aber er entschloss sich, die Stellung am Tor der Institution, an der er so lange gelehrt hatte, bis die Invasion die Universität in Richtung Westen vertrieben hatte, zu halten.

Sie kamen die Straße herunter: schmutzig, unordentlich, angespannt und äußerst müde. „Sie sehen so erschöpft aus, wie ich noch keine andere Gruppe je gesehen hab“, dachte Bishop. Die Gruppe war klein, eine Art Vorhut. Sie würden noch ein paar hundert Meter weitertrotten und sich dann niederlassen, ihr Maschinengewehr aufstellen und dann die vor ihnen liegende Straße beschießen. Sie schenkten dem Mann, der da am Tor stand, als sie vorbeigingen, wenig Aufmerksamkeit.

Am nächsten Tag war das nahe gelegene Dort zu einem Feldhauptquartier der Japaner geworden und Bishops Schwierigkeiten begannen. Er hatte erwartet, dass sie begehrliche Blicke auf die Universitätsgebäude werfen würden. Schon bald kam eine Gruppe zu ihm und forderte die Schlüssel.
Bishop lehnte höflich, aber bestimmt ab. Er erklärte, dass die Gebäude der Amerikanischen Missionsbehörde gehörten, dass sie seiner Sorge anvertraut seien und dass ihm nicht gestattet sei, die Schlüssel irgendjemandem auszuhändigen. Im Laufe einer eineinhalbstündigen Diskussion, während der der Missionar immer höflich und freundlich, aber fest geblieben war, überzeugte er die Japaner und sie zogen ab. Leider war das noch nicht das Ende.

Durchschnittlich alle zwei Wochen wechselte die Dorfgarnison und jede neue musste immer wieder neu überzeugt werden. Dabei tat er sein Möglichstes, immer ruhig und freundlich zu bleiben.
Dann gab es eine große Krise. Irgendetwas hatte sich zugetragen, das die Japaner dazu veranlasste, weniger geduldig  und weniger bereit zu sein, die Argumente des Missionars anzuhören. Bishop fühlte die Spannung in der Luft. Er wusste genau, dass die Japaner mit ihm tun konnten, was sie wollten, da er auf sich allein gestellt war. Es gab keinen „neutralen“ Zeugen, den er gegen sie hätte aufrufen können. Der Tod eines Missionars konnte ganz leicht mit einer „verirrten Kugel – es tut uns ja so leid!“ erklärt werden.
Er begrüßte sie also so herzlich wie immer und lehnte ihre Forderung nach den Schlüsseln des Gebäudes mit der üblichen bedauernden Festigkeit ab. Aber diesmal schienen die sehr beredten Argumente die Soldaten nur in Wut zu versetzen. Schließlich stellte der kommandierende Offizier der Gruppe ihm ein Ultimatum.
„Entweder geben Sie die Schlüssel heraus“, forderte er kategorisch, „oder wir erschießen Sie!“
Der Missionar nahm Haltung an: „Ich habe Ihnen gesagt, wie es ist“, erwiderte er ruhig. „Ich wünsche Ihnen nichts Böses, aber ich kann das, was Sie von mir verlangen, nicht tun. Ich kann nicht.“

Der Offizier wählte grimmig drei Mann aus und stellte sie in einer Reihe vor dem Missionar auf.
„Legt an!“ kommandierte er und die Gewehre wurden angelegt. „Geben Sie die Schlüssel heraus!“
„Ich kann nicht. Ich habe ja schon gesagt: Ich kann nicht. Ich hasse Sie durchaus nicht, sondern ich empfinde die freundschaftlichsten Gefühle für Sie. Aber ich kann Ihnen die Schlüssel nicht geben.“
In den Augen der Soldaten leuchtete Bewunderung und Überraschung auf, als ob sie nicht verstünden, was ihn dazu veranlasste, angesichts des Todes so aufrecht dazustehen und zu lächeln.
„Zielt!“ Die Stimme des Offiziers war barsch, als er sich noch einmal an den Missionar wandte. „Ihre letzte Chance“, sagte er. „Geben Sie die Schlüssel heraus!“
Dann trat eine Pause ein. Bishop sah die Männer direkt an, die ihm mit angelegtem Gewehr gegenüber standen. Er sprach zu ihnen von Mann zu Mann, als Bruder zum Bruder.
„Ich kann nicht“, sagte er. „Sie wissen, dass ich nicht kann.“

Es herrschte absolute Stille. Der Missionar sah die Männer mit stetem Blick an. Der Offizier schien unsicher, die Männer fühlten sich unbehaglich. Dann entspannten sie sich, einer nach dem anderen. Sie senkten die Gewehre, ein dümmliches Lächeln trat an die Stelle der Blicke voll grimmiger Entschlossenheit. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber.

Einer vom Erschießungskommando war anscheinend empört und verwirrt über das, was bei der Situation herausgekommen war. Er packte sein Gewehr und guckte wütend.
„Vater“, betete Bishop, „ein wenig mehr Liebe. Lass mich ein wenig mehr Liebe zeigen.“
Der Soldat hatte sich entschlossen. Mit aufgestelltem Bajonett am Ende seines Gewehrs warf er sich plötzlich auf den Missionar.

„Er kam schnell“, erinnert sich Bishop, „und er kam hart. Im letzten Augenblick, als die Spitze des Bajonetts keine 30 Zentimeter vor mir war, wich ich aus. Er verfehlte mich und die Stärke seines Stoßes warf ihn gegen mich. Ich fasste um ihn herum und ergriff mit der Rechten den Gewehrkolben. Ich dachte, dass unter solchen Umständen einem Pazifisten verziehen werden könnte, wenn er zum Gewehr griff! Mit meinem linken Arm umfasste ich seine Schultern und zog ihn eng an mich. Ich war größer als er und er musste zu mir aufsehen. Als sich unsere Blicke trafen, war sein Gesicht von Wut verzerrt.
„Unsere Blicke bohrten sich ineinander und blieben so einige Sekunden lang, die mir wie eine Ewigkeit erschienen. Dann lächelte ich zu ihm hinunter und es war wie ein Frühlingstauwetter, das das Eis auf einem gefrorenen Fluss zum Schmelzen bringt. Der Hass verschwand und nach einem Augenblick der Bestürzung lächelte er zurück.“

Das war dann wirklich das Ende. Einige Minuten später führten die Soldaten wie eine Gruppe verblüffter Kinder den Missionar in ihre Unterkünfte, damit er vor der anstrengenden Reise zurück ins Dorf mit ihnen Tee trinke.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.