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Donnerstag

„Es geht mir nicht um mich, aber ich denke an meine Frau und an meine Tochter…“

Genau dort wollen wir ansetzen. Wie schützt man am besten eine junge Frau oder Tochter vor einer Eroberungsarmee, die gerade triumphal durch die Stadt marschiert ist, wenn die Soldaten etwa eine Woche lang frei haben und mehr oder weniger tun, was sie wollen? Gibt es da denn überhaupt eine Möglichkeit?

Natürlich ist das ein großes Problem. Hunderttausende von Eltern mussten 1945 in Deutschland damit fertig werden. Eins war jedenfalls klar: Es war unmöglich, sie durch physische Kraft zu schützen. Manchmal konnte man sie dadurch schützen, dass man die Sieger bestach, aber das gab nur vorübergehend Sicherheit.
Die meisten Menschen mögen über den Schrecken dieser Tage nicht sprechen. Nur in zwei oder drei Fällen haben wir Einzelheiten darüber gehört, wie die Menschen mit dieser Situation fertig wurden.

l945 lebte Lotte Hoffman mit ihrer etwa sechzehnjährigen Tochter in ihrer halbzerstörten Wohnung in einem Vorort von Berlin. Russische Soldaten streiften überall herum. Einige vergewaltigten und töteten, viele plünderten. Plötzlich brachen sie auch in ihre Wohnung herein. Was konnte sie tun? Sie konnte nicht Russisch, aber sie hatte eine schöne Singstimme. In ihrer Verzweiflung bat sie im Stillen Gott um Hilfe. Daraus ergab sich ganz natürlich der nächste Schritt. Sie setzte sich ans Klavier und sang deutsche Volkslieder. Bald zeigten die Soldaten, die noch einige Augenblicke zuvor anscheinend nur drohen und schreien konnten, eine ganz andere Seite. Sie standen oder saßen um das Klavier herum und jeder war auf seine Weise damit beschäftigt, den Geist, der durch die Musik in ihr Herz eingetreten war, anzuerkennen.

Von da an saßen immer dann, wenn halbbetrunkene Soldaten in der Nähe waren, ein oder zwei russische Soldaten die ganze Nacht bewaffnet in Frau Hoffmanns Zimmer, um sicherzustellen, dass sie und ihre Tochter in Sicherheit waren.

Eine amerikanische Freundin, die 30 Jahre in Dresden gelebt hatte, überlebte die drei großen Luftangriffe auf die Stadt. Diese Luftangriffe kosteten wohl 300 000 andere Einwohner das Leben.
Bevor sie Dresden verlassen und in die Vereinigten Staaten zurückkehren konnte, lebte sie 14 Monate lang unter russischer Besatzung. Während dieser Zeit führte sie sorgfältig Buch. Einige der Ereignisse sind schrecklich und zeigen direkt, welche Grausamkeit der Krieg freisetzt. Andere beleuchten den uns gemeinsamen Boden, auf dem Menschen der unterschiedlichsten Nationen zusammen stehen. Hier sind einige ihrer Erfahrungen in ihrer eigenen lebendigen Erzählweise:
„Vom Tagesanbruch des 8. Mai (1945) an erschütterte Kanonendonner den Boden  so sehr, wie er seit den Bombenangriffen nicht erschüttert worden war. Das war Artilleriefeuer. Türen und Fenster hingen seit den Luftangriffen locker in den Rahmen und schepperten nun nach jedem Schlag bedrohlich. Überall standen Menschen und lauschten. Bleiche Gesichter sahen einander ungläubig an. Was für ein Wahnsinn, deutsche Jungen in dieser letzten Stunde der Katastrophe in den sicheren Tod zu schicken! Plötzlich hörte die Beschießung auf: Die Stadt Dresden oder eher das, was von ihr übrig geblieben war, hatte kapituliert. Bedingungslose Kapitulation an wen? Den Russen war das Privileg zugestanden worden, die Stadt als erste und allein einzunehmen. Eine Nachbarin klopfte an mein Fenster. Ihre Augen waren von Panik geweitet.

‚Sie kommen hierher’, keuchte sie, ‚mein Bruder hat sie gesehen! Was sollen wir nur tun?’
‚Tun? Na gar nichts’, antwortete ich mit, wie ich hoffte, fester Stimme, obwohl auch ich von Angst erfüllt war. ‚Denken Sie daran, wie viele Lügen beide Seiten während des Krieges übereinander verbreitet haben. Sie werden sehen, dass die Russen Menschen wie wir sind, jedenfalls werden sie uns nicht fressen.’
Sie wendete sich ab und schluchzte. Was konnten wir nun wirklich tun? … Das Beste hoffen und glauben.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Ein Gewehrkolben schlug gegen die Haustür. Der alte Papa H, mein freundlicher Wirt, lief, um zu öffnen. Schroffe Stimmen im Hausflur. Ich sprang in die Höhe. Ein Soldat in russischer Uniform war in mein Zimmer eingedrungen. Eine Sekunde lang standen wir einander gegenüber und sahen uns an. Er war jung, blond, hatte blaue Augen, die dunkel vor Erregung waren. Was die wenigen Worte Russisch anging, die ich in den letzten Jahren gelernt hatte, nun, wahrscheinlich würde sie kein Russe jemals verstehen!!... Ich schluckte – lächelte: ‚Wie geht es Ihnen? Ich freue mich, sie kennen zu lernen’. Ich streckte meine Hand aus, die er mit eisernem Griff fasste und herzlich schüttelte. Er betrachtete mich, das Zimmer und die Fotografien an der Wand. Mit einer unwillkürlichen Bewegung bekreuzigte er sich schnell vor dem Bild der Sixtinischen Madonna. Dann guckte er mürrisch, als wäre er dabei ertappt worden, dass er etwas Verbotenes tat.

‚Amerrika?’
Ich nickte. ‚Ja, Towarisch, wir Freunde.’ Da lachte er fröhlich und erzählte das Blaue vom Himmel, von dem ich nur ab und zu ein Wort verstand. Ohne weitere Umstände ließ er sich auf die Couch neben mir plumpsen – und sprang sofort wieder auf. Er starrte mich mit wildem Verdacht an. ‚Schto eto takoje?’ Was ist das?
Ich sah ihn ängstlich an und verstand nicht. ‚Was ist – was?’
‚Das!’ Er schrie jetzt und zeigte auf die Couch.
‚Couch – Bett – Divan …’ Was meinte er wohl?
Er zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Couch und sah mich dabei immerzu an. Allmählich veränderte sich sein Blick und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem sonnnengebräunten Gesicht aus. Dann ließ er sich wieder neben mich fallen. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die weichen Kissen und dann fing er an auf und ab zu springen, auf und ab, und ich, deren Hand er hielt, sprang höflich neben ihm mit. Jetzt verstand ich. Er hatte bis dahin noch nie eine elastische Polsterung erlebt! Seine Neugier erwachte. Er ging durch das Zimmer, drehte den Wasserhahn überm Waschbecken an, wo ‚Wasser aus der Wand kam’, drückte auf die kleinen wunderbaren Knöpfe an zwei Lampen, die irgendwie ‚Licht von der Decke’ herabschickten. Und dann sah er meine kleine goldene Armbanduhr, die ich vergessen hatte wegzuräumen. In Russland gibt es keine Uhrenindustrie, keinen Schmuck – er würde dem Anblick der Uhr nicht widerstehen können. Er könnte zu Hause dafür ja eine ganze Ferienhütte kaufen … Er legte die Hände ineinander wie ein Kind, das um etwas bittet. Dann nahm er die Uhr und streichelte sie mit der rechten Hand, als streichelte er etwas Lebendiges, und sah mich an.

Wäre es nicht besser, etwas freiwillig herzugeben, als es vielleicht weggenommen zu bekommen? Sie bedeutete ihm so viel, so schrecklich viel. In einer plötzlichen Eingebung nickte ich. Er sagte nichts, aber das Glück in seinem harten jungen Gesicht war wirklich sehenswert. Und dann, als wollte er mir beweisen, dass er keinerlei Beute bei sich trug, knöpfte er die Manschetten seines Hemdes auf und schob die Ärmel hoch. Da war keine Uhr. (Später sah ich Soldaten stolz ganze Reihen von Uhren zur Schau stellen, diese kostbaren Schätze, die sie mit nach Hause nehmen würden.) Er drehte seine Taschen um. Sie waren leer und sauber. Er hatte sie offensichtlich noch nie benutzt. Dann musste ich meine Hände in seine Stiefel stecken. Außer einem Messer in einem Seitenfach war da nichts.
Draußen hörte man barsche Schreie und Türenknallen. Er sprang auf. Ein Klaps auf die Wange, ein flüchtiger Kuss auf meine Stirn, ein strahlendes Lächeln – und er lief aus dem Zimmer.“

Diese Freundin reagierte in den Krisentagen mit der nachdenklichen Höflichkeit, die ihr zum Reflex geworden war. Es war ein undramatisches Verhalten, ein Verhalten, das nicht improvisiert werden kann. Wir wollen sehen, wie sie die Geschichte weitererzählt.
„Wir sahen zu, wie die neuen Besatzer einzogen. Während die Männer sich äußerlich nicht viel veränderten – nur war hier und da eine neue Uniform zu sehen -, sie trugen außer Haus und im Haus ihre Militärmützen, ging mit allen Frauen eine interessante Metamorphose vor, auch mit den Soldatinnen. Es waren viele. Wahrscheinlich waren sie als schwer arbeitende Landarbeiterinnen aufgewachsen – Körperbau, Hände und Füße wiesen darauf hin – und hatten in der Armee ein Leben voller Gefahren und größter Entbehrungen geführt. Aber sie waren eben Frauen mit dem Instinkt von Frauen für das Schöne.

Sie kamen in Scharen, in offenen Lastwagen, mit mürrischen Gesichtern, Stupsnasen und vollbusig. Wenn sie Zivilistinnen waren trugen sie hohe Filzstiefel und weiße Kopftücher. Hier warfen sie erste Blicke auf Frauen des Landes, zu dessen Eroberung sie beigetragen hatten. Diese Frauen waren wie meine Freundinnen und ich gekleidet, sehr einfach, ja ärmlich. Für sie jedoch war diese ordentliche Sauberkeit sehr aufregend. Hatte man ihnen nicht erzählt, hier herrschten Armut und Elend, die noch viel größer als ihre eigenen waren? Wie waren dann diese hübschen Kleider möglich: keine Löcher, keine Flicken, keine Flecken? Und sie trugen Hüte oder kleidsame kleine Turbane aus hellem Stoff auf den Köpfen? Erstaunlich. Sie wurden nachdenklich, ärgerlich, neidisch. Manch eine erschreckte Deutsche kam in diesen ersten Wochen ohne Hut nach Hause, bis ihre Befreierinnen schließlich herausfanden, dass sie diese Kleider und Hüte, die sie begehrten, für das Geld kaufen konnten, das sie bekommen hatten, aber bisher noch nicht hatten ausgeben können. Von da an wurde jeder Laden überrannt und nach einer wilden Zeit von Nachfrage ohne Bezahlung einigten sich beide Seiten auf einen steten Handel.

Einerseits war es komisch und andererseits auch ein bisschen Mitleid erregend zu sehen, wie die kräftigen Frauen und Mädchen aus den Frisiersalons kamen: Aus ihren vernachlässigten und so lange Zeit unter Soldatenmützen oder Tüchern verborgenen Haare waren nun Locken geworden. An den Füßen, die bis dahin in Stiefeln gesteckt hatten, trugen sie nun hochhackige Pumps und sie waren in Seide und Spitzen gehüllt, die sie nie zuvor auch nur von Ferne gesehen hatten. Einige dieser Frauen waren regelrechte Schönheiten geworden.

Nie hat mich der Verlust von persönlichem Eigentum weniger geschmerzt als an diesem sonnigen Maimorgen. Mein erschrockener Wirt zog mich zum Küchenfenster und machte mir Zeichen, ich solle durch den zerbrochenen Fensterladen in den Garten sehen. Polnische „Fremdarbeiter“, die von den Russen befreit worden waren, hatten den kleinen Schuppen aufgebrochen, in dem Werkzeuge und meine beiden großen Überseekoffer aufbewahrt wurden. Diese hatten sie aufgeschlitzt. Die Frauen hatten sich auf die Abendkleider gestürzt und probierten sie unter Geschrei und entzücktem Lachen an. Nie habe ich glücklichere Gesichter gesehen als die der beiden, denen es gelungen war, ein schwarzes Chiffonkleid und ein taubenblaues Spitzenkleid über den Kopf zu ziehen. Mit ihren zerarbeiteten Händen glätteten und streichelten sie den feinen Soff über ihren Hüften. Die Bewunderung in den Augen ihrer nicht weniger entzückten Landsleute, die noch abgemagert und zerlumpt in ihren mit Schweißflecken übersäten alten Kleidern dastanden, war rührend.
Vielleicht hätte ich meine Kleider zurückbekommen können. Es hätte wahrscheinlich genügt, die jungen Leute in Englisch anzusprechen, denn die Polen besitzen die besten Umgangsformen der Welt. Aber das wollte ich nicht. Ich konnte ihnen ihr Vergnügen nicht verderben. Als sie gegangen waren, ging ich hinaus. Mein kostbares Leinen lag verstreut und unberührt auf dem Fußboden des Schuppens. Sie hatten nur die nutzlose Eleganz mitgenommen. Aber vielleicht war die ja gar nicht so nutzlos. Hatte sie nicht nach Jahren unsäglicher Entbehrungen einige Menschen glücklich gemacht?“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Der Pazifist greift zum Gewehr

Die japanischen Soldaten näherten sich der verlassenen Amerikanischen Universität ein paar Kilometer außerhalb des kleinen chinesischen Dorfes. Merlin Bishop, der amerikanische Missionar, der dort allein zurückgeblieben war, konnte schon das bedrohliche Maschinengewehrfeuer in der Ferne hören, aber er entschloss sich, die Stellung am Tor der Institution, an der er so lange gelehrt hatte, bis die Invasion die Universität in Richtung Westen vertrieben hatte, zu halten.

Sie kamen die Straße herunter: schmutzig, unordentlich, angespannt und äußerst müde. „Sie sehen so erschöpft aus, wie ich noch keine andere Gruppe je gesehen hab“, dachte Bishop. Die Gruppe war klein, eine Art Vorhut. Sie würden noch ein paar hundert Meter weitertrotten und sich dann niederlassen, ihr Maschinengewehr aufstellen und dann die vor ihnen liegende Straße beschießen. Sie schenkten dem Mann, der da am Tor stand, als sie vorbeigingen, wenig Aufmerksamkeit.

Am nächsten Tag war das nahe gelegene Dort zu einem Feldhauptquartier der Japaner geworden und Bishops Schwierigkeiten begannen. Er hatte erwartet, dass sie begehrliche Blicke auf die Universitätsgebäude werfen würden. Schon bald kam eine Gruppe zu ihm und forderte die Schlüssel.
Bishop lehnte höflich, aber bestimmt ab. Er erklärte, dass die Gebäude der Amerikanischen Missionsbehörde gehörten, dass sie seiner Sorge anvertraut seien und dass ihm nicht gestattet sei, die Schlüssel irgendjemandem auszuhändigen. Im Laufe einer eineinhalbstündigen Diskussion, während der der Missionar immer höflich und freundlich, aber fest geblieben war, überzeugte er die Japaner und sie zogen ab. Leider war das noch nicht das Ende.

Durchschnittlich alle zwei Wochen wechselte die Dorfgarnison und jede neue musste immer wieder neu überzeugt werden. Dabei tat er sein Möglichstes, immer ruhig und freundlich zu bleiben.
Dann gab es eine große Krise. Irgendetwas hatte sich zugetragen, das die Japaner dazu veranlasste, weniger geduldig  und weniger bereit zu sein, die Argumente des Missionars anzuhören. Bishop fühlte die Spannung in der Luft. Er wusste genau, dass die Japaner mit ihm tun konnten, was sie wollten, da er auf sich allein gestellt war. Es gab keinen „neutralen“ Zeugen, den er gegen sie hätte aufrufen können. Der Tod eines Missionars konnte ganz leicht mit einer „verirrten Kugel – es tut uns ja so leid!“ erklärt werden.
Er begrüßte sie also so herzlich wie immer und lehnte ihre Forderung nach den Schlüsseln des Gebäudes mit der üblichen bedauernden Festigkeit ab. Aber diesmal schienen die sehr beredten Argumente die Soldaten nur in Wut zu versetzen. Schließlich stellte der kommandierende Offizier der Gruppe ihm ein Ultimatum.
„Entweder geben Sie die Schlüssel heraus“, forderte er kategorisch, „oder wir erschießen Sie!“
Der Missionar nahm Haltung an: „Ich habe Ihnen gesagt, wie es ist“, erwiderte er ruhig. „Ich wünsche Ihnen nichts Böses, aber ich kann das, was Sie von mir verlangen, nicht tun. Ich kann nicht.“

Der Offizier wählte grimmig drei Mann aus und stellte sie in einer Reihe vor dem Missionar auf.
„Legt an!“ kommandierte er und die Gewehre wurden angelegt. „Geben Sie die Schlüssel heraus!“
„Ich kann nicht. Ich habe ja schon gesagt: Ich kann nicht. Ich hasse Sie durchaus nicht, sondern ich empfinde die freundschaftlichsten Gefühle für Sie. Aber ich kann Ihnen die Schlüssel nicht geben.“
In den Augen der Soldaten leuchtete Bewunderung und Überraschung auf, als ob sie nicht verstünden, was ihn dazu veranlasste, angesichts des Todes so aufrecht dazustehen und zu lächeln.
„Zielt!“ Die Stimme des Offiziers war barsch, als er sich noch einmal an den Missionar wandte. „Ihre letzte Chance“, sagte er. „Geben Sie die Schlüssel heraus!“
Dann trat eine Pause ein. Bishop sah die Männer direkt an, die ihm mit angelegtem Gewehr gegenüber standen. Er sprach zu ihnen von Mann zu Mann, als Bruder zum Bruder.
„Ich kann nicht“, sagte er. „Sie wissen, dass ich nicht kann.“

Es herrschte absolute Stille. Der Missionar sah die Männer mit stetem Blick an. Der Offizier schien unsicher, die Männer fühlten sich unbehaglich. Dann entspannten sie sich, einer nach dem anderen. Sie senkten die Gewehre, ein dümmliches Lächeln trat an die Stelle der Blicke voll grimmiger Entschlossenheit. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber.

Einer vom Erschießungskommando war anscheinend empört und verwirrt über das, was bei der Situation herausgekommen war. Er packte sein Gewehr und guckte wütend.
„Vater“, betete Bishop, „ein wenig mehr Liebe. Lass mich ein wenig mehr Liebe zeigen.“
Der Soldat hatte sich entschlossen. Mit aufgestelltem Bajonett am Ende seines Gewehrs warf er sich plötzlich auf den Missionar.

„Er kam schnell“, erinnert sich Bishop, „und er kam hart. Im letzten Augenblick, als die Spitze des Bajonetts keine 30 Zentimeter vor mir war, wich ich aus. Er verfehlte mich und die Stärke seines Stoßes warf ihn gegen mich. Ich fasste um ihn herum und ergriff mit der Rechten den Gewehrkolben. Ich dachte, dass unter solchen Umständen einem Pazifisten verziehen werden könnte, wenn er zum Gewehr griff! Mit meinem linken Arm umfasste ich seine Schultern und zog ihn eng an mich. Ich war größer als er und er musste zu mir aufsehen. Als sich unsere Blicke trafen, war sein Gesicht von Wut verzerrt.
„Unsere Blicke bohrten sich ineinander und blieben so einige Sekunden lang, die mir wie eine Ewigkeit erschienen. Dann lächelte ich zu ihm hinunter und es war wie ein Frühlingstauwetter, das das Eis auf einem gefrorenen Fluss zum Schmelzen bringt. Der Hass verschwand und nach einem Augenblick der Bestürzung lächelte er zurück.“

Das war dann wirklich das Ende. Einige Minuten später führten die Soldaten wie eine Gruppe verblüffter Kinder den Missionar in ihre Unterkünfte, damit er vor der anstrengenden Reise zurück ins Dorf mit ihnen Tee trinke.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Dieses Mal lachten sie mit und nicht über Carlotta

Carlotta war dabei. Aber es machte sie krank, dass sie ausgelacht wurde. Sie saß ganz vorn und dadurch wurde sie ein leichtes Ziel für Papierkügelchen, die nach ihr gespuckt wurden und die ihr manchmal richtig wehtaten. Weniger ihrer Haut als ihren Gefühlen.

In diesem Teil des Südens der Vereinigten Staaten war ihre Highschool eine der ersten, in die schwarze Schüler und Schülerinnen aufgenommen wurden. Sie war die einzige Schwarze in der Klasse und verstand sehr gut, dass hier Geschichte geschrieben wurde. Deshalb hing viel davon ab, auf welche Weise sie auf die Herausforderung reagieren würde.

Bisher hatte sie, immer wenn eine dieser mit Spucke befeuchteten Raketen, die im Allgemeinen ein Stückchen Metall enthielten, sie an der Wange oder der Stirn traf, an sich halten können. Natürlich schlug ihr Herz schneller. Aber mit großer Selbstbeherrschung war es ihr gelungen, dies vor ihren Klassenkameraden zu verbergen. Das Problem war, dass die Mitschüler auf die Idee verfallen könnten, dass Carlotta nicht ebenso empfand wie alle anderen, wenn sie sahen, wie sie reagierte, während sie das doch nur mit einem großen Aufwand an Selbstbeherrschung zustande brachte.

Carotta erzählte in einer Übungsgruppe in einer der Kirchen von ihrem Problem. Sie erklärte dort, dass sie, obwohl sie entschlossen war, nicht zurückzuschlagen, sie sich manchmal so niedergedrückt fühlte, dass sie sich, wenn sie sich nach einem dieser Angriffe das Gesicht abwischte und die Klasse wie wild darüber lachte, wünschte, sie könnte sich aus der Klasse schleichen und müsste nie mehr dorthin zurückkommen.

Zum Glück war Jim Lawson ihr Gruppenleiter. Er war älter und hatte noch Schlimmeres als sie ertragen müssen. Er hatte auf diese Beleidigungen intelligent und mutig reagiert. Er war selbst neugierig, was geschehen würde, wenn Carlotta, wenn sie das nächste Mal ein Papierkügelchen treffen würde, echt und stark darauf reagieren würde und nicht auf ihre übliche angespannte und zu negative Art. „Wie wäre es, wenn du es folgendermaßen versuchen würdest? Du hebst das Papierkügelchen vom Fußboden auf. Dann trägst du es zum Platz des Mitschülers, der es gespuckt hat. Es wird nicht schwer sein herauszufinden, wer es war, denn die anderen Kinder werden auf ihn zeigen, denn sie hoffen, dass du diesmal mit Gewalt reagierst oder deine Gefühle zeigst. Dann lächelst du ihn so freundlich wie möglich an – und dein Lächeln muss durchaus echt sein – und legst das Papierkügelchen höflich auf seinen Tisch. Du kannst dich darauf verlassen, dass dir dann schon einfallen wird, was du anschließend tun kannst.“

Carlotta staunte. Das war wirklich ein Plan! Sie war so davon begeistert, dass sie die möglichen Schritte immer wieder in ihrer Vorstellung durchging. Schon nach ein paar Tagen ergab sie die Gelegenheit, das neue Verhalten auszuprobieren. Das Papierkügelchen verfehlte sie. Sie hob es vom Boden auf und brachte es dem offensichtlich „Schuldigen“. Sie legte das Papierkügelchen mit allem ihr zur Verfügung stehenden Charme vor ihn hin, lächelt und fragte: „Das gehört doch dir, nicht?“ Zu ihrem Erstaunen gelang es ihr, zu ihrem Platz zurückzugehen, ohne dass sie auch nur im Geringsten verlegen war.

Die Klasse brach in Gelächter aus. Diesmal jedoch nicht über Carlotta.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Lebenswert

Eines Abends lag Heinrich Grüber an einem Ort, wie er erbärmlicher auf der ganzen Erde nicht hätte sein können, bewusstlos in einer Reihe mit Leichnamen. Das geschah im Winter 1941 auf 42 im Konzentrationslager Dachau. Ein paar Stunden zuvor hatte er einen Herzanfall gehabt. Er konnte jederzeit in den Verbrennungsofen geworfen werden.

Ein Mitgefangener hatte jedoch etwas Besonderes an dem Verhalten dieses Leichnams bemerkt, das den Wächtern, die die Leichen inspiziert hatten, entgangen war. Die Augenlider hatten sich anscheinend bewegt. Sobald die Wächter außer Sichtweite waren, sah er genauer zu. Das Herz schlug noch. Schnell brachte er den schwer Kranken in die Krankenstation. Dort kam der Patient wieder zu Bewusstsein. Aber viele Tage lang zweifelte er daran, ob dieses Leben die Anstrengungen wert war. Trotz der Freundlichkeit der Menschen, die wie er zu Hitlers Opfern geworden waren und die ihn gesund pflegten, wurde er von einem Gefühl der Einsamkeit überwältigt. Würde er jemals seine Frau und seinen kleinen Sohn wiedersehen? Wahrscheinlich nicht. Die Kraft schien ihn ebenso schnell wieder zu verlassen, wie er sie zurückgewonnen hatte.

Dann wurde die geringe Hoffnung, die er inzwischen doch in sich genährt hatte, durch die Ankunft einer besonderen Kommission erschüttert. Es war eine Kommission von medizinischen Forschern und Offizieren der gefürchteten Schutzstaffel. Die SS-Leute hatten den Auftrag, die „überflüssigen Esser“ auszusondern und zu töten, d. h. die Gefangenen, die zu schwach zum Arbeiten waren.
Um Grüber vor dem Krematorium zu retten, versteckte der Mann, der ihn gepflegt hatte, ihn unter einem Bett in einer ungeheizten Baracke. Sein einziger Schutz gegen die Temperaturen unter Null waren eine abgetragene Jacke und ebensolche Hose, zwei dünne Decken und Holzschuhe.

Viele Jahre später erklärte Grüber uns fünf oder sechs Zuhörern in einer Westberliner Wohnung: „ Ich habe dieses Martyrium rein durch Gnade überlebt. Was mir in diesem Konzentrationslager widerfuhr, war ein Wunder, das Wunder von Nahrung ohne Brot. Tatsächlich gelang es meinen Freunden, etwas Brot in mein Versteck zu schmuggeln. Aber das, was ich aß, hätte nicht für mein Überleben gereicht. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist, dass mir eine Kraft von jenseits jeder physischen Kraft geschenkt wurde. Ich bezweifle, dass irgendein Tier das hätte überleben können, wozu ich befähigt wurde. Die Tatsache, dass ich jetzt hier bin, beweist mir, dass ein Mensch mit Gottes Hilfe fast alles überstehen kann.“

Worüber dachte Grüber nach, als er unter dem Bett lag und mit aller Kraft gegen den nagenden Hunger und die Kälte ankämpfte? Oft dachte er natürlich an die Ereignisse, die ihn in die gegenwärtige Situation gebracht hatten. Er war in erster Linie darum an diesem Ort, weil er einen recht guten Kampf gekämpft hatte, manchmal sogar erfolgreich, und zwar für Juden. Er war evangelischer Pastor. Berufskollegen waren zu lange blind für die Situation gewesen, aber er konnte sie nicht übersehen. Er war weit davon entfernt, den Antisemitismus zu tolerieren oder gar zu unterstützen, wie einige Kollegen es getan hatten. Sein Gewissen zwang ihn weiterhin dazu, seine Stimme zu erheben und zu handeln. Es war ihm ziemlich klar, dass die Gestapo hart zurückschlagen würde. Aber er wollte es trotzdem wagen. Solange er konnte, würde er so vielen Juden wie möglich dabei helfen, außer Landes zu gehen.

Bald darauf war er der Leiter einer bedeutenden protestantischen Bewegung, die Verfolgte schützte. Er richtete ein Netz aktiver kleiner Hilfszentren im ganzen Land ein und hielt sie in Gang. Im Februar 1940 war er geradenwegs zu Göring gegangen und hatte von ihm gefordert, dass er mit dem Transport, noch dazu in Viehwagen, von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, in Konzentrationslager in Polen aufhören solle.
Man hatte ihm gesagt: „Leuten wie Ihnen können wir leicht den Mund stopfen.“
„Solange ich lebe und meine Stimme erheben kann“, hatte er erwidert, „werde ich Ungerechtigkeit Ungerechtigkeit und Sünde Sünde nennen.“
Er wurde verhaftet und wieder freigelassen. Aber auch dann protestierte er weiter und organisierte Zweigstellen in allen großen Städten Deutschlands, die Rechtshilfe und andere Hilfe leisten sollten. Er würde die erschreckten, aber dankbaren Gesichter derer, die er zu retten versuchte, niemals vergessen.

Dann kam der Tag, an dem die Gestapo energisch durchgriff. Er hatte versucht, sich darauf vorzubereiten. Aber trotzdem war er kaum auf diese letzte Verhaftung gefasst. Als er seinen Körper auf dem harten Boden der Baracke in Dachau hin und herwälzte, erinnerte er sich oft darin, wie er am 21. Dezember 1940 im Viehwagen von Berlin in sein erstes Konzentrationslager, Sachsenhausen, transportiert worden war. Im eiskalten Viehwagen herrschte nichts als Angst. Aber draußen sah er bei seinem „letzten Blick in die freie Welt“ Weihnachtseinkäufer mit ihren Geschenken nach Hause eilen. In den Gärten und auf den Balkonen standen Weihnachtsbäume. Er freute sich an den bunten Hinweisen auf ein bürgerliches Leben!

Er erinnerte sich auch an seine Einführung in das Leben des Konzentrationslagers ein paar Tage später. Es war Samstag vor dem 4. Advent. Über dem Tor zum Lager in Sachsenhausen war der zynische Satz „Arbeit macht frei“ in großen Buchstaben angebracht. Als er dann in seinen dünnen Kleidern dort zitternd vor Kälte stand, stürzte sich plötzlich ein Wächter völlig grundlos auf ihn, schlug ihn zu Boden, schlug ihn mit den Fäusten und trat ihn dann mit seinen Nagelstiefeln. Das war ihm wie das Ende erschienen, aber es war nur der Anfang. Als er dort so schmachvoll und voller Schmerzen lag, hörte er Kirchenglocken von einem Dorf in der Nähe. Was hatten sie ihm zu sagen? Die Glocken forderten ihn dazu auf, seine Gedanken auf das zu richten, woran die protestantischen Kirchen in ganz Deutschland zu dieser Zeit dachten und worüber seine eigene Familie zweifellos auch nachdenken würde. Es waren die erwärmenden Worte eines anderen Pastors, der genauso gelitten hatte. Mitten in all seinem Leid war Paulus dazu fähig gewesen zu sagen „Freuet euch im Herrn allezeit; nochmals will ich sagen: Freuet euch! Lasset eure Freundlichkeit allen Menschn kundwerden! Der Herr ist nahe.“

Aber wie sollte sich ein Mensch in Grübers Situation freuen? Im ersten Augenblick schien der Gedanke lächerlich. Dann fiel ihm Luthers Rat ein: Es gibt Zeiten, in denen sollte man die Bibel wie die Hebräer lesen, nämlich rückwärts. Das würde er versuchen. Er würde den letzten Satz als ersten nehmen: „Der Herr ist nahe.“ Wenn ein Mensch im Konzentrationslager diese Hauptprämisse zum Mittelpunkt seiner Gedanken machen könnte, dann würde sich alles andere daraus ergeben. Er könnte es dann mit allem aufnehmen. Er könnte sich sogar freuen. Ja, wenn Gott nahe war, näher als irgendjemand sonst, könnte die Dunkelheit, die in ihm herrschte, dem Licht weichen. Von nun an würde er sich selbst nicht mehr als Gefangenen einer brutalen Macht, sondern des „lebendigen Gottes“ verstehen.

Nicht lange danach hatte er Gelegenheit, seine neue Denkweise zu überprüfen. Ein Wächter, den er durchaus nicht provoziert hatte, schlug ihm die Zähne ein. Sein Mund blutete noch, aber er erkannte dankbar, dass er dem Mann nur das Beste wünschte. Er war erstaunt, dass er keine Rachegefühle gegen ihn empfand und er erlebte eine seltsame Freude.
Zwar konnte sein Körper hinter einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun eingesperrt sein, der von Wachtürmen umgeben waren, die mit Wachen mit Maschinengewehren bemannt waren. Aber im Grunde seines Wesens war er frei! Er war frei, um diese besondere Kraft zu empfangen, die von außen zu kommen schien, wenn ein Mensch unter Einsatz seines Lebens schwächeren Kameraden bei der Arbeit hilft oder wenn er ihnen etwas von seinem Brot abgibt.

Oft hatte er in Sachsenhausen, wenn die Wachen nicht guckten, mehr als Brot mit seinen Mitgefangenen geteilt. Er hatte ihnen kleine Papierstücke gegeben, auf denen mit Bleistift Zitate aus Gesangbuch und beiden Testamenten standen. Das erfüllte anscheinend ein dringendes Bedürfnis. Sogar Atheisten hatten darum gebeten.

Grüber erinnerte sich an den September 1941, als er nach Dachau überführt wurde. Dort hatte er die menschliche Perversität in noch schrecklicherem Ausmaß erlebt. Er hatte von seinem Versteck unter dem Bett aus gesehen, wie nur ein paar Meter von ihm entfernt Tausende von russischen Kriegsgefangenen in einem besonderen Gebäude zusammengetrieben worden waren. Sie wurden dann, immer nur einige auf einmal, hinausgelassen und erschossen. Aber es gab auch versöhnliche Augenblicke. An Sonntagen nach vier Uhr nachmittags, wenn die Arbeit zu Ende war und die meisten Wächter frei hatten, sammelten sich an verschiedenen Stellen des Lagers unbeobachtet kleine Gruppen von Gefangenen zum Gottesdienst. Um nicht die Aufmerksamkeit von Spionen zu erregen, vermieden sie sorgfältig alle frommen Gesten und taten die ganze Zeit über so, als suchten sie sich die Läuse ab oder flickten ihre Kleider. Aber in Wirklichkeit waren sie auf das aufmerksam, was Grüber ihnen zitierte: die Heilige Schrift. Bevor sie den Gottesdienst beendeten, stärkten sie einander mit dem Vaterunser. Dabei waren sie ganz und gar aufrichtig.

Grüber lag drei lange Wochen unter dem Bett versteckt. Das, was in seinem Geist vor sich ging, als er dort vor Kälte zitternd und fast verhungernd lag, bewirkte, dass es keine verlorene Zeit für ihn war. Er hatte Gelegenheit, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Als er in die alte Routine zurückkehrte, war er fast für ein weiteres Martyrium bereit. Dieses Mal sah es so aus, als würde er dabei sterben.
In Dachau wurden Gefangene oft von nationalsozialistischen Wissenschaftlern für „medizinische Experimenten“ als menschlich Versuchskaninchen benutzt. Einige wurden in eiskaltes Wasser geworfen und dort gelassen. Andere bekamen Injektionen mit tödlichen Keimen oder Medikamenten. Wenn der Versuch gelang, war der Patient tot. Aber bis dahin wurde er von einem Arzt überwacht.

Als der Untersuchungsarzt Grüber nach seinem Beruf fragte, antwortete der, er sei Pastor.
„Mein Großvater war Pastor“, sagte der Arzt nachdenklich.
Hatte der Enkel noch ein Gewissen? fragte sich Grüber. Da Grüber ohnehin bald sterben würde, könnte er vielleicht am Ende seines Weges aus diesem Leben noch die Seele eines Menschen berühren. Er sah ihm fest in die Augen.
„Was denkt Ihr Großvater wohl von Ihnen“, fragte er, „wenn er Sie aus der Ewigkeit beobachtet? Meinen Sie nicht, dass es ihn schmerzt, wenn er sieht, dass Sie Menschen schlechter behandeln, als man Tiere behandelt? Sie spielen mit dem Leben von Menschen, als wäre es wertlos, als wären sie weniger wert als Tiere!“
Einen Augenblick lang herrschte ein entsetzliches Schweigen. Dann bedeutete der Arzt Grüber, in seine Baracke zurückzugehen. Am nächsten Tag wurde er wieder zum Arzt gerufen. Es war derselbe, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte. Er untersuchte ihn sorgfältig. Wozu tat er das? Wie sich später herausstellte, suchte er eine Ausrede, um den Pastor, der sein Gewissen erreicht hatte, zu retten.

Grüber wurde aus der Gruppe derer, die als „lebensunwert“ eingestuft worden waren, herausgenommen. Der Arzt hatte sich persönlich für ihn eingesetzt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Abenteuer mit unbeschränkter Haftung

Soweit sein Gedächtnis in die Vergangenheit reicht, hat Mitsuo Fuchida immer davon geträumt, tapfer für seinen Kaiser zu kämpfen. Am 7. Dezember 1941 wurde das, was bis dahin ein Traum gewesen war, zur atemberaubenden Realität. Der neununddreißigjährige Japaner war damals Kommandeur einer Luftschwadron, die im Sturzflug die vor Pearl Harbor vor Anker liegende amerikanische Flotte angriff.

In der Schlacht von Midway wurde er von einem Flugzeugträger ins Meer geweht. Dabei brach er sich beide Beine, wurde aber bald von der Besatzung eines Zerstörers aufgefischt. Zuvor hatte er über dem chinesischen Meer folgendes Abenteuer überlebt: Als nur noch für zehn Minuten Treibstoff im Tank waren und keine Aussicht bestand, im Nebel den Flugzeugträger zu finden, wies Fuchida seinen Piloten an, so lange aufzusteigen, bis der Treibstoff verbraucht sein würde. In etwa 2 500 m Höhe fing der Motor an zu stottern und ging dann aus. Aber am Horizont sah er durch sein Fernglas in kaum 10 km Entfernung eine Dschunke. Das Flugzeug glitt abwärts und sie schafften es gerade so! Der berühmte „Angreifer“ von Pearl Harbor wurde mitsamt seiner Flugzeugbesatzung sicher an Bord genommen.

Ein andermal – in der Schlacht von Java - wurde sein Flugzeug so schwer beschädigt, dass er in den Bergen von Borneo bruchlanden musste. Durch den Dschungel machten er und seine Flugzeugbesatzung sich auf den Weg zum Meer. Am dritten Tag wurden ihre Lebensgeister plötzlich beflügelt. Fast in Rufweite konnten sie ein Flugzeug ausmachen, das auf dem Boden auf sie wartete. Es war offensichtlich ein Rettungsflugzeug.
Als sie es erreicht hatten, verwandelte sich ihre Freude in Tränen. Es war das defekte Flugzeug, das sie verlassen hatten. Sie waren die ganze Zeit im Kreis gegangen. Die Nahrungsmittel hatten sie aufgebraucht. Sie waren bis zum Äußersten erschöpft. Sogar Kapitän Fuchida spielte mit dem Gedanken, sich einfach auf den Boden zu legen und auf das Ende zu warten. Aber das sollte nicht geschehen. Irgendwie stolperten und krochen sie weiter. Obwohl sie die Krokodile im Fluss dort fürchteten, gelang es ihnen, sich flussabwärts treiben zu lassen. Schließlich fand sie ein Einwohner Borneos und brachte sie an die Küste, wo sie dann von ihren eigenen Leuten gefunden wurden.
Wenn einer sein Bestes tut, um auf Ebene zwei zu kämpfen, und dabei nicht allzu viel darüber nachdenkt, wie er die eigene Haus retten kann, dann ist das nicht unbedingt alles, was einer tun kann. Es kann sein, dass dieser Mensch zur Entdeckung einer viel aufregenderen und völlig neuen Kampfweise geführt wird. Jedenfalls geschah das Kapitän Fuchida. Keiner, wie gescheit er auch bei der Voraussage von Ereignissen sein könnte, hätte sich im Voraus vorstellen können, wie sich die Dinge für den mehrfach ausgezeichneten Kriegshelden wenden würden.

Nach dem Krieg hörte er von der achtzehnjährigen Amerikanerin Margaret Covel. Ein alter Freund erzählte ihm von ihr. Der Freund war ein Veteran und sehr davon beeindruckt, wie sie ihm und anderen Japanern in einem amerikanischen Gefangenenlager geholfen hatte. Sie ging zwischen ihren „Feinden“ umher und machte sie glücklich. Die Gefangenen fragten einander manchmal, warum sie das wohl tat. Schließlich erzählte sie, was für sie der ausreichende Grund dafür war: Ihre Eltern waren Missionare auf den Philippinen gewesen und die Japaner hatten sie als Spione hingerichtet. Eine Zeitlang, nachdem sie davon gehört hatte, war sie voller Hass. Dann kam ihr in den Sinn, dass sie sich einer Sache sicher sein konnte: Ihre Eltern mussten in den letzten traurigen Augenblicken ihres Lebens Gottes Gnade für die erbeten haben, die sie töteten. Dieser Geist konnte sich weiterhin so vervielfachen, dass sie die ehrenamtliche Arbeit für ihre neuen Freunde im Gefangenlager tun konnte.

Fuchida dachte darüber nach. Eine ziemlich lange Zeit tappte er im Dunkeln. Er brauchte eine genauere Erklärung für das Verhalten dieser jungen Frau. Dann kam der Durchbruch: Auf dem Weg zu General MacArthurs Hauptquartier gab ihm ein Amerikaner eine Broschüre mit dem Titel Ich war ein Gefangener Japans. Auf dem Umschlag war der Autor abgebildet. Er gehörte zur wenig glücklichen Schwadron Doolittle, die im Frühjahr 1942 Tokio bombardiert hatte. Der Sergeant hatte vierzig Monate in einem japanischen Gefängnis zugebracht, wo er fast verrückt geworden wäre, weil er die, die ihn gefangen hielten, so brennend hasste. Dann jedoch verdrängten Erinnerungen aus seiner Kindheit die Bitterkeit. Ein Gedanke, den er in der Sonntagsschule aufgeschnappt hatte und von dem er gedacht hatte, dass er ihn für immer aufgegeben hätte, begann sich jetzt zurückzumelden: Niemand muss seinem Hass nachgeben. Jeder kann sich einer anderen Macht öffnen, die den Hass in den Wunsch, andere zu verstehen, verwandelt.

Jacob DeShazer gründete sein Leben von da an auf diese Macht. Nachdem er seine Familie besucht hatte und sich für seine neue Arbeit hatte ausbilden lassen, kehrte er nach Japan zurück, um seinen früheren Feinden von seiner Entdeckung zu erzählen. Sein gedruckter Rechenschaftsbericht faszinierte Fuchida, besonders das, was er da über die Bibel las: Der Amerikaner hatte seine Bewacher immer wieder um eine Bibel gebeten. Seine Bitte war abgelehnt worden. Schließlich brachte man ihm doch eine. Anscheinend enthielt sie genau die Weisheit, die Fuchida so dringend brauchte. Gut also. Er würde das seltsame Buch genau lesen.
Nicht lange danach las er täglich lange Passagen darin. Aber er war immer noch irritiert. Dann kam Fuchida eines Tages an die Stelle, an der erzählt wird, dass Jesus am Kreuz angesichts der Menschen, die ihn foltern und töten, ausruft: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Nun war ihm klar, warum die junge Amerikanerin sich so erstaunlich verhalten hatte. Genau dies war die Art von Mut, die er sein ganzes Leben gesucht hatte! Was einer auf dem Schlachtfeld tat, war verglichen hiermit ein Kinderspiel!

Konnte er von diesem Geist etwas für sich und für Japan nutzen? Jedenfalls konnte er es versuchen. Seine Freunde – und er hat viele, hier und in Japan – können bezeugen, dass der frühere Kriegsheld auf der neuen Ebene, die er so abenteuerlich findet, große Fortschritte gemacht hat. Wenn jemand Kapitän Fuchida selbst fragte, wie weit er gekommen sei, würde er wahrscheinlich lachen und sagen, dass er bisher weder vom Kongress noch vom Reich Orden für die Laienpredigt bekommen habe, die immer noch seine gesamte Zeit in Anspruch nimmt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.


Mitten im Kampf

Don war klein für sein Alter. Deshalb fühlte er die besondere Verpflichtung zu beweisen, was für ein harter Kerl er war. Dieser innere Zwang veranlasste ihn dazu, sich in recht viele Faustkämpfe einzulassen. Mitten in einem dieser Kämpfe, noch dazu mit einem besonders gehassten Rivalen und als er schon am Gewinnen war, überkam ihn ein seltsames Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Es war weder Angst noch Hass. Er wusste genau, dass er dem Gegner nur noch näher zu rücken und ihm noch ein paar kräftige Schläge zu verpassen brauchte, um den Kampf zu gewinnen.
Aber das konnte er nicht. Er selbst drückt es später so aus: „Ich sah plötzlich im Gesicht des anderen dieselbe Angst und Erschöpfung, die ich gefühlt hatte, wenn ich verdroschen worden war. Dieser Anblick hinderte mich darin, ihn noch weiter zu schlagen. Natürlich sah er nicht dasselbe wie ich. Also schlug er mich k..o. Aber danach wurden wir Freunde und ich musste mich seitdem nie wieder mit jemandem schlagen.“

Danach führte Don ein konstruktives Leben. Er kam in die deutsche Stadt Kassel, wenige Kilometer von der Grenze nach Ostdeutschland entfernt. An seinem vierundzwanzigsten Geburtstag war er so damit beschäftigt, Maurerarbeit an einem Gemeindezentrum zu verrichten, dass er vollständig vergaß, dass die Familie, in der er lebte, ein Fest für ihn geben wollte. Am Abend – er hatte vierzehn Stunden lang gemauert – bat ihn ein deutscher Sporttrainer, einige Sportgeräte zu transportieren. Don benutzte dafür einen Lastwagen, den ihm die amerikanische Armee geliehen hatte. Es regnete. Die Räder mussten aus dem Schlamm gegraben werden. Als er zurückkam, war es drei Uhr morgens. Aber noch war der Fußboden des Saales nicht gestrichen und er hatte versprochen, ihn zu streichen. Das dauerte bis zum Frühstück. Im Rückblick meinte er, dies sei so etwa der glücklichste Geburtstag gewesen, den man überhaupt hätte feiern können.

Das Jahr darauf stürzte sich Don in eine noch aufreibendere Arbeit: Im Hafenviertel von Neapel, wo die Kriminalität die Polizei überforderte und 5 000 Flüchtlinge aus Russland, der Tschechoslowakei und anderen Ländern gemeinsam mit in Not geratenen Italienern – alle ohne Arbeit und ohne die notwendige Kontrolle – darum kämpften, irgendwie in Höhlen und in den Ruinen eines von der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg zerbombten Gebäudes ihre Existenz zu fristen. Gemeinsam mit fünf jungen Bandenchefs, die Don wegen seiner Härte schätzten, baute er einen Jungenklub auf, der bald mehr als hundert Mitglieder hatte. Zur Unterhaltung der Jugendlichen schrieb er kleine Theaterstücke, in denen sie mitspielen konnten, und führte dabei Regie. Er hielt auch Basare ab, in denen sie von ihnen produzierten Lederarbeiten verkaufen konnten. Ein Ergebnis seiner Arbeit war, dass viele, die dem Kommunismus zugeneigt gewesen waren, sich nun für mehr Demokratie engagierten.

Als er noch in Deutschland gewesen war, hatte er bei einigen Kurzstreckenläufen einen guten Platz belegt. Aber nun hatte er infolge einer Blinddarmoperation, auf die eine Hepatitis gefolgt war, fast 15 kg Untergewicht. Dieses Martyrium hatte ihn fast das Leben gekostet.
Da die zwei Jahre seines Friedensdienstes als Kriegsdienstverweigerer um waren, hätte er nach Hause fahren können, um sich zu erholen. Aber trotz seiner Erschöpfung blieb er weitere sechs Monate, um die Grundlagen für einen Traum zu legen.

Er kehrte in die USA zurück und wurde ein Hollywoodstar, der zusammen mit Marilyn Monroe vor der Kamera stand, und er arbeitete gleichzeitig weiter an seiner Idee. Aus ihr wurde ein gut gehendes Unternehmen auf einer Insel vor der italienischen Küste. Die Vereinten Nationen sind daran beteiligt. Jedoch halten vor allem Dons Filmeinnahmen und seine Begeisterung das Projekt in Gang. Auf den 60 Hektar guten Bodens trifft er, wenn er sich mal eine Woche von den Dreharbeiten freimachen kann, 14 oder mehr seiner alten Freunde, die nun keine „displaced persons“ mehr sind, und genießt mit ihnen ihre Freiheit, in der sie gleichzeitig mit Weizen, Orangen, Artischocken, Kühen und Schweinen auch ihre Selbstachtung pflegen. Dies ist, meint Don, „die beste und modernste Hühnerfarm auf Sardinien.“



Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.


Sie bekam eine Eins in dieser Prüfung

Sogar die Wächter in Ravensbrück kannten Elizabeth Pilinko unter dem Namen „die wunderbare russische Nonne“. Niemand konnte leugnen, dass sie das gewisse Etwas hatte.

Sie gehörte einer wohlhabenden Familie in Südrussland an und hatte an der Frauenuniversität studiert. Danach unterrichtete sie an der Abendschule einer Fabrik. Nach der Oktoberrevolution 1917 setzte sie ihr Leben dafür ein, Terror-Opfer zu retten. Sie tat als Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt Dienst und setzte sich sehr für gute Beziehungen zwischen Kommunisten und Antikommunisten ein. Dadurch geriet sie in Schwierigkeiten. Ein Prozess fand statt, aber irgendwie kam sie davon. Schließlich war sie die Grausamkeiten beider Seiten leid und floh nach Paris. Dort trat sie einem religiösen Orden bei. Unter dem neuen Namen „Mutter Maria“ stürzte sie sich in die Arbeit, den Allerärmsten zu helfen.

Sie trug ausrangierte Männerschuhe und ging, einen Sack auf dem Rücken, durch die Stadt, um Nahrungsmittel zu sammeln, die sie in den schmutzigen Bruchbuden am Seineufer verteilte. Außerdem tat sie für russische Flüchtlinge, was sie nur konnte, besonders für die geisteskranken. Schließlich übernahm sie ein Haus und richtete darin eine Heimstätte für Verzweifelte ein. Als die deutschen Truppen Paris besetzten, versteckte sie verfolgte Juden in den Mauern ihres „Hospitals“.
Kurz darauf wurde sie von der Gestapo gestellt und in das berüchtigte Konzentrationslager in Polen befördert. Das war ihre letzte Prüfung auf dieser Erde. Dort stand ein erst kurz zuvor errichtetes Gebäude.

Die Beamten hatten erklärt, dass es nur ein Badehaus sei. Aber Elizabeth wusste es besser.
Einige Dutzend Frauen wurden in einer Reihe aufgestellt. Es konnte kein Zweifel mehr daran herrschen, wozu das führen sollte. Sie sollten alle durch diese finsteren Tore gehen und sie würden nicht mehr herauskommen. Eine der Frauen, sie war noch sehr jung, brach zusammen. Obwohl Elizabeth nicht auf der Liste stand, ging sie zu der verzweifelten Mitgefangenen und sagte: „Du hast große Angst. Sieh mal, ich will deinen Platz einnehmen.“ Dann ging sie mit den anderen in die Gaskammer.

Seltsamerweise war es Karfreitag 1945.

Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
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Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
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Ein nicht hässlicher Amerikaner -

„In der Grundschule war ich eine Heulsuse“, gestand G. ganz offen dem Militäranwalt, der ihn befragte, um herauszufinden, ob G., als er einberufen worden war, der Status eines Kriegsdienstverweigerers zuerkannt werden sollte. In der Highschool dauerte es dann nicht lange, bis er herausfand, dass er daran etwas ändern musste, wenn er für die Friedensarbeit in der Welt von irgendeinem Nutzen sein wollte. Also trainierte er sich im Ringen.

Im College nahm er dann an Ringkämpfen teil und stellte sich vor, wie sich wohl sein Gegner fühlte. Wenn er ihn am Boden festhielt, flüsterte er ihm, bevor er ihm erlaubte, sich aufzurichten, etwas Ermutigendes zu, wie etwa „Dein Griff vorhin hat mir wirklich Mühe gemacht!“ Wenn der andere ihn selbst am Boden festhielt, dann gratulierte er ihm ganz aufrichtig dazu.

Monatelang weigerte sich die Einberufungsbehörde, seine ursprüngliche Einteilung zum I A-Kämpfer-Dienst in den Einsatz zum zweijährigen alternativen Zivildienst umzuwandeln, wie er beantragt hatte. Dieser Student sah nicht wie ein Fanatiker aus. Offensichtlich war er auch kein Muttersöhnchen. Warum wollte er also nicht riskieren, sich in der Luftwaffe oder bei der Infanterie den Hals zu brechen? Der Grund dafür sei, so versuchte G mit wenig Erfolg zu erklären, dass er glaube, es gebe einen besseren Weg, und er sei bereit, so gut wie jeden Preis dafür zu zahlen, diesen Weg auszuprobieren.

Schließlich ging man auf seinen Fall ein und teilte ihn schließlich einem Team von Eirene in Marokko zu. Die Lebensbedingungen dort waren genau so primitiv und stellten so hohe Ansprüche an ihn, wie er sie sich gewünscht hatte. Er unterrichtete algerische Flüchtlingswaisen in einem roh errichteten Schuppen. Am Morgen darauf in aller Frühe sollte er eine durch ein Erdbeben beschädigte Zisterne reparieren. Er wanderte also über einen Hügel, um die Betonierarbeiten zu überprüfen.
Als er gerade die andere Seite erreicht hatte, sauste ein Felsbrocken an ihm vorbei. Er war groß, etwa 5 Kilo. Wenn er nur ein paar Zentimeter näher gewesen wäre, wäre es ihm wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen, das was nun folgte, zu berichten.
G wollte natürlich wissen, woher der Felsbrocken gekommen war, und drehte sich gerade rechtzeitig um, um einen weiteren Brocken genau auf seinen Kopf zusausen zu sehen. Er duckte sich. Der Felsbrocken traf einen linken Arm und prallte ab.
G. war zwar erst seit ein paar Monaten im Land, aber er konnte schon etwas Französisch und Arabisch. „Warum“, fragte er in beiden Sprachen, „Warum tust du das?“
„Tahmout – Tahmout“, (du musst sterben, du musst sterben) schrie der andere.
G. stürzte sich auf ihn und ergriff seine Hand. Er wollte unbedingt herausbekommen, so schrieb er einen Monat später, „warum er so wütend war oder mich so sehr hasste. Er schlug seinen Kopf gegen meinen, deshalb ließ ich ihn los, da ich ja keine Gewalt anwenden wollte, und ich versuchte, mit ihm zu reden.“

In G.s Brief heißt es weiter: „Er schlug mir ein paar Mal mit der Faust ins Gesicht. Dann lief er, als er (vermute ich) sah, dass ich keine Angst hatte, ein Stück weit weg und nahm einen Felsbrocken auf, den er mir wieder an den Kopf warf. Ich hielt den Stein mit der Hand auf und versuchte dann, den Mann festzuhalten, aber er hatte schon einen weiteren Stein aufgehoben. Er schlug ihn mir auf den Kopf, so dass ich eine tiefe Wunde davon bekam. Nun gebrauchte ich meine Ringerfertigkeiten, ergriff ihn, drehte ihn herum und hielt ihn auf dem Boden fest.“
Das Spektakel erregte Aufsehen. G.s Angreifer wurde ins Gefängnis gesteckt und G. wurde in die Stadt gebracht, um medizinisch versorgt zu werden.

Zwei Tage danach erfuhr er, was geschehen war. Der junge Mann war verwirrt. Wenige Stunden, bevor er G. angegriffen hatte, hatte er zwei andere Menschen mit Steinen geworfen. Einer von ihnen war zu der Zeit, als G. den Brief über den Zwischenfall schrieb, noch im Krankenhaus. Zwar wollten die Beamten der lokalen Regierung, dass G. Anklage erhob, aber das wollte er nicht. Schließlich wurde der Kranke in die Psychiatrie in Casablanca geschickt.

„Zwei Tage nachdem ich von diesem Burschen verletzt worden war“, lesen wir
 weiter in seinem Brief, „war ich wieder in die Berge gegangen, um dort zu arbeiten (da wusste ich noch nicht, dass er krank war). Ich hatte nun vor allen Menschen dort Angst und traute ihnen so wenig, dass ich ihnen nicht den Rücken wandte. Ich denke, das war normal, aber nachdem ich erfahren hatte, dass er krank war, ging es mir besser. Vermutlich wurde ich darum nach diesem Erlebnis so ängstlich, weil ich den Grund dafür, dass er mich verletzt hatte und mich hatte töten wollen, nicht kannte. Am Tag nach diesem Ereignis wusste das ganze Dorf davon und sie testeten mich, denn sie hatten noch nie etwas von Gewaltfreiheit gehört. Sie hoben Felsbrocken auf, als wollten sie sie auf mich werfen. Sie verpassten mir eine und machten schnelle Bewegungen auf mich zu, , um zu sehen, ob mir das Angst machte. Ein Bursche packte mich am Halt (so, wie der Kranke es getan hatte) und tat so, als wollte er mich erwürgen. Ich zeigte ihm, wie ich mich dagegen wehren konnte und brachte ihn durch einen Trick, den ich einmal gelernt hatte, zum Aufgeben. Ein anderer tat so, als wollte er mir eins verpassen, als ich aus der Zisterne stieg. Ich wandte mich um, ergriff ihn und hielt ihn in die Luft. Das war ein einfacher Ringergriff, aber er veranlasste ihn, mich zu respektieren. Ich musste an diesem Tag den Leuten noch oft beweisen, dass ich keine Angst vor einem Kampf hatte, wenn er nicht im Ernst stattfand. Ich denke, ich bewies ihnen, dass ich kein Feigling war, nur weil ich den Jungen nicht verletzt hatte.“

G. bewundert die Geschicklichkeit, mir der diese Menschen Steine werfen. Damit, sagt er, hüten sie ihre Tiere. Er dankt Gott nicht nur dafür, dass er nicht von einem der 5 oder 6 Kilo schweren Felsbrocken erschlagen wurde, sondern auch dafür, dass er „(damals) keinerlei Furcht oder Hass empfand und dass er ihn nicht verletzte.“

„Ich muss wohl recht erregt gewesen sein“, fügt er hinzu, „denn alles ging mir so schnell durch den Kopf. Ich hatte damals keine Angst vor ihm und ich hasste ihn nicht. Aber etwas ging mir durch den Kopf, wofür ich mich schämte. Haben Sie das Buch Der hässliche Amerikaner gelesen? Ich dachte, mir könnte so etwas nicht passieren, weil ich ein Amerikaner bin. Ich denke, das war in meinem Unterbewusstsein. Mir gefällt das, was ich damals dachte, überhaupt nicht, aber ich bin wohl auch nur genau so schwach wie alle anderen.“

Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
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