Donnerstag

Der Pazifist greift zum Gewehr

Die japanischen Soldaten näherten sich der verlassenen Amerikanischen Universität ein paar Kilometer außerhalb des kleinen chinesischen Dorfes. Merlin Bishop, der amerikanische Missionar, der dort allein zurückgeblieben war, konnte schon das bedrohliche Maschinengewehrfeuer in der Ferne hören, aber er entschloss sich, die Stellung am Tor der Institution, an der er so lange gelehrt hatte, bis die Invasion die Universität in Richtung Westen vertrieben hatte, zu halten.

Sie kamen die Straße herunter: schmutzig, unordentlich, angespannt und äußerst müde. „Sie sehen so erschöpft aus, wie ich noch keine andere Gruppe je gesehen hab“, dachte Bishop. Die Gruppe war klein, eine Art Vorhut. Sie würden noch ein paar hundert Meter weitertrotten und sich dann niederlassen, ihr Maschinengewehr aufstellen und dann die vor ihnen liegende Straße beschießen. Sie schenkten dem Mann, der da am Tor stand, als sie vorbeigingen, wenig Aufmerksamkeit.

Am nächsten Tag war das nahe gelegene Dort zu einem Feldhauptquartier der Japaner geworden und Bishops Schwierigkeiten begannen. Er hatte erwartet, dass sie begehrliche Blicke auf die Universitätsgebäude werfen würden. Schon bald kam eine Gruppe zu ihm und forderte die Schlüssel.
Bishop lehnte höflich, aber bestimmt ab. Er erklärte, dass die Gebäude der Amerikanischen Missionsbehörde gehörten, dass sie seiner Sorge anvertraut seien und dass ihm nicht gestattet sei, die Schlüssel irgendjemandem auszuhändigen. Im Laufe einer eineinhalbstündigen Diskussion, während der der Missionar immer höflich und freundlich, aber fest geblieben war, überzeugte er die Japaner und sie zogen ab. Leider war das noch nicht das Ende.

Durchschnittlich alle zwei Wochen wechselte die Dorfgarnison und jede neue musste immer wieder neu überzeugt werden. Dabei tat er sein Möglichstes, immer ruhig und freundlich zu bleiben.
Dann gab es eine große Krise. Irgendetwas hatte sich zugetragen, das die Japaner dazu veranlasste, weniger geduldig  und weniger bereit zu sein, die Argumente des Missionars anzuhören. Bishop fühlte die Spannung in der Luft. Er wusste genau, dass die Japaner mit ihm tun konnten, was sie wollten, da er auf sich allein gestellt war. Es gab keinen „neutralen“ Zeugen, den er gegen sie hätte aufrufen können. Der Tod eines Missionars konnte ganz leicht mit einer „verirrten Kugel – es tut uns ja so leid!“ erklärt werden.
Er begrüßte sie also so herzlich wie immer und lehnte ihre Forderung nach den Schlüsseln des Gebäudes mit der üblichen bedauernden Festigkeit ab. Aber diesmal schienen die sehr beredten Argumente die Soldaten nur in Wut zu versetzen. Schließlich stellte der kommandierende Offizier der Gruppe ihm ein Ultimatum.
„Entweder geben Sie die Schlüssel heraus“, forderte er kategorisch, „oder wir erschießen Sie!“
Der Missionar nahm Haltung an: „Ich habe Ihnen gesagt, wie es ist“, erwiderte er ruhig. „Ich wünsche Ihnen nichts Böses, aber ich kann das, was Sie von mir verlangen, nicht tun. Ich kann nicht.“

Der Offizier wählte grimmig drei Mann aus und stellte sie in einer Reihe vor dem Missionar auf.
„Legt an!“ kommandierte er und die Gewehre wurden angelegt. „Geben Sie die Schlüssel heraus!“
„Ich kann nicht. Ich habe ja schon gesagt: Ich kann nicht. Ich hasse Sie durchaus nicht, sondern ich empfinde die freundschaftlichsten Gefühle für Sie. Aber ich kann Ihnen die Schlüssel nicht geben.“
In den Augen der Soldaten leuchtete Bewunderung und Überraschung auf, als ob sie nicht verstünden, was ihn dazu veranlasste, angesichts des Todes so aufrecht dazustehen und zu lächeln.
„Zielt!“ Die Stimme des Offiziers war barsch, als er sich noch einmal an den Missionar wandte. „Ihre letzte Chance“, sagte er. „Geben Sie die Schlüssel heraus!“
Dann trat eine Pause ein. Bishop sah die Männer direkt an, die ihm mit angelegtem Gewehr gegenüber standen. Er sprach zu ihnen von Mann zu Mann, als Bruder zum Bruder.
„Ich kann nicht“, sagte er. „Sie wissen, dass ich nicht kann.“

Es herrschte absolute Stille. Der Missionar sah die Männer mit stetem Blick an. Der Offizier schien unsicher, die Männer fühlten sich unbehaglich. Dann entspannten sie sich, einer nach dem anderen. Sie senkten die Gewehre, ein dümmliches Lächeln trat an die Stelle der Blicke voll grimmiger Entschlossenheit. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber.

Einer vom Erschießungskommando war anscheinend empört und verwirrt über das, was bei der Situation herausgekommen war. Er packte sein Gewehr und guckte wütend.
„Vater“, betete Bishop, „ein wenig mehr Liebe. Lass mich ein wenig mehr Liebe zeigen.“
Der Soldat hatte sich entschlossen. Mit aufgestelltem Bajonett am Ende seines Gewehrs warf er sich plötzlich auf den Missionar.

„Er kam schnell“, erinnert sich Bishop, „und er kam hart. Im letzten Augenblick, als die Spitze des Bajonetts keine 30 Zentimeter vor mir war, wich ich aus. Er verfehlte mich und die Stärke seines Stoßes warf ihn gegen mich. Ich fasste um ihn herum und ergriff mit der Rechten den Gewehrkolben. Ich dachte, dass unter solchen Umständen einem Pazifisten verziehen werden könnte, wenn er zum Gewehr griff! Mit meinem linken Arm umfasste ich seine Schultern und zog ihn eng an mich. Ich war größer als er und er musste zu mir aufsehen. Als sich unsere Blicke trafen, war sein Gesicht von Wut verzerrt.
„Unsere Blicke bohrten sich ineinander und blieben so einige Sekunden lang, die mir wie eine Ewigkeit erschienen. Dann lächelte ich zu ihm hinunter und es war wie ein Frühlingstauwetter, das das Eis auf einem gefrorenen Fluss zum Schmelzen bringt. Der Hass verschwand und nach einem Augenblick der Bestürzung lächelte er zurück.“

Das war dann wirklich das Ende. Einige Minuten später führten die Soldaten wie eine Gruppe verblüffter Kinder den Missionar in ihre Unterkünfte, damit er vor der anstrengenden Reise zurück ins Dorf mit ihnen Tee trinke.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

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