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Freitag

Wien 1945: Russische Soldaten verhalten sich menschlich.

 Wien war bombardiert worden, der Krieg verloren, die Russen marschierten ein. Und sie hatten das Recht des Siegers, das Recht, sich alles zu nehmen, nicht nur Hab und Gut, auch Frauen. Sie gingen von Haus zu Haus. Auf Geheiß meines Vaters gingen meine Mutter und die anderen Frauen im Haus in den Keller. Er selbst schloss die Haustür nicht ab. Wie bei den anderen Häusern stießen die Soldaten mit den Gewehrkolben gegen die Tür, wohl in der Erwartung, sie auf diese Weise öffnen zu müssen. Mein Vater jedoch erwartete sie und öffnete die Tür. Er hatte kein Russisch gelernt. Die Gewehrläufe, die sich sofort gegen ihn richteten, schob er langsam zur Seite und lud die Männer mit einer Geste ein, einzutreten. Das war für die russische Kampftruppe offenbar eine völlig neue Erfahrung. Sie traten ein, vermuteten jedoch zunächst eine Falle. Mit vorgehaltenem Gewehr gingen sie in alle Zimmer. Mein Vater lud sie ein, sich zu setzen. Das taten sie, als sie merkten, dass sie nicht bedroht wurden. Dann holte er die Frauen aus dem Keller und alle saßen mit den Männern zusammen. Die Soldaten taten niemandem etwas zu Leide. Als sie gingen, blieb einer von ihnen noch an einer Ikone, die bei uns an der Wand hing, stehen. Er sagte: „Ja Chrestianin“ das heißt auf Russisch: Ich bin Christ.

Später kamen noch weitere Soldaten zu uns. Da gab es teilweise sehr schwierige Situationen.
So schützte mein Vater die bedrohten Frauen einerseits, andererseits war er bemüht, die Soldaten aus ihrer Haltung der Feindschaft und Angst herauszuholen. Er war bereit, dafür sein Leben einzusetzen.

Samstag

Das Gewissen des Wachmanns

  Es geschah einmal in Deutschland während des Krieges in einem Gefangenenlager. Das Leben der Gefangenen war hart. Sie hatten Hunger und litten unter der Kälte und den Anstrengungen der Zwangsarbeit. Abends kehrten sie in ihre Baracken zurück. Ein Wachmann erwartete sie, um mit ihnen seine Scherze zu treiben, die aber nur ihm allein Vergnügen machten. Er zog den einen an der Nase und gab einem anderen einen Tritt in den Bauch. Jeder fragte sich, wer wohl heute an der Reihe wäre.
  Eines Abends aber kam einer der Gefangenen von selber zu ihm und sagte:
  "Da Sie jeden Tag jemand schlagen müssen, möchte ich Sie bitten, heute mit mir vorlieb zu nehmen."
  "Nanu, kleines Französchen! Weil Du so frech bist, rate einmal, wieviel Mal ich Dir mit meiner Reitpeitsche auf den ..."
  "Es ist nicht meine Sache zu bestimmen, wieviele Schläge ich verdient habe. Ich überlasse das Ihrem Gewissen."
  "Meinem Gewissen, meinem Gewissen? Ich habe kein Gewissen!"
  "Doch!", sagte nach einer kleinen Pause der Gefangene. "Doch, Sie haben ein Gewissen. Ihr Zögern beweist, daß Sie ein Gewissen haben, denn Sie haben mich noch immer nicht geschlagen."
  Und indem er sich anschickte weiterzugehen, fügte er noch hinzu:
  "Ich glaube sogar, daß Sie mich heute abend nicht mehr schlagen werden."
  Dann wandte er sich um und ging.
  Der andere starrte betroffen vor sich auf den Boden, blaß, mit Tränen in den Augen und zitternden Lippen. Nie zuvor hatte jemand zu diesem Unglücklichen von seinem Gewissen gesprochen. Vielleicht war das die Ursache seiner Rohheit.
  Nach diesem Tag wurde kein Gefangener mehr von ihm geschlagen. Ich würde es nicht wagen, diese Geschichte zu erzählen, wenn ich nicht wüßte, daß sie wahr ist.



(Quelle: Lanza del Vasto, Definition der Gewaltlosigkeit, org.1963, hier aus: Albert Schmelzer, Die Arche, Waldkirch 1983, S.57f)


Donnerstag

Versuch es!

Ein Student der Universität Tokio, der sich von Herzen wünschte, sein Leben für etwas Aufregenderes einzusetzen als dafür, seine Reisschale zu füllen, geriet in einen Abendgottesdienst. Dort sah er vor dem Altar etwas, das sein Leben in eine für ihn vollständig neue Richtung umlenken sollte. Ein kräftiger, halb blinder, aber sehr energischer und offenbar kenntnisreicher Mann in einem billigen schwarzen Anzug hatte gerade seine Rede beendet. Aus der ersten Reihe erhoben sich etwa zehn Rowdys, stürzten sich auf den Redner und schlugen ihm mit langen Bambusstöcken über den Kopf.

Aber statt Ärger oder Furcht zu zeigen, stand der Mann, der die Schläge abbekommen hatte, einfach da. Zur Verwunderung aller zeigte das Gesicht des Redners, obwohl Wangen und Stirn blutig waren, keine Veränderung im Ausdruck.
Nachdem die Angreifer ihre Stöcke hatten sprechen lassen, führte er die Gemeinde zum Gebet. Nach dem Amen lud er die Rowdys zu einem Gespräch in die Sakristei ein. Es dauerte nicht lange und sie entschuldigten sich.

Toyohiko Kagawa wurde nun zum neuen Helden des Studenten. Von da an widmete er sich der sich ausbreitenden kooperativen Bewegung und nicht mehr dem Kommunismus.
„Wie oft standest du im Shinkawa-Slum oder anderswo unmittelbar dem Sterben durch Pistole oder Schwert gegenüber?“ fragte ich Kagawa einmal. „Ein dutzend Mal?“
Er schmunzelte. Offensichtlich war es öfter gewesen.
„Hundert Mal?“
„Ja, vielleicht hundert Mal.“
Gefahren schienen ihm zu gefallen. Er fühlte eine solche Sicherheit in sich, dass er es sich leisten konnte, ohne äußere Sicherheit auszukommen.

Als Kagawa einundzwanzig gewesen war, hatte er an einem Weihnachtsabend seine Besitztümer, in der Hauptsache Bücher, auf eine Schubkarre geladen und hatte sie den schmalen, schmutzigen Weg zu seinem neuen „Zuhause“ gebracht. Es war ein Zimmer von etwa zwei mal drei Metern an einem der elendesten Orte der Welt. Um ihn herum wohnten Mörder, Schwachsinnige, Prostituierte, Verrückte und Trinker. Nachts waren die Wanzen so schlimm, dass er gezwungen war, humorvoll mit ihnen umzugehen. Als er entdeckte, dass sie sich gerne in kleinen Löchern aufhielten, ersann er ein Spiel. Bevor er schlafen ging, umgab er sich mit Holzklötzchen, in die er kleine Nischen gebohrt hatte. In diesen ließen sich seine Peiniger nieder und warteten dort auf die gute Mahlzeit, die sie einnehmen würden, wenn Kagawa erst einmal eingeschlafen wäre. Dann schüttelte Kagawa mitten in der Nacht die Holzklötze einen nach dem anderen über den Fußboden. Wenn die Wanzen wegrannten, zerquetschte er sie dort. Es waren ein- oder zweimal mehr als fünfzig.

Das Zimmer kostete fünf Cent am Tag. Es war darum so billig, weil auf dem Boden ein Fleck war. Dort hatte ein Ermordeter sein Blut vergossen und da sein Geist hätte lästig werden können, wollte niemand in dem Zimmer wohnen. Kagawa wusste nicht, ob es Geister gebe oder nicht. Das wäre eine gute Gelegenheit, das herauszufinden. Er schlief direkt über der Stelle mit dem Fleck. Wenn überhaupt irgendwo, dann wäre das der Ort, an dem der Geist erscheinen würde. Aber zunächst geschah nichts. Dann wachte der Schläfer unruhig auf, als wäre ein Fremder im Zimmer. Er öffnete die Augen. Im Gang stand ein betrunkener oder angetrunkener Gangster mit erhobenem Schwert. Kagawa sah, wie sich das Mondlicht in der Klinge spiegelte. Wenige Sekunden später würde sie ihm wahrscheinlich ins Fleisch fahren. Er kniete nieder und neigte sich im Gebet: Er erwartete den tödlichen Schlag. Einen Augenblick später sagte der Mann im Flur: „Kagawa, liebst du mich?“
„Ja“, sagte Kagawa.
Dann trat eine Pause ein. Die Stimme sprach weiter, dieses Mal von Nahem: „Hier ist ein Geschenk.“ Kagawa fühlte den Griff des Schwertes in seiner Hand, das der Mann, bei sich getragen hatte.

Einer der gefährlichsten Fälle war ein Alkoholiker. Er wohnte ein paar Türen weiter die Straße hinunter. Kagawa schrieb eine Kurzgeschichte. Er wollte sie verkaufen, um mit dem Geld Medizin für Kranke in der Gemeinde zu kaufen. Der Desperado kam in Kagawas Zimmer und wackelte am Tisch.
„Gib mir zwei Yen oder ich will den ganzen Tag lang an deinem Tisch wackeln.“
„Nein, einer reicht.“

Später verlangte der Mann, der inzwischen bei Kagawa wohnte, Geld für Schnaps. Kagawa wies die Forderung zurück. Der Mann schlug seinen Gastgeber heftig auf den Mund. Dabei schlug er ihm vier Vorderzähne aus und brach ihm vermutlich den Kiefer. Wenn sich Kagawa daran erinnerte, dann scherzte er mit seinen amerikanischen Zuhörern: „Darum spreche ich kein gutes Englisch. Die falschen Zähne wurden mir von einem japanischen Zahnarzt eingesetzt.“ Der Gangster schlief weiterhin auf dem Fußboden neben Kagawa und aß von seinem Reis.
Bei anderer Gelegenheit ging er mit dem Schwert auf Kagawa los. Das Trinken hatte ihn verrückt werden lassen. Diesmal sah es aus, als würde er ernst machen. Die Umstehenden schrieen: „Tu dem Lehrer nichts!“ Kagawa sagte ihnen, sie sollten aus dem Weg gehen. Das gehe nur ihn etwas an. Er wusste, dass das Schwert seines Nachbarn blutig war. Er wollte nicht, dass noch andere mit hineingezogen würden.

Als Junge hatten ihm Geschichten über Schwertkämpfe sehr gefallen. Er hatte oft das große Schwert seines Vaters geschwungen, wenn seine Pflegemutter gerade nicht hinsah. Er stand dann da wie ein Schwertkämpfer, einen Fuß vor dem anderen. Ohne zu lächeln oder zu sprechen – das würde seinen Gegner nur herausfordern – sah er dem anderen gerade und tief in die Augen, tief in etwas, das er vielleicht, wenn er die richtige Haltung einnähme, erreichen könnte. Jeden Augenblick könnte er einen scharfen Stoß in den Körper erhalten. Aber er stand fest und zwinkerte nicht. Etwa zehn Minuten lang waren, ohne dass sich die Körper bewegten, die beiden Willen in einen Kampf auf Leben und Tod aneinander gefesselt. Dann war der Kampf plötzlich vorbei. Sein Schwert schlenkerte wie ein dummes Spielzeug. Kagawas Gegner schlich sich davon.

Wenn Kagawa die Wahl der Waffen hatte, schien er gerne zu kämpfen. Einmal nahm er mit derselben Energie den Kampf mit tausend wütenden und gewaltbereiten Streikenden auf – und gewann. Als er am Sonntagmorgen den Gottesdienst in seiner Kirche in den Kobe-Slums abhielt, wiegelten einige Agitatoren die Arbeiter auf und nun marschierten sie die Straße hinunter geradewegs zu den Kawasaki-Docks. Sie wollten die Maschinen zerstören. An den Docks standen Hunderte mit Schwertern bewaffnete Polizisten, dazu Soldaten mit geladenen Gewehren. Wenn der Zug nicht abgedrängt werden könnte, würde ein schreckliches Gemetzel stattfinden.

Als Kagawa von der Situation hörte, brach er seinen Gottesdienst ab, warf sich in eine Rikscha – er konnte wegen seiner schwachen Lunge nicht den ganzen Weg rennen – und sprang gerade noch rechtzeitig am Ende einer abfallenden Straße wieder aus der Rikscha heraus. Die Streikenden kamen mit der Kraft eines Gebirgsflusses auf ihn zu und skandierten „Waschu! Waschu!“
Kagawa stand ihnen allein gegenüber. Jahre später erzählte er mir: „Als die ersten Reihen dort ankamen, wo ich stand, sah ich jedem Einzelnen gerade in die Augen und betete: ‚Gib uns Frieden!’ Mein Gebet wurde erhört, denn sie ließen sich aufhalten. Da war ich mit meiner Seele im Frieden. Danach wusste ich plötzlich, dass ich auf der Seite Gottes war.“

Die Streikenden bogen in eine Seitenstraße ein und ließen die Docks unbehelligt. Kein einziger Schuss fiel. Die Gewerkschaft war gerettet. Ihr Ratgeber jedoch wurde ins Gefängnis gesperrt.
Die Wärter versuchten Kagawa zu demütigen, indem sie ihn zwangen, einen Frauenkimono zu tragen. Aber er reagierte nicht auf die Beleidigung, sondern schrieb Gedichte auf Toilettenpapier. Einige davon kann man jetzt in seinem Buch „Songs From the Slums“ lesen.

Als Japan widerrechtlich die Chinesen angriff, schrieb er ein Gedicht, in dem er diese um Vergebung bat. Auch auf andere Weise legte er deutlich Zeugnis für seine Einstellung gegen das Kriegssystem ab. Weniger als zwei Jahre vor Pearl Harbor wurde er länger als zwei Wochen eingesperrt, weil er gegen den Militarismus protestiert hatte. Gegen die Mücken verteidigte er sich sehr erfindungsreich: Er zog sich den Mantel über den Kopf und ließ nur die Nasenlöcher frei. Er versteckte seine Hände, setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand und meditierte zwei Tage und Nächte lang fast ununterbrochen. Als er bemerkte, welchen Weg die Zivilisation einschlug, war er zuerst „enttäuscht“. Dann fühlte er sich allmählich auf die Ebene unwiderstehlicher Freude der Gegenwart Gottes erhoben.

Einige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste er in die etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Wälder fliehen. Fanatische Nationalisten hatten seine Exekution gefordert, weil das Gerücht umging, dass die Amerikaner, wenn sie Japan einnähmen, Kagawa zum Premierminister machen würden.
Nach dem Krieg verbrachte er die Hälfte seiner Zeit damit, Sozialprogramme zu leiten, und die andere Hälfte damit, Menschen in Japan für seine Grundüberzeugung zu gewinnen:
„Die Liebe ist ein Macht“, sagte er. „Versuch es! Versuch es!“ Er hatte es getan.

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.








Ich zünde einfach eine Kerze an

Jeder möchte gerne in seinem Herzen sagen können: „Ich bin durch ein Martyrium gegangen. Ich wurde geprüft und habe bestanden!“

Wilhelm Mensching (1887-1964) aus Petzen bei Bückeburg würde das natürlich nicht sagen. Trotzdem ist er einer der Friedensstifter Europas, die sich am besten bewährt haben. Die Quäker haben ihn ganz zu Recht für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich nicht sehr friedlich gefühlt hatte. Das war während des Ersten Weltkrieges. Er hatte damals als Missionar in Afrika gedient.
Dort hatte seine Familie unter der schlechten Behandlung durch Soldaten der Allliierten zu leiden, besonders seine Frau. Sie war schwanger und die Geburt stand nahe bevor. Es gab dort keine Frau, die bei der Geburt hätte helfen können. Dann wurde eine Politik der Vergeltungsmaßnahmen befohlen und er wurde nach Indien geschickt. Auf der Reise empfand er Angst und Bitterkeit. Er war in Indien interniert, durfte sich aber frei in den Straßen der Stadt bewegen und erlebte dort Gandhis gewaltfreie Bewegung des zivilen Ungehorsams. Er war davon fasziniert und studierte sie Tag für Tag, bis er schließlich zum Pazifisten wurde.

Natürlich gab es dafür auch noch andere Gründe. Ein englischer Medizinaloffizier leitete die Station in dem Krankenhaus, in dem er zur Genesung war. Mensching, der noch stark die Pflicht des Gehorsams dem Staat gegenüber empfand, stand stramm, so schwach wie er war. Dabei zitterte er am ganzen Körper. Der Engländer sah ihn verwundert an. Dann sagte er freundlich: „Fürchten Sie sich nicht, Bruder, Ich bin Arzt. Ich werde Ihnen nichts antun. Ich will Ihnen nur helfen. Dieser Krieg ist etwas Schreckliches … Wenn doch nur alle Menschen Brüder sein könnten.“
Damit war der Samen gelegt. Schließlich wurde er, immer noch als Gefangener, nach England geschickt. Er lebte in einem offenen Lager und musste oft im Regen schlafen. Nach dem Krieg wurde er der Kirche in Petzen zugeteilt, wo er seitdem Pastor war. Das könnte man eine konservative Situation nennen. Mensching trägt einen Zylinder zu einem schwarzen Anzug. In der Kirche gibt es ein pergamentenes Dokument, das ins Jahr 984 zurückreicht. Aber niemand soll aus diesen Einzelheiten schließen, dass er seiner Zeit hinterherhinkte. In Wirklichkeit ist er ihr Jahrhunderte voraus.

Als es Mode war, mit „Heil Hitler“ zu grüßen, sagte er, sowohl vor als auch während des Krieges, fest und fröhlich „Guten Tag“. Er blickte nicht zurück auf die Autorität von Reich und Militär, sondern vorwärts in eine demokratische Lebensweise.

Ein anderer Deutscher, der Mensching nahe stand, erzählte etwa 1933 Douglas Steere, dass es da einen Exkommunisten gebe, der nun ein strammer Nazi sei und der damit prahle, dass er während des Ersten Weltkrieges Menschen getötet und Gefangene gefoltert habe. Nun war er im Begriff, Mensching aus der Kirche zu werfen, weil der Pastor nicht mit dem Naziregime sympathisierte: Er hatte nicht einmal eine Fahne gehisst! Als Mensching das gehört hatte, ging er geradenwegs zu dem Nazi und erklärte ihm offen seine Einstellung.

Jahrelang hatte er die Armen besucht und Bedürftigen geholfen, ganz gleich zu welcher Klasse sie gehörten. Er hatte in seiner Kirche niemals eine Fahne aufgehängt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er in der Hauptsache Christus treu sei. Davon könne ihn nichts und niemand abbringen. Wenn der Mann, mit dem er sprach, ihn wirklich aus der Kirche vertreiben wolle, dann sei jetzt die rechte Zeit dafür: Er habe ja alle dafür nötigen Beweise in der Hand. Der Nazi hielt ihm schweigend die Hand hin. Er unternahm nichts gegen den Pastor.

Den ganzen Krieg über nahm der Pastor die Worte: „Liebe deine Feinde“ ernst. Am Fußende seines Bettes hatte er ein Blatt Papier aufgehängt, auf das die Namen der Führer der feindlichen Regierungen gedruckt waren: Churchill, Roosevelt und Stalin. Wenn er aufwachte und die Namen sah, betete er für Völkerverständigung und –führung.
In seiner Tasche steckte eine Postkarte des Sekretärs des Versöhnungsbundes Englischer Zweig, die er über einen Schweizer Freund bekommen hatte. Es war eine Freundschaftsbotschaft und enthielt die Versicherung, dass nichts die Beziehung zerstören könne. Eine weitere Inspirationsquelle war ein Notizbuch, das er oft aufschlug, mit Worten von Sokrates, Paulus, Thomas More, James Nayler und Gandhi. Der Gedanke der Kraft der Wahrheit oder Satyagraha, zu dem Gandhi einlud, scheint ein Teil seines Nervensystems geworden zu sein.

Auch seine Fähigkeit zum Lachen half ihm. Als ein Offizier der Armee ihn eine halbe Stunde lang belästigt hatte, weil er „Guten Tag“ und nicht „Heil Hitler“ gesagt hatte, betete er. Dann lächelte er, als er an ein Erlebnis mit Hunden dachte, von dem ihm sein Vater öfter erzählt hatte. Diese Hunde hatten immer nachts sehr laut gebellt. Sein Vater hatte dann nur gesagt: „Ich will einfach abwarten. Irgendwann müssen sie ja aufhören.“ Ebenso würde der Offizier eines Tages aufhören.
Wahrscheinlich war es die bloße Kraft von Menschings Integrität, die ihn durch den Krieg brachte. Als der Krieg vorüber war, erzählte ihm der Major, der aus einem Internierungslager für Nationalsozialisten zurückgekommen war, von seinen Erlebnissen.

Während des Krieges wurde dieser von einem Gestapochef des Gebiets zu sich gerufen, der alles über den Pastor wissen wollte. Interessierte er sich für Kriegsgeheimnisse? „Nein, nie“, antwortete der Major. „Stand er mit ausländischen Freunden in Beziehung? Wahrscheinlich! „Aber alles, was er will, ist, dass der Krieg aufhört. Er würde uns nie verraten. Er ist mit allen Menschen Freund. Er würde uns nicht ausspionieren“, sagte der Major. Der Gestapomann war beeindruckt.
„Wären Sie bereit“ fuhr er fort, „mit Ihrem Leben dafür zu bürgen, dass dieser Mann uns nicht verraten würde?“
„Ja“, sagte der Major, „das würde ich.“
„Gut also. Bevor wir etwas gegen Mensching unternehmen, werden wir zuerst mit Ihnen Verbindung aufnehmen.“

Am 18. Mai wurde bei dem ersten Luftangriff der Alliierten in der Gegend eine junge Frau getötet, die zur Gemeinde gehörte. Das Opfer trug keine Uniform. Sie starb in ihrem Haus. Waren diese Alliierten nicht Teufel, wenn sie Bomben auf Unschuldige warfen? Die Nazis bemühten sich nach Kräften, dieses Ereignis für ihre Propaganda auszunutzen. Sie erschienen in großer Zahl beim Trauergottesdienst, um den Pastor zu stellen. Wenn er sich nicht gegen „die Grausamkeit“ aussprach, würden sie ihn dieses Mal bekommen und vielleicht auch seine Frau und seine Kinder.
Das war eine Prüfung! Mensching bestand sie in allen Ehren. Nicht ein Wort kam über seine Lippen, das Hass oder Vergeltung predigte. „Viele Tausende“, sagte er stattdessen, „in vielen Ländern erleiden ähnliche oder schlimmere Tragödien.“ Im Mittelpunkt seiner Ansprache stand nicht die menschliche Schwäche, sondern „die Gegenwart unseres gemeinsamen Vaters“.
Aber auch Mensching fühlte sich nach dem Gottesdienst schwach. Da kam ein Dorfbewohner zu ihm und sagte: „Sie haben genau das Richtige gesagt. Wenn sie ausgewichen wären und aus Furcht etwas anderes gesagt hätten, dann hätten Sie das Vertrauen der Menschen verloren, die so weiter auf sie zählen.“

Frau Mensching bemühte sich, seinen Mut zu unterstützen, aber es gab Sonntage, an denen sie vor Besorgnis zitterte, wenn ihr Mann auf die Kanzel stieg. Die stille, zarte Frau, die immer großzügig und freundlich war, hatte gute Gründe, für den Pastor zu fürchten. Oft sagten die Gottesdienstbesucher nach dem Segen zueinander: „Diesmal wird er sicherlich verhaftet.“
Einmal sah es so aus, als ob die beiden das Konzentrationslager nicht länger umgehen könnten. Alle mussten zur Wahl gehen. Entweder waren sie auf Parteilinie oder nicht! Die Wahl wurde geheim genannt. Tatsächlich – das teilte ihnen ein Freund mit – waren die Stimmzettel von Herrn und Frau Mensching merkiert, so dass ihre Wahl offensichtlich werden würde. Sie hatten nur eine Wahl und die war „Nein“. Aber das hätte eine schwere Strafe, auch für die Kinder, bedeuten können.
Als die beiden zu den Wahlurnen gingen, sagten sie beide laut und deutlich: „Guten Tag!“ Die Stille im Raum verkündete Unheil. Mensching suchte auf dem Zettel nach einer Markierung und konnte keine entdecken. Plötzlich brach die ruhige Stimme von Frau Mensching das Schweigen: „Entschuldigen Sie, meine Herren, aber mein Stimmzettel hat einen kleinen Fettfleck. Würden Sie mir wohl bitte einen anderen geben?“

Das Schweigen, das dem folgte, war noch stärker aufgeladen. Dann sagte einer der Wahlhelfer: „Ja, Frau Mensching, natürlich. Hier haben Sie einen anderen Stimmzettel.“
Beide stimmten mit „Nein“, falteten ihre Stimmzettel, warfen sie in die Wahlurne und gingen. Sie fragten sich, wann sie wohl verhaftet würden. Aber man ließ sie in Ruhe.
Mensching ist ein Mann, der die Brücken hinter sich abbricht und der seine Augen nur auf das höchste Ziel richtet, das es gibt. Als die Nazis an der Macht waren, ließ er sich nicht durch das Böse, das sich in ihnen manifestierte, hypnotisieren. Und er kümmerte sich auch nicht darum, was später die Kommunisten tun mochten. Stattdessen richtet er seine Aufmerksamkeit und Ergebenheit auf die Kraft, die zur Gesundheit führt, die Macht im Universum, die sehr stark, sehr lebendig und dauerhaft ist, deren Güte alle einschließt, selbst die, die ihn vielleicht töten würden.
Einem amerikanischen Besucher vertraute er sein Geheimnis an: „Wenn ein Mensch Böses tut, ist er in der Dunkelheit. Er kann nicht sehen. Wenn ich am Abend nach Hause komme und mein Haus ist dunkel, greife ich dann zu Bürsten und Schrubbern, um die Dunkelheit zu vertreiben? Nein, ich zünde einfach eine Kerze an.“

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
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101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Ein Rezept für Wagemut

Gegenüber dem Haus von drei Schwestern mittleren Alters in Holland hatte sich die Gestapo eingenistet. Das war während der deutschen Besetzung, als es gefährlich war, mit Juden befreundet zu sein. Aber sie beherbergten und pflegten einen alten und gebrechlichen Juden unter ihrem Dach, dazu noch eine alte Dame, die aus ihrer Umgebung evakuiert worden war, weil es dort gefährlich war.
Die Schwestern gehörten der reformierten Kirche an. Zu ihrer äußersten Bestürzung kam eines Tages ein Angehöriger der Gestapo zu ihnen. Er war sehr hell und strahlend und sagte ihnen, er sei in Mottlingen, einem Konferenzort in Süddeutschland, gewesen und er habe gehört, dass auch sie dort gewesen seien. Sie baten ihn herein, schüttelten ihm die Hand als einem Bruder in Christus, aber sie sagten ihm auch gerade heraus, dass sie dabei einander widerstreitende Gefühle hätten.

Im Laufe des darauf folgenden Gesprächs sagte der Gestapooffizier: „Was für ein hübsches Haus Sie haben. Sie haben den Krieg kaum zu spüren bekommen.“
„Sagen Sie das nicht“, antwortete eine der Schwestern. „Heute Morgen gingen 2000 Juden mit ihren Kindern an unserem Haus vorüber.“
„Die Juden sind immer die Ursache für Kriege zwischen den Völkern“, sagte er. „Aus diesem Grund hassen wir sie so.“
„Nicht nur die Juden sind schuld, sondern ich und Sie und auch die Juden“, erwiderte die jüngere Schwester.

Sie waren in wirklicher Gefahr, und zwar wegen des Juden, den sie beherbergten und der sehr alt geworden war. Jedes Mal, wenn die Häuser in ihrer Straße von anderen Gestapoleuten durchsucht wurden, beteten die Schwestern stundenlang, dass die Männer nicht in ihr Haus kämen. Das Unmögliche geschah: Sie gingen am Haus vorüber.

Als der alte Mann dem Tode nahe zu sein schien, erhob sich die Frage, was mit seiner Leiche geschehen sollte. Dieses Problem musste jedoch nicht gelöst werden, weil er nicht starb, sondern sich erholte. Die Schwestern sprachen darüber, wie sie mit dem deutschen Bruder umgehen sollten. Schließlich entschieden sie: „Jesus hätte ihn eingeladen und also müssen auch wir das tun.“ Von diesem Zeitpunkt an betrachteten die Nachbarn sie mit Misstrauen und die alte Flüchtlingsdame im oberen Stockwerk wurde wütend, bis die Schwestern ein gutes Gespräch mit ihr hatten, in dem sie ihr ihre Gründe erklärten.

Der Deutsche kam zu ihren Abendgebeten und hatte eine schöne Singstimme. Er sang die Lieder mit starker klarer Stimme. Die Schwestern entschlossen sich, immer vollständig offen mit ihm zu sprechen. Eines Abends fragte ihn eine von ihnen: „Wie können Sie die Juden verfolgen, wenn Sie gleichzeitig die Bibel lesen? Schließlich wurde die Bibel ja von Juden geschrieben: Matthäus, Lukas, Paulus. Und war nicht Jesus Christus selbst ein Jude?“
„Nein, nein“, rief er aus. „Er war der Sohn Gottes.“
„Ja“, sagte die jüngste Schwester, „aber Seine Mutter war eine reinrassige Jüdin. Wenn sie jetzt lebte, würden Sie sie mit einem Stern brandmarken und in ein Konzentrationslager transportieren.“
Sie fingen schon an, ärgerlich zu werden, deshalb sprachen sie nicht weiter, sondern beendeten den Besuch mit einem Lied. Seine Stimme führte die übrigen Stimmen an.

Bei einer anderen Gelegenheit fragte er eine der Schwestern: „Beten Sie für den Führer?“
„Aber gewiss doch.“ Auf die Frage, wie sie für ihn bete, antwortete sie: „Ich habe nur ein Gebet für ihn: Er möge erkennen, dass Christus der einzige Führer ist.“
Er wurde versetzt und kam, um sich zu verabschieden. „Bevor ich gehe“, sagte er, „möchte ich noch einmal über die Juden sprechen.“
„Ich habe nur ein Gebet“, antwortete eine der Damen, „dass Sie erkennnen mögen, dass die Juden des Herren Augapfel sind.“ Sie wusste, dass das eine große Herausforderung war und dass das ihr letzter Augenblick sein könnte. Der Deutsche wurde blass, zog seinen Revolver und zielte auf sie. Sie wendete den Blick nicht von seinem Gesicht ab und konzentrierte sich auf den Gedanken, dass Gott mit ihr sei. Zu ihrer Überraschung gab es keine Explosion. Sie blickte nach unten und da sah sie, dass er den Revolver auf sich gerichtet hatte und er ihr den Griff anbot. Er sagte: „Sie können mich töten. Ich bin der größte Sünder auf Erden.“
„Nein“, sagte sie, „Auch ich bin ebenso wie Sie eine Sünderin, aber wenn ich Sie erschießen würde, dann würde ich dieselbe Sünde begehen wie Sie.“
„Ich kann jetzt verstehen“, sagte er, „wie schwer es für Sie war, mich in Militäruniform zu empfangen.“

In diesem Augenblick kamen ihre Schwestern von einem Spaziergang mit einem Gast zurück und baten den Deutschen, am Abendgebet teilzunehmen. Sie lasen einen Psalm und sangen ein Lied. Nach dem gemeinsamen Gebet ging er. Lange Zeit später kam er noch einmal zu ihnen und erzählte, dass er sein Haus von Bomben zerstört vorgefunden habe. Er änderte daraufhin seine Meinung über den Nationalsozialismus.

Aus dem Buch: 
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Ein Amerikaner wurde nicht mit dem Bajonett aufgespießt

Vielleicht kann ein Tier nicht bereuen. Aber ein menschliches Wesen kann das. Das ist unser einziges Privileg. Und es ist der sicherste Tipp, wenn wir einander nicht von der Erdoberfläche vertilgen wollen. Reue ist keine Reaktion in Worten auf eine aus Worten bestehende Situation. Es ist eine Sache der Umkehr des gesamten Menschen. Die Ergebnisse kann man nicht messen und wägen. Sie können weit führen, wenn jemand auf dem alten Weg, der falsch ist, umkehrt und wenn er alles aufs Spiel setzt, indem er die neue Richtung einschlägt, die die richtige ist. Einer meiner Freunde erzählt, wie ein Mitmensch in einer extremen Situation seine Menschlichkeit behauptete.

Es geschah während des Zweiten Weltkrieges. Mein Freund, ein „Teufelsflieger“, wie die Deutschen die amerikanischen Gefangenen nannten, lief in einer Gruppe amerikanischer Kriegsgefangener mit. Sie trabten verzweifelt in Richtung eines Gefangenenlagers, das, so hatte der deutsche Hauptmann gesagt, fast 30 km entfernt war. Der Hauptmann war von Hass erfüllt. Es hieß, dass seine engsten Angehörigen bei einem Bombenangriff der Amerikaner getötet worden seien. Nun hatte er befohlen, dass jeder Amerikaner, der stolperte und fiel – auch wenn das am zu schnellen Schritt lag - mit dem Bajonett getötet werden sollte.

Mein Freund Jeff wäre fast gefallen, aber ein junger Soldat, der das beobachtet hatte, hielt ihn aufrecht, als der Hauptmann gerade nicht hinsah, und flüsterte ihm ins Ohr: „Not far, not far.“ Ein Amerikaner verlor, nur ein paar Schritte von ihnen entfernt, das Gleichgewicht.
„Erstich den Mann mit dem Bajonett“, schrie der Hauptmann den jungen Soldaten neben Jeff an. Der Soldat, dem das befohlen worden war, ließ sein Gewehr über der Schulter hängen. Hatte er nicht gehört? „Erstich den Mann!“ Diesmal schrie der Hauptmann.

Die Arme des Soldaten und sein fester Wille arbeiteten mit plötzlicher Entschlossenheit. Er konnte frei handeln, gehorchte nicht mehr der Routine von Befehl und Gehorsam. Er handelte aus seinem wahren Inneren, zog das Bajonett aus seinem Gewehr, steckte es in die Scheide am Gürtel, schwieg und bewegte sich nicht mehr. Er sah seinem Hauptmann in die Augen.
Der Hauptmann war so wütend, dass er ihn immer wieder ins Gesicht schlug. Der Soldat stand einfach da. Wahrscheinlich würde er das später mit dem Leben bezahlen.

Es war, als hätte sein Gewissen auf dem Boden vor ihm eine Linie gezogen, die er um nichts in der Welt überschritten hätte. Er würde keinen Schritt weiter in die falsche Richtung gehen. Davor hatte er seinen Willen den Kriegsgewohnheiten unterworfen. Das hatte er nun hinter sich. Er würde sich nicht mehr drängen lassen. Er war ein Mann und seine Integrität war entschieden. Vielleicht sind ihm die Worte nicht eingefallen, aber er drückte die Bedeutung, die hinter den Worten steht, in seinem Handeln aus: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28).

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
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Allan A. Hunter
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„Es geht mir nicht um mich, aber ich denke an meine Frau und an meine Tochter…“

Genau dort wollen wir ansetzen. Wie schützt man am besten eine junge Frau oder Tochter vor einer Eroberungsarmee, die gerade triumphal durch die Stadt marschiert ist, wenn die Soldaten etwa eine Woche lang frei haben und mehr oder weniger tun, was sie wollen? Gibt es da denn überhaupt eine Möglichkeit?

Natürlich ist das ein großes Problem. Hunderttausende von Eltern mussten 1945 in Deutschland damit fertig werden. Eins war jedenfalls klar: Es war unmöglich, sie durch physische Kraft zu schützen. Manchmal konnte man sie dadurch schützen, dass man die Sieger bestach, aber das gab nur vorübergehend Sicherheit.
Die meisten Menschen mögen über den Schrecken dieser Tage nicht sprechen. Nur in zwei oder drei Fällen haben wir Einzelheiten darüber gehört, wie die Menschen mit dieser Situation fertig wurden.

l945 lebte Lotte Hoffman mit ihrer etwa sechzehnjährigen Tochter in ihrer halbzerstörten Wohnung in einem Vorort von Berlin. Russische Soldaten streiften überall herum. Einige vergewaltigten und töteten, viele plünderten. Plötzlich brachen sie auch in ihre Wohnung herein. Was konnte sie tun? Sie konnte nicht Russisch, aber sie hatte eine schöne Singstimme. In ihrer Verzweiflung bat sie im Stillen Gott um Hilfe. Daraus ergab sich ganz natürlich der nächste Schritt. Sie setzte sich ans Klavier und sang deutsche Volkslieder. Bald zeigten die Soldaten, die noch einige Augenblicke zuvor anscheinend nur drohen und schreien konnten, eine ganz andere Seite. Sie standen oder saßen um das Klavier herum und jeder war auf seine Weise damit beschäftigt, den Geist, der durch die Musik in ihr Herz eingetreten war, anzuerkennen.

Von da an saßen immer dann, wenn halbbetrunkene Soldaten in der Nähe waren, ein oder zwei russische Soldaten die ganze Nacht bewaffnet in Frau Hoffmanns Zimmer, um sicherzustellen, dass sie und ihre Tochter in Sicherheit waren.

Eine amerikanische Freundin, die 30 Jahre in Dresden gelebt hatte, überlebte die drei großen Luftangriffe auf die Stadt. Diese Luftangriffe kosteten wohl 300 000 andere Einwohner das Leben.
Bevor sie Dresden verlassen und in die Vereinigten Staaten zurückkehren konnte, lebte sie 14 Monate lang unter russischer Besatzung. Während dieser Zeit führte sie sorgfältig Buch. Einige der Ereignisse sind schrecklich und zeigen direkt, welche Grausamkeit der Krieg freisetzt. Andere beleuchten den uns gemeinsamen Boden, auf dem Menschen der unterschiedlichsten Nationen zusammen stehen. Hier sind einige ihrer Erfahrungen in ihrer eigenen lebendigen Erzählweise:
„Vom Tagesanbruch des 8. Mai (1945) an erschütterte Kanonendonner den Boden  so sehr, wie er seit den Bombenangriffen nicht erschüttert worden war. Das war Artilleriefeuer. Türen und Fenster hingen seit den Luftangriffen locker in den Rahmen und schepperten nun nach jedem Schlag bedrohlich. Überall standen Menschen und lauschten. Bleiche Gesichter sahen einander ungläubig an. Was für ein Wahnsinn, deutsche Jungen in dieser letzten Stunde der Katastrophe in den sicheren Tod zu schicken! Plötzlich hörte die Beschießung auf: Die Stadt Dresden oder eher das, was von ihr übrig geblieben war, hatte kapituliert. Bedingungslose Kapitulation an wen? Den Russen war das Privileg zugestanden worden, die Stadt als erste und allein einzunehmen. Eine Nachbarin klopfte an mein Fenster. Ihre Augen waren von Panik geweitet.

‚Sie kommen hierher’, keuchte sie, ‚mein Bruder hat sie gesehen! Was sollen wir nur tun?’
‚Tun? Na gar nichts’, antwortete ich mit, wie ich hoffte, fester Stimme, obwohl auch ich von Angst erfüllt war. ‚Denken Sie daran, wie viele Lügen beide Seiten während des Krieges übereinander verbreitet haben. Sie werden sehen, dass die Russen Menschen wie wir sind, jedenfalls werden sie uns nicht fressen.’
Sie wendete sich ab und schluchzte. Was konnten wir nun wirklich tun? … Das Beste hoffen und glauben.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Gewehrkolben schlug gegen die Haustür. Der alte Papa H, mein freundlicher Wirt, lief, um zu öffnen. Schroffe Stimmen im Hausflur. Ich sprang in die Höhe. Ein Soldat in russischer Uniform war in mein Zimmer eingedrungen. Eine Sekunde lang standen wir einander gegenüber und sahen uns an. Er war jung, blond, hatte blaue Augen, die dunkel vor Erregung waren. Was die wenigen Worte Russisch anging, die ich in den letzten Jahren gelernt hatte, nun, wahrscheinlich würde sie kein Russe jemals verstehen!!... Ich schluckte – lächelte: ‚Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, sie kennen zu lernen’. Ich streckte meine Hand aus, die er mit eisernem Griff fasste und herzlich schüttelte. Er betrachtete mich, das Zimmer und die Fotografien an der Wand. Mit einer unwillkürlichen Bewegung bekreuzigte er sich schnell vor dem Bild der Sixtinischen Madonna. Dann guckte er mürrisch, als wäre er dabei ertappt worden, dass er etwas Verbotenes tat.

‚Amerrika?’
Ich nickte. ‚Ja, Towarisch, wir Freunde.’ Da lachte er fröhlich und erzählte das Blaue vom Himmel, von dem ich nur ab und zu ein Wort verstand. Ohne weitere Umstände ließ er sich auf die Couch neben mir plumpsen – und sprang sofort wieder auf. Er starrte mich mit wildem Verdacht an. ‚Schto eto takoje?’ Was ist das?
Ich sah ihn ängstlich an und verstand nicht. ‚Was ist – was?’
‚Das!’ Er schrie jetzt und zeigte auf die Couch.
‚Couch – Bett – Divan …’ Was meinte er wohl?
Er zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Couch und sah mich dabei immerzu an. Allmählich veränderte sich sein Blick und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem sonnnengebräunten Gesicht aus. Dann ließ er sich wieder neben mich fallen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die weichen Kissen und dann fing er an auf und ab zu springen, auf und ab, und ich, deren Hand er hielt, sprang höflich neben ihm mit. Jetzt verstand ich. Er hatte bis dahin noch nie eine elastische Polsterung erlebt! Seine Neugier erwachte. Er ging durch das Zimmer, drehte den Wasserhahn überm Waschbecken an, wo ‚Wasser aus der Wand kam’, drückte auf die kleinen wunderbaren Knöpfe an zwei Lampen, die irgendwie ‚Licht von der Decke’ herabschickten. Und dann sah er meine kleine goldene Armbanduhr, die ich vergessen hatte wegzuräumen. In Russland gibt es keine Uhrenindustrie, keinen Schmuck – er würde dem Anblick der Uhr nicht widerstehen können. Er könnte zu Hause dafür ja eine ganze Ferienhütte kaufen … Er legte die Hände ineinander wie ein Kind, das um etwas bittet. Dann nahm er die Uhr und streichelte sie mit der rechten Hand, als streichelte er etwas Lebendiges, und sah mich an.

Wäre es nicht besser, etwas freiwillig herzugeben, als es vielleicht weggenommen zu bekommen? Sie bedeutete ihm so viel, so schrecklich viel. In einer plötzlichen Eingebung nickte ich. Er sagte nichts, aber das Glück in seinem harten jungen Gesicht war wirklich sehenswert. Und dann, als wollte er mir beweisen, dass er keinerlei Beute bei sich trug, knöpfte er die Manschetten seines Hemdes auf und schob die Ärmel hoch. Da war keine Uhr. (Später sah ich Soldaten stolz ganze Reihen von Uhren zur Schau stellen, diese kostbaren Schätze, die sie mit nach Hause nehmen würden.) Er drehte seine Taschen um. Sie waren leer und sauber. Er hatte sie offensichtlich noch nie benutzt. Dann musste ich meine Hände in seine Stiefel stecken. Außer einem Messer in einem Seitenfach war da nichts.
Draußen hörte man barsche Schreie und Türenknallen. Er sprang auf. Ein Klaps auf die Wange, ein flüchtiger Kuss auf meine Stirn, ein strahlendes Lächeln – und er lief aus dem Zimmer.“

Diese Freundin reagierte in den Krisentagen mit der nachdenklichen Höflichkeit, die ihr zum Reflex geworden war. Es war ein undramatisches Verhalten, ein Verhalten, das nicht improvisiert werden kann. Wir wollen sehen, wie sie die Geschichte weitererzählt.
„Wir sahen zu, wie die neuen Besatzer einzogen. Während die Männer sich äußerlich nicht viel veränderten – nur war hier und da eine neue Uniform zu sehen -, sie trugen außer Haus und im Haus ihre Militärmützen, ging mit allen Frauen eine interessante Metamorphose vor, auch mit den Soldatinnen. Es waren viele. Wahrscheinlich waren sie als schwer arbeitende Landarbeiterinnen aufgewachsen – Körperbau, Hände und Füße wiesen darauf hin – und hatten in der Armee ein Leben voller Gefahren und größter Entbehrungen geführt. Aber sie waren eben Frauen mit dem Instinkt von Frauen für das Schöne.

Sie kamen in Scharen, in offenen Lastwagen, mit mürrischen Gesichtern, Stupsnasen und vollbusig. Wenn sie Zivilistinnen waren trugen sie hohe Filzstiefel und weiße Kopftücher. Hier warfen sie erste Blicke auf Frauen des Landes, zu dessen Eroberung sie beigetragen hatten. Diese Frauen waren wie meine Freundinnen und ich gekleidet, sehr einfach, ja ärmlich. Für sie jedoch war diese ordentliche Sauberkeit sehr aufregend. Hatte man ihnen nicht erzählt, hier herrschten Armut und Elend, die noch viel größer als ihre eigenen waren? Wie waren dann diese hübschen Kleider möglich: keine Löcher, keine Flicken, keine Flecken? Und sie trugen Hüte oder kleidsame kleine Turbane aus hellem Stoff auf den Köpfen? Erstaunlich. Sie wurden nachdenklich, ärgerlich, neidisch. Manch eine erschreckte Deutsche kam in diesen ersten Wochen ohne Hut nach Hause, bis ihre Befreierinnen schließlich herausfanden, dass sie diese Kleider und Hüte, die sie begehrten, für das Geld kaufen konnten, das sie bekommen hatten, aber bisher noch nicht hatten ausgeben können. Von da an wurde jeder Laden überrannt und nach einer wilden Zeit von Nachfrage ohne Bezahlung einigten sich beide Seiten auf einen steten Handel.

Einerseits war es komisch und andererseits auch ein bisschen Mitleid erregend zu sehen, wie die kräftigen Frauen und Mädchen aus den Frisiersalons kamen: Aus ihren vernachlässigten und so lange Zeit unter Soldatenmützen oder Tüchern verborgenen Haare waren nun Locken geworden. An den Füßen, die bis dahin in Stiefeln gesteckt hatten, trugen sie nun hochhackige Pumps und sie waren in Seide und Spitzen gehüllt, die sie nie zuvor auch nur von Ferne gesehen hatten. Einige dieser Frauen waren regelrechte Schönheiten geworden.

Nie hat mich der Verlust von persönlichem Eigentum weniger geschmerzt als an diesem sonnigen Maimorgen. Mein erschrockener Wirt zog mich zum Küchenfenster und machte mir Zeichen, ich solle durch den zerbrochenen Fensterladen in den Garten sehen. Polnische „Fremdarbeiter“, die von den Russen befreit worden waren, hatten den kleinen Schuppen aufgebrochen, in dem Werkzeuge und meine beiden großen Überseekoffer aufbewahrt wurden. Diese hatten sie aufgeschlitzt. Die Frauen hatten sich auf die Abendkleider gestürzt und probierten sie unter Geschrei und entzücktem Lachen an. Nie habe ich glücklichere Gesichter gesehen als die der beiden, denen es gelungen war, ein schwarzes Chiffonkleid und ein taubenblaues Spitzenkleid über den Kopf zu ziehen. Mit ihren zerarbeiteten Händen glätteten und streichelten sie den feinen Soff über ihren Hüften. Die Bewunderung in den Augen ihrer nicht weniger entzückten Landsleute, die noch abgemagert und zerlumpt in ihren mit Schweißflecken übersäten alten Kleidern dastanden, war rührend.
Vielleicht hätte ich meine Kleider zurückbekommen können. Es hätte wahrscheinlich genügt, die jungen Leute in Englisch anzusprechen, denn die Polen besitzen die besten Umgangsformen der Welt. Aber das wollte ich nicht. Ich konnte ihnen ihr Vergnügen nicht verderben. Als sie gegangen waren, ging ich hinaus. Mein kostbares Leinen lag verstreut und unberührt auf dem Fußboden des Schuppens. Sie hatten nur die nutzlose Eleganz mitgenommen. Aber vielleicht war die ja gar nicht so nutzlos. Hatte sie nicht nach Jahren unsäglicher Entbehrungen einige Menschen glücklich gemacht?“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Lebenswert

Eines Abends lag Heinrich Grüber an einem Ort, wie er erbärmlicher auf der ganzen Erde nicht hätte sein können, bewusstlos in einer Reihe mit Leichnamen. Das geschah im Winter 1941 auf 42 im Konzentrationslager Dachau. Ein paar Stunden zuvor hatte er einen Herzanfall gehabt. Er konnte jederzeit in den Verbrennungsofen geworfen werden.

Ein Mitgefangener hatte jedoch etwas Besonderes an dem Verhalten dieses Leichnams bemerkt, das den Wächtern, die die Leichen inspiziert hatten, entgangen war. Die Augenlider hatten sich anscheinend bewegt. Sobald die Wächter außer Sichtweite waren, sah er genauer zu. Das Herz schlug noch. Schnell brachte er den schwer Kranken in die Krankenstation. Dort kam der Patient wieder zu Bewusstsein. Aber viele Tage lang zweifelte er daran, ob dieses Leben die Anstrengungen wert war. Trotz der Freundlichkeit der Menschen, die wie er zu Hitlers Opfern geworden waren und die ihn gesund pflegten, wurde er von einem Gefühl der Einsamkeit überwältigt. Würde er jemals seine Frau und seinen kleinen Sohn wiedersehen? Wahrscheinlich nicht. Die Kraft schien ihn ebenso schnell wieder zu verlassen, wie er sie zurückgewonnen hatte.

Dann wurde die geringe Hoffnung, die er inzwischen doch in sich genährt hatte, durch die Ankunft einer besonderen Kommission erschüttert. Es war eine Kommission von medizinischen Forschern und Offizieren der gefürchteten Schutzstaffel. Die SS-Leute hatten den Auftrag, die „überflüssigen Esser“ auszusondern und zu töten, d. h. die Gefangenen, die zu schwach zum Arbeiten waren.
Um Grüber vor dem Krematorium zu retten, versteckte der Mann, der ihn gepflegt hatte, ihn unter einem Bett in einer ungeheizten Baracke. Sein einziger Schutz gegen die Temperaturen unter Null waren eine abgetragene Jacke und ebensolche Hose, zwei dünne Decken und Holzschuhe.

Viele Jahre später erklärte Grüber uns fünf oder sechs Zuhörern in einer Westberliner Wohnung: „ Ich habe dieses Martyrium rein durch Gnade überlebt. Was mir in diesem Konzentrationslager widerfuhr, war ein Wunder, das Wunder von Nahrung ohne Brot. Tatsächlich gelang es meinen Freunden, etwas Brot in mein Versteck zu schmuggeln. Aber das, was ich aß, hätte nicht für mein Überleben gereicht. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist, dass mir eine Kraft von jenseits jeder physischen Kraft geschenkt wurde. Ich bezweifle, dass irgendein Tier das hätte überleben können, wozu ich befähigt wurde. Die Tatsache, dass ich jetzt hier bin, beweist mir, dass ein Mensch mit Gottes Hilfe fast alles überstehen kann.“

Worüber dachte Grüber nach, als er unter dem Bett lag und mit aller Kraft gegen den nagenden Hunger und die Kälte ankämpfte? Oft dachte er natürlich an die Ereignisse, die ihn in die gegenwärtige Situation gebracht hatten. Er war in erster Linie darum an diesem Ort, weil er einen recht guten Kampf gekämpft hatte, manchmal sogar erfolgreich, und zwar für Juden. Er war evangelischer Pastor. Berufskollegen waren zu lange blind für die Situation gewesen, aber er konnte sie nicht übersehen. Er war weit davon entfernt, den Antisemitismus zu tolerieren oder gar zu unterstützen, wie einige Kollegen es getan hatten. Sein Gewissen zwang ihn weiterhin dazu, seine Stimme zu erheben und zu handeln. Es war ihm ziemlich klar, dass die Gestapo hart zurückschlagen würde. Aber er wollte es trotzdem wagen. Solange er konnte, würde er so vielen Juden wie möglich dabei helfen, außer Landes zu gehen.

Bald darauf war er der Leiter einer bedeutenden protestantischen Bewegung, die Verfolgte schützte. Er richtete ein Netz aktiver kleiner Hilfszentren im ganzen Land ein und hielt sie in Gang. Im Februar 1940 war er geradenwegs zu Göring gegangen und hatte von ihm gefordert, dass er mit dem Transport, noch dazu in Viehwagen, von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, in Konzentrationslager in Polen aufhören solle.
Man hatte ihm gesagt: „Leuten wie Ihnen können wir leicht den Mund stopfen.“
„Solange ich lebe und meine Stimme erheben kann“, hatte er erwidert, „werde ich Ungerechtigkeit Ungerechtigkeit und Sünde Sünde nennen.“
Er wurde verhaftet und wieder freigelassen. Aber auch dann protestierte er weiter und organisierte Zweigstellen in allen großen Städten Deutschlands, die Rechtshilfe und andere Hilfe leisten sollten. Er würde die erschreckten, aber dankbaren Gesichter derer, die er zu retten versuchte, niemals vergessen.

Dann kam der Tag, an dem die Gestapo energisch durchgriff. Er hatte versucht, sich darauf vorzubereiten. Aber trotzdem war er kaum auf diese letzte Verhaftung gefasst. Als er seinen Körper auf dem harten Boden der Baracke in Dachau hin und herwälzte, erinnerte er sich oft darin, wie er am 21. Dezember 1940 im Viehwagen von Berlin in sein erstes Konzentrationslager, Sachsenhausen, transportiert worden war. Im eiskalten Viehwagen herrschte nichts als Angst. Aber draußen sah er bei seinem „letzten Blick in die freie Welt“ Weihnachtseinkäufer mit ihren Geschenken nach Hause eilen. In den Gärten und auf den Balkonen standen Weihnachtsbäume. Er freute sich an den bunten Hinweisen auf ein bürgerliches Leben!

Er erinnerte sich auch an seine Einführung in das Leben des Konzentrationslagers ein paar Tage später. Es war Samstag vor dem 4. Advent. Über dem Tor zum Lager in Sachsenhausen war der zynische Satz „Arbeit macht frei“ in großen Buchstaben angebracht. Als er dann in seinen dünnen Kleidern dort zitternd vor Kälte stand, stürzte sich plötzlich ein Wächter völlig grundlos auf ihn, schlug ihn zu Boden, schlug ihn mit den Fäusten und trat ihn dann mit seinen Nagelstiefeln. Das war ihm wie das Ende erschienen, aber es war nur der Anfang. Als er dort so schmachvoll und voller Schmerzen lag, hörte er Kirchenglocken von einem Dorf in der Nähe. Was hatten sie ihm zu sagen? Die Glocken forderten ihn dazu auf, seine Gedanken auf das zu richten, woran die protestantischen Kirchen in ganz Deutschland zu dieser Zeit dachten und worüber seine eigene Familie zweifellos auch nachdenken würde. Es waren die erwärmenden Worte eines anderen Pastors, der genauso gelitten hatte. Mitten in all seinem Leid war Paulus dazu fähig gewesen zu sagen „Freuet euch im Herrn allezeit; nochmals will ich sagen: Freuet euch! Lasset eure Freundlichkeit allen Menschn kundwerden! Der Herr ist nahe.“

Aber wie sollte sich ein Mensch in Grübers Situation freuen? Im ersten Augenblick schien der Gedanke lächerlich. Dann fiel ihm Luthers Rat ein: Es gibt Zeiten, in denen sollte man die Bibel wie die Hebräer lesen, nämlich rückwärts. Das würde er versuchen. Er würde den letzten Satz als ersten nehmen: „Der Herr ist nahe.“ Wenn ein Mensch im Konzentrationslager diese Hauptprämisse zum Mittelpunkt seiner Gedanken machen könnte, dann würde sich alles andere daraus ergeben. Er könnte es dann mit allem aufnehmen. Er könnte sich sogar freuen. Ja, wenn Gott nahe war, näher als irgendjemand sonst, könnte die Dunkelheit, die in ihm herrschte, dem Licht weichen. Von nun an würde er sich selbst nicht mehr als Gefangenen einer brutalen Macht, sondern des „lebendigen Gottes“ verstehen.

Nicht lange danach hatte er Gelegenheit, seine neue Denkweise zu überprüfen. Ein Wächter, den er durchaus nicht provoziert hatte, schlug ihm die Zähne ein. Sein Mund blutete noch, aber er erkannte dankbar, dass er dem Mann nur das Beste wünschte. Er war erstaunt, dass er keine Rachegefühle gegen ihn empfand und er erlebte eine seltsame Freude.
Zwar konnte sein Körper hinter einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun eingesperrt sein, der von Wachtürmen umgeben waren, die mit Wachen mit Maschinengewehren bemannt waren. Aber im Grunde seines Wesens war er frei! Er war frei, um diese besondere Kraft zu empfangen, die von außen zu kommen schien, wenn ein Mensch unter Einsatz seines Lebens schwächeren Kameraden bei der Arbeit hilft oder wenn er ihnen etwas von seinem Brot abgibt.

Oft hatte er in Sachsenhausen, wenn die Wachen nicht guckten, mehr als Brot mit seinen Mitgefangenen geteilt. Er hatte ihnen kleine Papierstücke gegeben, auf denen mit Bleistift Zitate aus Gesangbuch und beiden Testamenten standen. Das erfüllte anscheinend ein dringendes Bedürfnis. Sogar Atheisten hatten darum gebeten.

Grüber erinnerte sich an den September 1941, als er nach Dachau überführt wurde. Dort hatte er die menschliche Perversität in noch schrecklicherem Ausmaß erlebt. Er hatte von seinem Versteck unter dem Bett aus gesehen, wie nur ein paar Meter von ihm entfernt Tausende von russischen Kriegsgefangenen in einem besonderen Gebäude zusammengetrieben worden waren. Sie wurden dann, immer nur einige auf einmal, hinausgelassen und erschossen. Aber es gab auch versöhnliche Augenblicke. An Sonntagen nach vier Uhr nachmittags, wenn die Arbeit zu Ende war und die meisten Wächter frei hatten, sammelten sich an verschiedenen Stellen des Lagers unbeobachtet kleine Gruppen von Gefangenen zum Gottesdienst. Um nicht die Aufmerksamkeit von Spionen zu erregen, vermieden sie sorgfältig alle frommen Gesten und taten die ganze Zeit über so, als suchten sie sich die Läuse ab oder flickten ihre Kleider. Aber in Wirklichkeit waren sie auf das aufmerksam, was Grüber ihnen zitierte: die Heilige Schrift. Bevor sie den Gottesdienst beendeten, stärkten sie einander mit dem Vaterunser. Dabei waren sie ganz und gar aufrichtig.

Grüber lag drei lange Wochen unter dem Bett versteckt. Das, was in seinem Geist vor sich ging, als er dort vor Kälte zitternd und fast verhungernd lag, bewirkte, dass es keine verlorene Zeit für ihn war. Er hatte Gelegenheit, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Als er in die alte Routine zurückkehrte, war er fast für ein weiteres Martyrium bereit. Dieses Mal sah es so aus, als würde er dabei sterben.
In Dachau wurden Gefangene oft von nationalsozialistischen Wissenschaftlern für „medizinische Experimenten“ als menschlich Versuchskaninchen benutzt. Einige wurden in eiskaltes Wasser geworfen und dort gelassen. Andere bekamen Injektionen mit tödlichen Keimen oder Medikamenten. Wenn der Versuch gelang, war der Patient tot. Aber bis dahin wurde er von einem Arzt überwacht.

Als der Untersuchungsarzt Grüber nach seinem Beruf fragte, antwortete der, er sei Pastor.
„Mein Großvater war Pastor“, sagte der Arzt nachdenklich.
Hatte der Enkel noch ein Gewissen? fragte sich Grüber. Da Grüber ohnehin bald sterben würde, könnte er vielleicht am Ende seines Weges aus diesem Leben noch die Seele eines Menschen berühren. Er sah ihm fest in die Augen.
„Was denkt Ihr Großvater wohl von Ihnen“, fragte er, „wenn er Sie aus der Ewigkeit beobachtet? Meinen Sie nicht, dass es ihn schmerzt, wenn er sieht, dass Sie Menschen schlechter behandeln, als man Tiere behandelt? Sie spielen mit dem Leben von Menschen, als wäre es wertlos, als wären sie weniger wert als Tiere!“
Einen Augenblick lang herrschte ein entsetzliches Schweigen. Dann bedeutete der Arzt Grüber, in seine Baracke zurückzugehen. Am nächsten Tag wurde er wieder zum Arzt gerufen. Es war derselbe, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte. Er untersuchte ihn sorgfältig. Wozu tat er das? Wie sich später herausstellte, suchte er eine Ausrede, um den Pastor, der sein Gewissen erreicht hatte, zu retten.

Grüber wurde aus der Gruppe derer, die als „lebensunwert“ eingestuft worden waren, herausgenommen. Der Arzt hatte sich persönlich für ihn eingesetzt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Sie bekam eine Eins in dieser Prüfung

Sogar die Wächter in Ravensbrück kannten Elizabeth Pilinko unter dem Namen „die wunderbare russische Nonne“. Niemand konnte leugnen, dass sie das gewisse Etwas hatte.

Sie gehörte einer wohlhabenden Familie in Südrussland an und hatte an der Frauenuniversität studiert. Danach unterrichtete sie an der Abendschule einer Fabrik. Nach der Oktoberrevolution 1917 setzte sie ihr Leben dafür ein, Terror-Opfer zu retten. Sie tat als Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt Dienst und setzte sich sehr für gute Beziehungen zwischen Kommunisten und Antikommunisten ein. Dadurch geriet sie in Schwierigkeiten. Ein Prozess fand statt, aber irgendwie kam sie davon. Schließlich war sie die Grausamkeiten beider Seiten leid und floh nach Paris. Dort trat sie einem religiösen Orden bei. Unter dem neuen Namen „Mutter Maria“ stürzte sie sich in die Arbeit, den Allerärmsten zu helfen.

Sie trug ausrangierte Männerschuhe und ging, einen Sack auf dem Rücken, durch die Stadt, um Nahrungsmittel zu sammeln, die sie in den schmutzigen Bruchbuden am Seineufer verteilte. Außerdem tat sie für russische Flüchtlinge, was sie nur konnte, besonders für die geisteskranken. Schließlich übernahm sie ein Haus und richtete darin eine Heimstätte für Verzweifelte ein. Als die deutschen Truppen Paris besetzten, versteckte sie verfolgte Juden in den Mauern ihres „Hospitals“.
Kurz darauf wurde sie von der Gestapo gestellt und in das berüchtigte Konzentrationslager in Polen befördert. Das war ihre letzte Prüfung auf dieser Erde. Dort stand ein erst kurz zuvor errichtetes Gebäude.

Die Beamten hatten erklärt, dass es nur ein Badehaus sei. Aber Elizabeth wusste es besser.
Einige Dutzend Frauen wurden in einer Reihe aufgestellt. Es konnte kein Zweifel mehr daran herrschen, wozu das führen sollte. Sie sollten alle durch diese finsteren Tore gehen und sie würden nicht mehr herauskommen. Eine der Frauen, sie war noch sehr jung, brach zusammen. Obwohl Elizabeth nicht auf der Liste stand, ging sie zu der verzweifelten Mitgefangenen und sagte: „Du hast große Angst. Sieh mal, ich will deinen Platz einnehmen.“ Dann ging sie mit den anderen in die Gaskammer.

Seltsamerweise war es Karfreitag 1945.

Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
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Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
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