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Freitag

Kleine Wahrheitserfahrungen in der Armee

Jean-Baptiste Libouban:

In den Jahren 1958-59 mußte ich aufgrund gesetzlicher Verpflichtung einige Monate in den Reihen der französischen Armee verbringen, während der Algerienkrieg tobte.
Kriegsdienstverweigerung war zu dieser Zeit in Frankreich nicht anerkannt. Ich konnte, nicht ohne Kampf übrigens, einen Status als Sanitäter ohne Waffe bekommen. Diese Monate in der Armee waren sicherlich die reichsten meines Lebens an gewaltfreien Abenteuern. Es war ein idealer Ort zur Erprobung der Kraft der Wahrheit, des Widerstands gegen die täglichen Ungerechtigkeiten, die in dieser Art von Institution häufig vorkamen. Ich versuchte die Kraft des Nein, aber auch die Kraft des Ja, die ganz genauso wichtig ist. Kaum verging eine Woche, in der ich nicht konfrontiert wurde mit Situationen, die es mir einbrachten, auch Militärgefängnisse kennenzulernen, unter anderem das der Kaserne von Reutlingen, wo ich im Sommer 1958 einige Tage verbrachte.

Ich fand Freude daran, Mißbräuche anzuzeigen und diejenigen solidarisch zu unterstützen, die man verfolgte oder bestrafte aus dem einzigen Grund, damit die große Maschine des passiven Gehorsams zur Demütigung laufen konnte. Vor allem seit der Zeit, als ich Sanitäter wurde, und besonders in Algerien stellte ich mich zum Dienen ein und darauf, meine Zeit zu geben ohne zu rechnen, um die Kranken zu pflegen. Außerdem gibt es nichts Befriedigenderes als gute Arbeit zu leisten.
Diese Kraft des Ja wird in der Armee genauso wenig praktiziert wie die andere (d.h. die Kraft des Nein). Die Militärpflicht war nicht nach dem Geschmack meiner Kameraden. Einerseits, angesichts der Schikanen, versuchten sie sich ruhig zu verhalten, um ihre Lage nicht zu verschlimmern. Andererseits gehörte es - dazu passend - zum guten Ton, sich möglichst wenig zu kümmern und zu versuchen, sich gut Zeit zu gönnen. Dieser gängigen Trägheit begegnet die Armee im Allgemeinen mit Zwang und großen Abhandlungen über die Ehre, die Verteidigung der Interessen der Nation und das Pflichtbewußtsein.

Ich verhielt mich also dauernd im Gegensatz sowohl zu den Militärs, als auch zu den Kameraden. Wegen der Arche und der Gewaltfreiheit hatte meine Haltung direkten Zugriff auf die Ereignisse, und zwar ohne jede Rede gegen den Militarismus oder den Kolonialismus. Auf diese Weise kam die Kraft der Wahrheit ins Spiel, weil ich zum Wesentlichen kam.
In den letzten sechs Monaten meiner Zeit in Algerien, angesichts meiner Aktivität im Krankenhaus, bot mir die Armee eine Ausbildung als Unteroffizier des Sanitätscorps an. Als ich dies zurückwies, schlugen sie mir vor, wenigstens Soldat erster Klasse zu werden. Die Armee hielt uns zu dieser Zeit über die gesetzlich verpflichtende Zeit hinaus unter den Fahnen, um eine bedeutende Truppe in Algerien halten zu können. Nach dieser gesetzlichen Verpflichtungszeit bekamen wir den gleichen Sold wie die Freiwilligen; im Dienstgrad aufzusteigen bedeutete also sicher zu sein, eine bedeutende Geldsumme zu bekommen - kein Vergleich zu dem, was ein einfacher Soldat erhielt.
Zu ihrem großen Bedauern hatte ich keine andere Antwort, als ihnen lächelnd zu sagen, daß ich ihr Gefangener sei. Es war mir daher unmöglich, die Ehre und die Vorteile, die sie mir als Anerkennung meiner Dienste anboten, anzunehmen.

Dabei hätte es bleiben können. Aber so kam es nicht. Zu meiner großen Überraschung kündigten sie mir einen Monat vor dem Ende meiner Zeit an, sie gewährten mir einen Monat Erholung am Meer. Außerdem strichen sie die Monate Zusatzdienst, die ich wegen meiner Zeit im Gefängnis hätte anhängen müssen, weil sie nicht als Dienstzeit gerechnet wurden.
Hier, in diesen kleinen Aktionen habe ich die Kraft der Wahrheit begriffen. Unter der Offiziersmütze existiert ein Mensch, der eine Haltung als gerecht und wahr verstehen kann - viel mehr als man zu glauben geneigt ist. Es war übrigens nicht der einzige Fall dieser Art, den ich traf während jener Zeit, die ich in der französischen Armee verbrachte.

Bergarbeiterfrauen in Bolivien: “Befreiung aller Gefangenen!”

Nach sieben Jahren Militärdiktatur versprach am 22. Dezember 1977 Boliviens Präsident General Banzer anlässlich bevorstehender Wahlen eine Generalamnestie für politische Gefangene. Von dieser aber wurden 348 ausgeschlossen.
Aus der Zinnminenstadt Llallagua kamen am 28. Dezember vier Bergarbeiterfrauen, deren Männer von der Amnestie ausgeschlossen waren, mit ihren insgesamt 14 Kindern in die Hauptstadt La Paz, entschlossen, für die Freiheit der Gefangenen in einen unbefristeten Hungerstreik zu treten. Ihre vier Forderungen: Generalamnestie ohne Einschränkung; Wiederaufnahme aller entlassenen, gefangenen oder exilierten Bergarbeiter in ihre früheren Arbeitsstellen; Rückkehr aller Exilierten (ca. 17000 Personen) und Aufhebung der Besetzung der Bergbauzonen durch die Armee.

Nach Abweisung von der “Permanenten Versammlung für die Menschenrechte”, die eine derartige Aktion für unwirksam hielt, wurden sie im Haus des Erzbischofs Mons. Manrique aufgenommen. Drei Tage später schließen sich zwei weitere Gruppen von elf Personen dem Fasten an, das sie in einer Kirche und am Sitz der unabhängigen katholischen Zeitung “Presencia” durchführen. Solidaritätserklärungen kommen am selben Tag von der Gewerkschaftsföderation der Bergleute, der Frauen-Union Boliviens, dem Interfakultären Komitee der UMSA, der katholischen Kirche und der Permanenten Versammlung für die Menschenrechte. Diese lösen eine Welle der Zustimmung über das ganze Land aus.
Beauftragte der Ministerien suchen die Frauen auf und versprechen, “ihre Fälle” zu revidieren. Die Frauen bestehen dagegen auf der Erfüllung aller Forderungen, da es ihnen nicht nur um die eigenen Familien gehe.

In vielen Städten entstehen Unterstützungskampagnen, am 10. Tag fasten allein in La Paz 300 Personen mit, die meisten im Lande fasten in Kirchen. Universitäten, Betriebe und Minen streiken für kürzere oder längere Zeit, um ihre Solidarität auszudrücken. Expräsident Salinas, der mitfastet, leitet ein neu gebildetes Verhandlungskomitee. Die Regierung weist jedes Verhandlungsangebot zurück, bezichtigt die Streikenden der Subversivität und organisiert Gegendemonstrationen. Wegen der anhaltenden Solidaritätskundgebungen versucht General Banzer über den Erzbischof einen Kompromiss durchzusetzen, der aber von den Fastenden zurückgewiesen wird. Um die Koordinierung des Widerstandes zu behindern, organisiert daraufhin die Regierung über von ihr beauftragte Gewerkschaftskoordinatoren einen Streik, der den Verkehr lahm legt.
Schließlich kommt es doch zu Verhandlungen. Die Regierung bricht diese am Abend des 20. Fastentages ab.

In den frühen Morgenstunden des 21. Tages (17. Januar 1978) besetzt die Polizei viele Orte, an denen sich Fastende aufhalten, außer dem Haus des Erzbischofs, und führt sie z.T. in Krankenhäuser, z.T. in Polizeistationen ab. Das ruft Empörung hervor, immer mehr Menschen solidarisieren sich: 1200 Personen fasten. Der Erzbischof protestiert gegen die Übergriffe gegen die Kirche, exkommuniziert die dafür Verantwortlichen und kündigt gemeinsam mit anderen Bischöfen des Landes eine dreitägige Schließung aller Kirchen an, auch ein Sonntag ist davon betroffen. Gegen Abend ist die Regierung zur Fortsetzung der Verhandlungen bereit, um 23 Uhr wird ein Abkommen erzielt, das alle Forderungen der Fastenden erfüllt, um 23.30 Uhr wird das Fasten beendet, die große Mehrheit der Gefangenen und Verhafteten wird sofort entlassen und die erkämpften Rechte Schritt für Schritt verwirklicht.

(Nach: Hildegard Goss-Mayr [Hrsg.]: Geschenk der Armen an die Reichen. Zeugnisse aus dem gewaltfreien Kampf der erneuerten Kirche in Lateinamerika. Wien, 2. Auflage 1980, S. 123 - 126)

Freitag Abend im Jugendzentrum

Pfarrer Reinhard Kolb

Im Frühjahr 1972 erlebte ich das Folgende:

An einem Freitag Abend war im Gemeindezentrum im Jugendkeller Disco für die Älteren ab 20 Uhr. Zu den Gästen gehörten einige recht problematische Jugendliche. Ich erinnere mich an die Verabschiedung eines von ihnen, der eine Haftzeit in der Jugendstrafanstalt Siegburg antreten musste. F. war ein eher labiler junger Mann. Er ist später etwa 35jährig an seinem Alkoholismus zugrunde gegangen.

An jenem Abend kam er angetrunken und begann zu randalieren. Den Leiter der Disco, einen Studenten der Sozialpädagogik, schlug er k.o., kreischend verließen die Mädchen den Disco-Raum. Ich hatte Alkoholverbot gegeben, bei Zuwiderhandlung Hausverbot. Das sprach ich nun F. gegenüber aus, fasste ihn am Arm, um ihn hinauszuführen. Da packte er meine Krawatte, drehte sie und würgte mich. Ich keuchte: „Lass mich los!“ Er: „Erst wenn du mich loslässt!“ Ich ließ seinen Arm los, er meine Krawatte. Doch nun schrie er mich an: „Ich will mich mit dir schlagen! Komm, wehr’ dich!“ Ich erwiderte ihm: „Ich bin Christ. Ich wehre mich nicht. Aber wenn du mich auch zusammenschlagen willst, warte, bis ich meine Brille abgegeben habe, die brauche ich am Sonntag noch.“ Und ich gab meine Brille an einen Danebenstehenden. Da schrie er mich an: „Wenn du dich nicht wehren willst, kann ich mich nicht mit dir schlagen“, und rannte ins Dunkel hinaus, über die befahrene vierspurige B 224, vor dem Gemeindezentrum - und noch einmal hielt ich den Atem an.

aufgeschrieben im Juli 1999


In Mexiko wurde mit Gütekraft ein Mord verhindert

Es war im Jahr 1971, als mein Mann und ich für den Versöhnungsbund in Mexiko tätig waren. Eines Abends saßen wir dort in einer Kneipe. Am Nachbartisch unterhielten sich lautstark zwei Männer. Sie tranken Schnaps. Einer der beiden sprach in dem lebhaften Gespräch eine Beleidigung gegen den anderen aus. Sie gerieten in Streit. Plötzlich sprang der Beleidigte impulsiv auf, zückte ein Messer und ging auf den ersten los.
Wir sahen das alles, aus nächster Nähe. Was konnten wir tun?
Mein Mann handelte schnell. Er stand auf und schlug dem Mann mit seiner Hand von oben so auf das rechte Handgelenk, dass das Messer zu Boden fiel.
Damit zog er den Angriff des Mannes auf sich. Und er stellte sich ihm so gegenüber, dass er ihn anschauen konnte, und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und er fragte ihn sofort: Da muss dir dein Kollege etwas ganz Schlimmes angetan haben, dass du so heftig reagiert hast? Worum handelt es sich denn?
Die einfühlsame Frage machte klar, dass der Schlag auf die Hand kein Angriff gegen die Person des Mannes war, dass mein Mann keineswegs die Absicht hatte, ihm in irgendeiner Weise Schaden zuzufügen, sondern die Wut des Angreifers auf sich zu lenken und einen Mord zu verhindern.
Der Mann konnte durch das anschließende Gespräch beruhigt und die Situation entschärft werden.

von Hildegard Goss-Mayr

Späte Gerechtigkeit für die „Neun Freunde von Rock Hill“

Rehabilitation von US-Bürgerrechtskämpfern in South Carolina nach 54 Jahren

X Rock Hill, Süd-Carolina. Ein Richter in Rock Hill, South Carolina hat am 27. Januar 2015 das Urteil gegen neun schwarze Männer aufgehoben, die 1961 wegen eines SitIns in einem Speiselokal für Weiße eingesperrt worden waren.

54 Jahre, nachdem sie wegen ihres Anti-Rassentrennungs-Protests in der einstigen Textilverabeitungsstadt kamen die 9 Afroamerikaner – auch bekannt als die 9 Freunde – in ihrer Sonntagskleidung erneut zum Gericht, als ob der Richter sie erneut verurteilen wolle. Ein Mann ging am Stock, ein anderer saß im Rollstuhl. Einige waren dicker als damals und einige hatten weniger Haar als bei ihrer Inhaftierung 1961, als sie zu 30 Tagen Zwangsarbeit im Strafvollzug des Stadtgefängnisses verurteilt wurden.

Das Gericht kam damals zusammen. Der Richter verlas ihre Namen. Jeder stand auf oder hob die Hand, als er aufgerufen wurde. Jedes Gesicht war ernst. „Angeklagt des Hausfriedensbruchs“ sagte der Richter nach jedem Namen. Urteil: „Schuldig“. Strafe: 100 $ oder 30 Tage. Haft.

Aber an diesem Tag im Jahr 2015 beantragte die Staatsanwaltschaft von South Carolina, die Einträge im Strafregister zu löschen und die Urteile wegen Hausfriedensbruchs aufzuheben.

New York Times, 28.01.2014

Siehe auch, Bericht und Video:
http://www.nytimes.com/2015/01/29/us/south-carolina-court-clears-friendship-nine-in-1961-sit-in.html

Donnerstag

Achtung vor dem Gegner

"Im Geheimnis eines Seufzers kann das ungesungene Lied des Friedens keimen. Klagemauer Nacht, von dem Blitze eines Gebetes kannst du zertrümmert werden."           

So beginnt ein Gedicht von Nelly Sachs. Von beidem will ich erzählen, sowohl Geheimnis eines Seufzers, aus dem ahnungslos das ungesungene Lied des Friedens keimen kann, als auch vom Blitze eines Gebetes.

Die Seufzer galten der Herausforderung, der ich mich unentrinnbar stellen musste, damit die „Klagemauer Nacht von dem Blitze eines Gebetes zertrümmert werden“ konnte. Doch davon ahnte ich nichts in jenen Tagen, als in Lateinamerika eine Militärdiktatur nach der anderen errichtet wurde, während ich  als blutjunge Krankenschwester in Elendsvierteln Not zu lindern versuchte. Egal an welche Grenze oder in welch entlegenen Winkel eines Landes ich kam, überall begann die Willkür der Stiefel zu herrschen. Sogar in jenem winzigen Nest hoch in den Anden, in dem es nichts zu bewachen gab, weder Grenze noch Straße oder Bahn, Bergwerk oder Bank, nicht einmal ein Geschäft, nichts. Nur eine winzige Schule, in der der Lehrer spanisch und die Kinder quechua sprachen.
Vor meiner Abreise nach einem kurzen Zwischenstopp in der Heimat, hatte ich  einem Freund verraten, dass ich mich einer Guerillabewegung anschließen wolle. Es sei doch sinnlos innerhalb eines übermächtigen Systems direkter und struktureller Gewalt „Pflasterl zu picken“, anstatt zu verhindern, dass Menschen so zugerichtet werden. Als letzte Gegenrede schob mir jener Freund schweigend ein Buch über Gandhi in eine Außentasche meines Rucksacks. Dort fand ich es zwei Wochen später, angekommen „am Ende der Welt“ nach einem sechzehnstündigen Ritt durch eine atemberaubende Landschaft über einen Pass von 5200m. Bei zugig flattrigem Kerzenschein las ich darin, erstaunt, kopfschüttelnd, voll Widerspruch, ungläubig. Eingemummelt in meinen Schlafsack in dem armseligen Quartier raubte mir Gandhi oft den dringend nötigen Schlaf. Noch ein paar Monate würde ich hier als Krankenschwester arbeiten, dann eintauchen in den Kampf um eine gerechtere  Welt.

Aber Gandhis Weg hält mich auf Trab, wenn ich hoch zu Ross stundenlang unterwegs bin von einem Dorf zum andern. Überall erwartet mich mehr Arbeit, als ich allein bewältigen kann. Zu Fuß schaffe ich die steilen Wege  zwischen 3000 und 4500m Höhe nicht. Die armen Bauern haben weder Reit- noch Lasttiere, nur ganz wenige können sich einen Esel leisten. Die steilen, steinigen Felder reichen gerade für ihre Schafe. Also habe ich mir ein Pferd ausgeliehen, denn ich brauche fast täglich eines.  Auf der Koppel der Militärpolizei hatte ich eines entdeckt, das anscheinend nie gebraucht wurde. Es war der Hengst und die Militärpolizisten hatten sich einen ganz besonderen Spaß erwartet, als sie mir die Ausleihe genehmigten. Aber das wäre nun eine andere Geschichte. Nur so viel zum Verständnis meines Berichtes: Von Pferden hatte ich keine Ahnung. Ich ließ mich von ihnen mit großem Vergnügen durch die Gegend tragen. Das war alles.  Bei meinem Annäherungsmanöver an den Hengst konnte ich mich nur auf meine Intuition verlassen. Die verstand der „schwarze Teufel“, wie ihn die MPs nannten, offensichtlich besser als deren Schläge.  Noch hatte ich keine Ahnung, welch besonders gewalttätigen Ruf die Militärpolizei in jener Gegend hatte.
In den einsamen Stunden zu Pferd beschäftigt mich ein spezieller Gedanke aus meiner Nachtlektüre ganz besonders: Gandhi rät, den Gegner durch Geduld und Mitgefühl von seinem Irrtum abzubringen. Wiederholt war da die Rede davon, wie wichtig im gewaltfreien Kampf die Achtung vor dem Gegner sei. Die Achtung vor dem Gegner, wie geht das? Wie bewahrt man sich die Achtung vor dem Gegner, wenn man nur widerwärtige Abscheu fühlt oder nackte Angst?

Jedes Mal tauchen vor mir Bilder auf -  wie das einer wehrlosen Frau, die von zwei Militärpolizisten an ihren langen Haaren aus einer Blechtonne gezogen und mit den Gewehrkolben brutal zusammen geschlagen wird oder-
 wie ich selber vollkommen ausraste in hilfloser Wut über die menschenverachtenden, zynischen Antworten eines Firmenchefs.  Sprachlos geworden hole ich mit lautem Räuspern den dicken Patzen Wut aus meiner tiefsten Tiefe und spucke ihn auf seinen schön polierten Mahagonitisch.
Ich weiß nicht, wie das geht: Achtung vor dem Gegner! Aber ich weiß, dass Gandhi auch  solche Gegner meint, wie sie in meiner Erinnerung auftauchen.
Dass meine fast zwanghafte Auseinandersetzung mit der „ Achtung vor dem Gegner“  etwas mit meiner Kindheit zu tun haben könnte, kam mir damals überhaupt nicht in den Sinn. Dabei hatte ich doch von Kindesbeinen an geübt, wie man einen Gegner durch Verachtung strafen kann. Ganz unfreiwillig hatte ich entdeckt, wie ich meinen ehemals geliebten Volksschullehrer bestrafen konnte. Die Straftechnik ergab sich aus einer psychosomatischen Reaktion:  Ich war vor Entsetzen erstarrt, als er meinem Bruder und seinem Freund befahl, vor der ganzen Klasse die Hosen auszuziehen und sich auf die erste Bank zu legen, während er den Riemen aus seiner Hose zog. Dann forderte er die Klasse auf  laut zu zählen. Zehn Schläge für jeden. Und mit jedem Schlag wuchs mein Grauen, denn was sich im Gesicht meines  Lehrers breit machte, ging über mein Entsetzen hinaus: Es gefiel ihm! Ja, das Schlagen oder die Schmerzensschreie bereiteten ihm sichtlich Vergnügen.
Daran starb meine erste große Liebe und ich erstarrte. In den darauffolgenden Stunden konnte ich nicht antworten und an den kommenden Tagen entdeckte ich, dass ich, bis dahin eindeutig seine Lieblingsschülerin, ihn damit bestrafen  konnte, dass ich ihn bockig schweigend anstarrte. Ich antwortete nicht mehr auf seine Fragen,  reagierte weder auf seine Drohungen noch auf sein Gebrüll. Ich sah wie ich ihn quälen konnte und entdeckte, ohne es wirklich zu begreifen, wie Verachtung den Gegner klein macht.

Der Lehrer wurde irgendwann versetzt aber mein Vater blieb. An ihm exerzierte ich von da an meine Entdeckung, wenn er meine Mutter mit seinen unerträglichen Schikanen terrorisierte. Ich ignorierte ihn so gut es ging, grüßte ihn nicht, schaute bewusst an ihm vorbei, antwortete auf keine seiner Fragen, verließ, wenn es irgendwie ging, jeden Raum, sobald er ihn betrat, übte gezielt Verachtung des Gegners,  obwohl ich damals - oder vielleicht weil ich noch kein einziges Wort für mein Tun hatte.  Aber meine Spucke auf dem Mahagonitisch des Firmenchefs zeigt, wie weit ich nach Jahren des Trainings in der Disziplin „ Verachtung des Gegners“ gekommen war.
Nun aber sitzt „die Achtung vor dem Gegner“ wie ein Stachel in mir. Ich bin viel unterwegs mit “meinem Hengst“, komme oft sehr spät zurück ins Dorf, bringe dann immer mein Pferd zurück auf die Koppel der Militärpolizei, schaue meistens bei Kranken im Ort vorbei, richte  noch die nötigsten Dinge her für den kommenden Tag. So auch in jener Nacht. Im winzigen Licht einer Kerosinfunzel suche ich zusammen, was ich für den morgigen Tag brauche.

Plötzlich ist da ein Geräusch hinter mir. Und noch bevor ich mich umdrehen kann, umklammern zwei Pranken meinen Hals. Drücken zu.  Fest. Ich hatte nach der Kerosinfunzel greifen wollen, als ich das Geräusch hörte. Die fiel zu Boden und ein riesiger Militärstiefel trat auf sie. Ich ringe nach Luft, winde mich sinnlos, möchte schreien, kein Laut, kein Atemzug, mein Kopf, meine Ohren platzen,  meine Sinne schwinden – kurz bevor ich das Bewusstsein verliere, schießt es wie ein Blitz durch mein Hirn: Die Achtung vor dem Gegner!
Bevor ich ohnmächtig werde, nehme ich noch wahr, wie meine Hände zitternd, flattrig über die Pranken streicheln, die mich würgen und ---  wie der Militärpolizist mich loslässt.
Ich liege am Boden, kann nicht atmen, weiß nicht, wo ich bin. Mein Hals, was ist mit meinem Hals?   Ich ersticke. Es ist stockdunkel. Ich möchte aufstehen, aber jemand hält mich fest. Plötzlich sagt eine leise, dumpf gepresste Männerstimme direkt neben mir: Porque? Porque has hecho esto? Warum? Warum hast du das getan?
Was?  Was habe ich getan?  Ich kann nicht reden. Mein Hals ist zu. Ich würge, ich kann den Speichel nicht schlucken, ringe nach Luft, bringe kein Wort heraus.
Ganz kurz blitzt vor meinem Gesicht eine Taschenlampe auf. Ich sehe eine Hand, eine Taschenlampe, mehr nicht. Ich weiß nicht wie lange ich schon da liege. Ich friere entsetzlich, wage aber nicht, mich zu rühren, versuche sogar mein Schlottern vor Angst und Kälte zu unterdrücken. Panik vor dem neben mir und Panik vor dem in mir: die Verletzungen im Hals drohen mich zu ersticken.
Langsam dämmert mir, was geschehen ist und dass es jeden Augenblick wieder passieren kann.  Der Mann ist ganz nahe. Aber er fragt immer wieder: Porque? Porque has hecho esto?
Er fragt mich, warum ich das getan habe. Allmählich begreife ich:  Er fragt nach dem Blitz in meinem Gehirn:  „die Achtung vor dem Gegner“, die meine Hände bewegte um seine zu streicheln. Wenn ich reden könnte, würde ich ihm sagen, dass nicht ich es war, die das getan hat. Es geschah durch mich.
Nachdem ich nichts sagen kann und mich nicht zu rühren getraue, beginnt er zu reden: „Du, du hast über meine Hand gestreichelt. Warum hast du das gemacht? Das hat noch keine, keine einzige Frau getan.“
Er redet und ich friere, aber je länger er redet, umso mehr verschwindet meine Angst. Mein Hals ist so geschwollen ,dass ich immer wieder meine, doch noch zu ersticken. Er redet mit leiser, heiserer Stimme von seiner Kindheit. Ich verstehe nicht alles. Irgendwann habe ich den Eindruck, dass er weint.
Nach qualvoll endloser Zeit höre ich Schritte. Er packt meinen Arm. „Hör gut zu! Zu niemand ein Wort! Du zeigst mich nicht an! Dafür lass ich die Weiber in Ruh!“
Die Schritte sind verhallt. Er steht auf und geht, der Comandante.

Schlotternd rapple ich mich hoch, finde Gott sei Dank eine Kerze und Zünder, suche nach einem abschwellenden Medikament, wickle ein Dreieckstuch mit Salbe um meinen Hals und schleppe mich todmüde und halb erfroren zu meinem Zimmer, verkrieche mich in meinen Schlafsack und weiß, dass ich gerettet bin:
Die Achtung vor dem Gegner hat mich gerettet, obwohl ich gar nicht richtig begriffen habe, wie das geht oder was da vor sich ging in jenem Augenblick, als der „Blitz eines Gebetes“ den Würgegriff löste. Was für eine Kraft ist das, die meine Hände bewegte?
Keine andere Kraft hätte mich retten können, kein Selbstverteidigungstrick, erst recht keine Gewalt. Und wenn ein einziger halbverstandener Satz aus Gandhis Lehre mehr bewirkt als ich mir überhaupt vorstellen kann, wozu dann mit der Waffe kämpfen?
Meine Augen fallen mir zu in der Gewissheit, dass ich von nun an geborgen bin in dieser Kraft und vor allem: dass keine andere Kraft unser beider Schicksal hätte wenden können.  Denn zutiefst in mir weiß ich, dass nicht nur ich gerettet worden bin in dieser Nacht.
Nelly Sachs sagt da zum Abschluss ihres Gedichts:“ Und alle, die Gott verschlafen haben, wachen hinter den stürzenden Mauern zu ihm auf.“
Eine Woche lang war ich sehr krank. Ich hatte hohes Fieber, hustete und mein Hals wollte nicht abschwellen. Die Würgemale waren noch viel länger zu sehen. Und obwohl ich sie verdeckte, hatte ich immer den Eindruck, dass alle Menschen um mich herum wussten, was geschehen war.
So lange ich dort war, hielt sich der Comandante an sein Versprechen. An meinen Teil hielt ich mich bis  vor wenigen Jahren, denn meine Kehle schnürte sich augenblicklich zu, wenn ich an das Ereignis dachte. Auch ohne daran zu denken, passierte es  mir häufig, dass ich plötzlich nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen konnte. Und noch immer erzähle ich nicht gerne davon und wenn ich es tue, nur um zu bezeugen, dass Gewaltfreiheit die innere Auseinandersetzung braucht mit dem, was kaum zu begreifen und dennoch viel wirksamer ist als alle Gewalt.
Inzwischen sind mehr als vierzig Jahre vergangen und ich bin noch immer am Üben, von Begegnung zu Begegnung. Vor allem dann, wenn ich diese am liebsten vermeiden würde, wie die mit den martialisch aufgetakelten Burschen in ihren Springerstiefeln, die mir fast jede Nacht entgegenkamen auf meinem Heimweg. Schon das Dröhnen ihrer Stiefel machte mir Angst. Sobald ich sie sah oder hörte, wechselte ich  die Straßenseite.

Eigentlich kenne ich keinen einzigen solchen Typen, weiß nichts von ihrem Leben, weiß nicht einmal ob die links oder rechts oder irgendwas Politisches sind, nehme aber von vornherein an, dass sie gewalttätig sind. Zumindest verbal, so laut und derb wie die sich gebärden. Skinheads, Rechtsradikale, Gesindel jedenfalls. Doch ich kenne keinen einzigen.
Ganz fest nehme ich mir vor, die Straßenseite nicht mehr zu wechseln. Es dauert Wochen. Denn jedes Mal, wenn ich es versuchen möchte, kommt mir gerade diese Gruppe noch lauter, martialischer, besoffener vor als die vorige. Lieber doch erst morgen.
Endlich, nach Wochen gelingt es mir geradeaus weiter zu gehen. Sie machen Platz, lassen mich vorbei ohne mich zu anzurempeln, ohne mich zu beschimpfen. Wie ganz normale Leute. Wahrscheinlich sind sie das ja, wollen nur nicht so aussehen.

Viele Wochen lang übe ich: Menschen sind sie, einfach nur Menschen wie ich. Nicht einmal Gegner, nur Gegenüber. Ihnen gebührt meine Achtung wie allen anderen Menschen auch. Einige müssen mich schon kennen, denn eines Nachts marschiere ich durch ein Spalier und wir grüßen einander. Gerne würde ich stehen bleiben und ein Gespräch beginnen, aber dafür reicht mein Mut noch nicht.
Aber die Übung hat mich vorbereitet für einen anderen Augenblick: Ich stehe am helllichten Tag an einer Bushaltestelle und beobachte eine Gruppe junger Männer, die heftig streiten. Keine Ahnung in welcher Sprache, aber das Gewaltpotential steigt hörbar bei jedem Wort. Da sehe ich ein Messer aufblitzen, Blut spritzt von der Hand eines Burschen, der offensichtlich versuchte, dem anderen das Messer zu entreißen. Zugleich sehe ich, dass ein Bus kommt. Es ist nur eine Station bis zur Unfallchirurgie. Blitzschnell bin ich mitten in der Gruppe, packe den Blutenden am Arm und ziehe ihn zum Bus. Er folgt brav wie ein Kind. Dabei bin ich viel kleiner, rund und alt, keine beeindruckende Erscheinung, aber keiner hindert mich. Nur den Buschauffeur muss ich anbrüllen, dass er endlich fahren soll, anstatt mir zu erklären, dass er nicht die Rettung sei.
Während ich im WC der Unfallambulanz das Blut des jungen Mannes aus meinem Pullover spüle, wird mir erst klar, was ich da getan habe und auch, dass ich es niemals getan hätte ohne die wochenlange Übung mit meinen martialischen Nachtwächtern.

Gandhi sei Dank!

The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan

TV-Kritik: The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan, Nathan der Weise
 Von Daland Segler

Eric Friedler erinnert in einer spannenden Dokumentation an den fast vergessenen israelischen Friedensaktivisten Abie Nathan.

„Ev’rybody’s talkin’ `bout...“ beginnen John Lennon und Yoko Ono jeweils die Strophen ihres Songs „Give Peace a Chance“. Zu denen, über die jeder redet, gehört demnach auch ein „Abie Nathan“. Davon abgesehen, dass der Name in den schriftlichen Wiedergaben des Liedtextes nicht auftaucht, sondern nur in einer Live-Version, weiß heute außerhalb Israels so gut wie – nein: so schlecht wie – kein Mensch mehr, wer Abie Nathan war.

Das hat der Mann nicht verdient. Und deshalb ist der Dokumentarfilmer Eric Friedler umso mehr zu loben, dass er Abie Nathan dem Vergessen entrissen hat. Denn der Israeli war so etwas wie eine Verschmelzung aus Mahatma Gandhi, John Lennon und Mutter Teresa. Klingt übertrieben. Ist es aber nicht. Denn die Taten aufzuzählen, mit denen dieser Mann die Menschheit bereichert hat, dafür reicht nicht der Platz einer Filmkritik noch der eines anderthalbstündigen Dokumentarfilms, wie ihn die ARD heute Abend (wieder einmal viel zu spät) zeigt.

So wird die rastlose Arbeit dieses Helfers der Notleidenden nur angerissen: Er reiste von den sechziger bis zu den neunziger Jahren immer wieder in die Katastrophengebiete wie Biafra, Kambodscha oder Äthiopien, um den Hungernden Lebensmittel und andere Hilfsgüter zu bringen – auf eigene Kosten und nur von ein paar Freunden unterstützt. Es sei „einfach die Pflicht eines jeden menschlichen Wesens, hierher zu kommen und zu helfen“, sagte er 1968 in Biafra, und wer die verhungernden Kleinkinder auf den Armen der Helfer sieht, muss schon aus Stein sein, um nicht erschüttert zu sein (und daran zu denken, dass es heute im Südsudan die gleichen Bilder wieder gibt).

Der selbstlose Helfer war nur eine der erstaunlichen Seiten des Abie Nathan, der findige Friedensaktivist eine andere. Überzeugt davon, dass Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn möglich sein müsse, provozierte er die Regierung seines Landes, das damals noch „in der Kibbuz-Atmosphäre verharrte“, wie Autor Dan Almagor formuliert, immer wieder mit pazifistischen Aktionen. So flog der als Pilot ausgebildete Nathan mitten in den Krisenzeiten 1966 von Israel nach Port Said in Ägypten oder durchquerte mit einem Schiff den Suezkanal – und nahm damit vorweg, was später politische Realität wurde: die Friedensverhandlungen zwischen Israel und Ägypten.

Er ging 1978 in den Hungerstreik gegen den Siedlungsbau (wer würde das im heutigen Israel tun?); und drei Jahre bevor Schimon Peres und Yassir Arafat den Friedensnobelpreis bekamen, schüttelte Abie Nathan 1991 die Hand des Palästinenserführers und wurde dafür ins Gefängnis gesteckt – obwohl der einflussreiche Schimon Peres (90) sich heute im Interview als „sehr guten Freund“ des Pazifisten bezeichnet. Aber der Nestor der israelischen Politik sagt eben auch solche Sätze wie: „Eine Regierung will doch immer nur Ruhe“.
Schwimmende Radiostation

Seine Prominenz und die Mittel für seine wagemutigen Alleingänge erlangte der 1927 geborene und in Indien aufgewachsene Nathan dann durch eine dritte, seine John-Lennon-Seite: Er kaufte sich in Holland ein Schiff und ließ es zu einer schwimmenden Radiostation umbauen, nach dem Vorbild der in den sechziger Jahren in der Nordsee stationierten Piratensender wie „Radio Veronica“ oder „Radio Caroline“. Nathan taufte seinen Kahn „Peace“, und wenige Seemeilen vor der Küste Israels strahlte von 1973 an „The Voice of Peace“ aktuelle Popmusik und Friedensbotschaften aus, angeblich „somewhere from the mediterranien“, irgendwo vom Mittelmeer.

Der Sender wurde so populär, dass Nathan mit Radiowerbung Geld scheffeln und damit seine humanitäre und pazifistische Arbeit finanzieren konnte. Er fand Unterstützung bei den Kulturschaffenden auf der ganzen Welt, neben George Harrison, Joan Baez oder Gloria Gaynor zählten Schauspieler wie Michael Caine, Dirigenten wie Zubin Mehta oder Daniel Barenboim zu den Helfern des Helfers, und natürlich Lennon und Yoko Ono, die den Menschenfreund einen „weisen Mann“ nennt.

Eric Friedler hat die heute noch lebenden Freunde Nathans alle vor die Kamera bekommen, und sie zeichnen das Bild eines Mannes voller Leidenschaft für seine Sache. Es fällt kein einziger negativer Satz über Nathan, sieht man einmal von der Randbemerkung ab, es habe „keine Frau lange mit ihm ausgehalten“. Denn der Mann, der in Tel Aviv ein rasch populäres Restaurant namens „California“ eröffnet und den Hamburger nach Israel gebracht hatte, galt auch als Playboy, wie ein Berufener berichtet: Rolf Eden.

Friedlers Arbeit ist eine gelungene Abfolge von Interviews und (noch im 4:3 Format) eingeblendeten Szenen aus dem Leben Abie Nathans, mit flottem Soul und Funk aus den siebziger Jahren unterlegt und einigen Schwarz-Weiß-Fotomontagen im Stil von Kulissen aufgelockert. Er selbst kommt selten zu Wort – umso bedrückender ist die Sequenz, als er 1993 das Ende seines Senders bekannt gibt und sein Schiff versenkt: Die Menschen brauchten seine Botschaft nicht mehr. Ein Irrtum, wie wir heute wissen.

Aber damals schien das Osloer Friedensabkommen auf bessere Zeiten in Nahost hinzudeuten und „The Voice of Peace“ überflüssig zu werden. Die Unterstützer blieben weg, und Nathan fehlte nun das Geld für seine Missionen. Er starb verarmt, wie es im Nachspann heißt, 2008 in Tel Aviv, und auf seinem Grabstein steht: „Ich habe es versucht“. Er hat es nicht nur versucht, das belegt dieser Film, aber es gilt auch heute, was Israels Oberrabbiner Israel Meir Lau im Interview über die Katastrophe in Biafra sagt: „Die Menschheit hat nichts gelernt.“

„The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan“, ARD, 7. Januar, 22.45 Uhr.

Samstag

Überfall beim Trampen

  Als ich auf dem College war, trampte ich oft durchs ganze Land. Das war in der Mitte der 60er Jahre. Ich reiste alleine und auch mit anderen Freunden zusammen. Es gab eine Reihe von Episoden, bei denen ich angegriffen wurde. Da kann ich Dir ein Beispiel geben.
  Du mußt verstehen, ich bin Quäkerin und bin erfüllt von der Idee, daß du immer annehmen kannst, daß du eine gewaltfreie Lösung findest. Ich glaube, das erste Mal, als es passierte, da war ich auf dem Weg, einen Freund in PA zu besuchen, und ich wurde rausgelassen bei - ja, ein Freund hatte mich nach NJ gefahren und nun wartete ich auf einen Bus, um nach Philadelphia rein zu kommen. Da kam ein Junge daher und sagte:
  "Ich fahre nach Philadelphia. Willst Du mitfahren?"
  Und ich Idiot akzeptierte es. Auf dem Weg sagte er:
  "Ich geh' mal raus und hole Wasser."
  Er ging zu so einem verlassenen Haus. Ich war da gerade mal 19 und sehr naiv zu der Zeit. Er ging also in das Haus, um nach Wasser zu sehen. Schließlich folgte ich ihm, und da griff er mich an. Er warf mich nieder und war drauf und dran, mich zu vergewaltigen. Ich hatte doch gerade dies Gespräch mit ihm. Ich glaube, ich war verstört, aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich sprach weiter:
  "Ich will keinen Sex mit Dir haben. Ich will nicht, daß Du mich vergewaltigst."
  Ich kam aus der ganzen Geschichte raus mit Gewaltfreiheit und gab ihm diese klare Erwiderung. Endlich hörte er auf und sagte:
  "Du bist ja äußerst ernst, nicht wahr?"
  Er nahm mich mit zurück in den Wagen, fuhr mich nach Philadelphia, gab mir zwanzig Dollar und fuhr davon.



(Quelle: Patty Lyman, Seattle, Interview mit Uwe Painke, Sept.92)

Donnerstag

Gefahr als Gelegenheit

M hatte sich oft gefragt, wie sie in der Prüfung reagieren würde und ob diese Prüfung überhaupt käme. Würde sie wütend werden? Würde sie wie ein Feigling reagieren? Oder würde sie irgendwie das Richtige und Tapfere tun? Sie wusste es nicht. Aber sie war bereit, es zu probieren und zu dann zu sehen.

Es war am 2. Dezember 1956, dem Glückstag für die Bus-Boykotteure in Montgomery, Alabama. Der Boykott hatte 381 Tage gedauert und sie feierte den Sieg oder den „Einsteige-Tag“, indem sie mit Würde in einem Bus fuhr.
M war eine große Frau. Als sie an ihrer Haltestelle ausstieg, sah sie einen jungen Weißen, der ebenfalls ausstieg. Er hatte einen harten Blick. Als der Bus anfuhr, kam er schnell auf sie zu und schlug ihr, so stark er konnte, ins Gesicht. Der Schlag war so stark, dass sie fiel. Er stand über ihr und ballte die Fäuste. Ein Wagen mit Weißen kam um die Ecke und die Türen öffneten sich. Offensichtlich hofften sie, sie könnten Ärger machen. Aber niemand gab ihnen einen Vorwand. M’s Gruppe nahm die Regel, die sie sich auferlegt hatte, ernst: „Wenn sich ein Zwischenfall ereignet, greif nicht zugunsten der Person, die angegriffen worden ist, ein. Wenn du das nämlich tust, wird das nur Weiße dazu bringen, dem Angreifer zur Hilfe zu kommen. Daraus ergibt sich eine Situation der Gewalt.“

M blieb einen Augenblick liegen und dachte darüber nach. Später gestand sie, dass sie zwar weder ein Rasiermesser noch eine andere Waffe bei sich trug, aber in dem Augenblick ihren Gegner gerne „in Scheibchen“ geschnitten hätte. Aber sie unterdrückte diesen Impuls und dachte an die Trainingsanweisungen: „Wenn dich jemand schlägt, schlage nicht zurück. Wenn dir Gewalt angetan wird, reagiere nicht mit Gewalt. Andererseits sollst du weder Feigheit noch Furcht zeigen, wenn es dir irgend möglich ist.“ Sie drehte sich auf dem Boden um und saß ganz bewusst ein paar Sekunden da, ehe sie aufstand. Sie klopfte sich den Staub ab und wischte sich das Blut vom Mund.
Sie ging drei oder vier Schritte und blieb stehen. Sie vermied es, den jungen Mann anzusehen. Niemand griff zu ihren oder zu seinen Gunsten ein. Das war eine unerwartete Wende der Ereignisse. Es verwirrte ihn sehr. Er sah schnell ringsum, sprang in den Wagen und floh mit den Männern, die auf ihn gewartet hatten.

Erst am Abend zuvor war M zum ersten Mal so weit, dass sie Gott und „dem kleinen Mann“ (Dr. Martin Luther King, dem Führer der Bewegung) dieses Versprechen geben konnte: „Morgen“, so hatte sie im Stillen versprochen, „werde ich, wenn ich in den Bus steige und deshalb geschlagen werde, nicht zurückschlagen.“

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Die Frauen von Medellin: Trinkwasser für das Barrio

Die Frauen von Medellin: Trinkwasser für das Barrio

Medellin liegt in einem Tal: die moderne Großstadt unten in der Talsohle, an den Hängen ziehen sich die Elendsviertel (Barrios) hinauf. In den 1960er Jahren lebten dort in einem sehr großen Barrio etwa 30 000 Menschen unter katastrophalen Bedingungen: Sie hatten weder Strom noch Straßen und, was neben der Arbeitslosigkeit das Schlimmste war, es gab keine Trinkwasserversorgung. Das führte u. a. zu hoher Kindersterblichkeit.
Die Bewohnerinnen mussten sich das Wasser unten im Tal an Zapfstellen holen und es dann zwei Kilometer den Berg hinaufschleppen. Außerdem mussten sie auch noch dafür bezahlen. – In diesem Barrio baute ein Priester Basisgemeinden auf. Die Menschen lasen gemeinsam in der Bibel und entdeckten, dass sie Würde und Rechte besaßen. Sie lernten, dass sie ihre Situation nicht einfach hinnehmen müssten, sondern dass es eine Möglichkeit gab, das Unrecht nicht mit neuem Unrecht, sondern aus der Kraft, die Gottes Frohe Botschaft schenkt, also aus der Liebe, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, zu überwinden. Ein Gütekraft-Seminar stärkte sie und zeigte ihnen methodische Möglichkeiten, ihre neu entdeckte Kraft anzuwenden. Eine Gruppe von Frauen beschloss daraufhin, sich zunächst für die Trinkwasserversorgung einzusetzen.

Zuerst versuchten sie es mit einem Dialog. Medellin ist eine reiche Stadt von mehr als einer Million Einwohnern. Es gelang den Frauen, zur Stadtverwaltung vorzudringen, um dort ihr Problem vorzutragen. Sie baten darum, dem Bairro Trinkwasser zuzuleiten. Die Antwort war: Zurzeit gebe es kein Geld dafür, aber in ein paar Monaten werde man mit ihnen über das Projekt sprechen, sie sollten nur ruhig wieder nach Hause gehen. Die Frauen gingen wieder nach Hause und warteten, aber nichts geschah.
Sie erkannten, dass das an dem Missverhältnis der Machtverteilung zwischen ein paar armen Frauen und der Stadtverwaltung lag. Um als Verhandlungspartner mehr Gewicht zu bekommen, wollten sie ihre Machtstellung dadurch verbessern, dass sie einflussreiche Gruppen zur Solidarität einluden. Wen könnten sie am ehesten ansprechen und für sich gewinnen? Sie setzten auf die wohlhabenden Frauen unten in der Stadt. Diese Frauen würden sich vermutlich für sie einsetzten, wenn sie von der Situation der armen Frauen erführen. Die Frauen aus dem Barrio bildeten zehn Gruppen. An einem festgesetzten Tag stiegen sie, jede mit ihrem jüngsten Kind auf dem Arm, hinunter zur Plaza, dem schönen, alten Platz mitten in der Stadt, der von Boutiquen umgeben ist, in denen die gut Situierten einkaufen. In der Mitte der Plaza steht ein großer Springbrunnen, aus dem Tag und Nacht Wasser fließt. Der Wind trägt Wasser über den Rand des Brunnens hinaus, sodass um ihn herum Pfützen auf dem Pflaster entstehen. Die erste Gruppe nähert sich dem Brunnen. Die Frauen fangen an, ihre Kinder zu waschen, aber nicht etwa in dem Brunnen, sondern in den Pfützen. Gleich bleiben wohlhabende Frauen stehen und sagen: „Ihr seid verrückt, ihr seid dumm! Wie könnt ihr eure Kinder in dem schmutzigen Wasser waschen? Sie werden daran sterben!“ Das ist die Gelegenheit! Die armen Frauen können den reichen Frauen von ihrem Leid erzählen! Sie sagen:  „Dies ist ein Symbol. Wir leben da oben in dem Barrio, da gibt es zwar Regenwasser, aber kein Trinkwasser. Wir haben die Stadtverwaltung gebeten, aber sie hat sich bisher nicht um eine Trinkwasserleitung für uns gekümmert.“ Kaum hat das Gespräch begonnen, da verjagen Polizisten die armen Frauen: „Hier werden keine Kinder gewaschen!“ Nach zehn Minuten kommt die zweite Gruppe. Die Szene wiederholt sich fünf oder sechs Mal: Immer wieder kommt eine neue Gruppe, immer mehr Polizei kommt hinzu und immer mehr Frauen bleiben stehen. Als ein Polizist eine der armen Frauen und ihr Kind mit dem Knüppel schlägt, tritt eine wohlhabende Frau dazwischen: „Mein Herr, wenn Ihre Frau in der Situation wäre, würde sie dasselbe tun!“ Das wirkt. Schließlich bilden arme und wohlhabende Frauen zusammen eine kleine Gruppe, die sich einige Male trifft. Nach wenigen Wochen sind sie gemeinsam bei der Stadtverwaltung, es kommt zu einem Gespräch. Die armen Frauen haben inzwischen auch ihre Männer dafür gewonnen, sich aktiv für ihre Versorgung mit Trinkwasser einzusetzen: Sie erklären sich bereit, die Gräben für die Wasserleitung auszuheben, um die Kosten der Stadtverwaltung zu senken.
Die Wasserleitung wurde gebaut.

Ein Stein oben am Hügel erinnert an das Ereignis. Die Inschrift lautet: „Zu Ehren der Frauen vom Barrio Santo Domingo, die den Mut hatten, für die Wasserleitung zu kämpfen“. Aus dieser ersten Erfahrung der Frauen mit der Kraft, die in ihnen liegt, entstanden weitere Initiativen. Als der Priester (aufgrund einer Anzeige) versetzt wurde, waren die Armen im Barrio in der Lage, selbstständig weiterzuarbeiten.

Nach: Goss-Mayr, Hildegard (2002): Elemente der Gütekraft. An Hand von Beispielen erklärt. In: gewaltfreie aktion, Jg. 34, H. 131, S. 17f.