Donnerstag

Dieses Mal lachten sie mit und nicht über Carlotta

Carlotta war dabei. Aber es machte sie krank, dass sie ausgelacht wurde. Sie saß ganz vorn und dadurch wurde sie ein leichtes Ziel für Papierkügelchen, die nach ihr gespuckt wurden und die ihr manchmal richtig wehtaten. Weniger ihrer Haut als ihren Gefühlen.

In diesem Teil des Südens der Vereinigten Staaten war ihre Highschool eine der ersten, in die schwarze Schüler und Schülerinnen aufgenommen wurden. Sie war die einzige Schwarze in der Klasse und verstand sehr gut, dass hier Geschichte geschrieben wurde. Deshalb hing viel davon ab, auf welche Weise sie auf die Herausforderung reagieren würde.

Bisher hatte sie, immer wenn eine dieser mit Spucke befeuchteten Raketen, die im Allgemeinen ein Stückchen Metall enthielten, sie an der Wange oder der Stirn traf, an sich halten können. Natürlich schlug ihr Herz schneller. Aber mit großer Selbstbeherrschung war es ihr gelungen, dies vor ihren Klassenkameraden zu verbergen. Das Problem war, dass die Mitschüler auf die Idee verfallen könnten, dass Carlotta nicht ebenso empfand wie alle anderen, wenn sie sahen, wie sie reagierte, während sie das doch nur mit einem großen Aufwand an Selbstbeherrschung zustande brachte.

Carotta erzählte in einer Übungsgruppe in einer der Kirchen von ihrem Problem. Sie erklärte dort, dass sie, obwohl sie entschlossen war, nicht zurückzuschlagen, sie sich manchmal so niedergedrückt fühlte, dass sie sich, wenn sie sich nach einem dieser Angriffe das Gesicht abwischte und die Klasse wie wild darüber lachte, wünschte, sie könnte sich aus der Klasse schleichen und müsste nie mehr dorthin zurückkommen.

Zum Glück war Jim Lawson ihr Gruppenleiter. Er war älter und hatte noch Schlimmeres als sie ertragen müssen. Er hatte auf diese Beleidigungen intelligent und mutig reagiert. Er war selbst neugierig, was geschehen würde, wenn Carlotta, wenn sie das nächste Mal ein Papierkügelchen treffen würde, echt und stark darauf reagieren würde und nicht auf ihre übliche angespannte und zu negative Art. „Wie wäre es, wenn du es folgendermaßen versuchen würdest? Du hebst das Papierkügelchen vom Fußboden auf. Dann trägst du es zum Platz des Mitschülers, der es gespuckt hat. Es wird nicht schwer sein herauszufinden, wer es war, denn die anderen Kinder werden auf ihn zeigen, denn sie hoffen, dass du diesmal mit Gewalt reagierst oder deine Gefühle zeigst. Dann lächelst du ihn so freundlich wie möglich an – und dein Lächeln muss durchaus echt sein – und legst das Papierkügelchen höflich auf seinen Tisch. Du kannst dich darauf verlassen, dass dir dann schon einfallen wird, was du anschließend tun kannst.“

Carlotta staunte. Das war wirklich ein Plan! Sie war so davon begeistert, dass sie die möglichen Schritte immer wieder in ihrer Vorstellung durchging. Schon nach ein paar Tagen ergab sie die Gelegenheit, das neue Verhalten auszuprobieren. Das Papierkügelchen verfehlte sie. Sie hob es vom Boden auf und brachte es dem offensichtlich „Schuldigen“. Sie legte das Papierkügelchen mit allem ihr zur Verfügung stehenden Charme vor ihn hin, lächelt und fragte: „Das gehört doch dir, nicht?“ Zu ihrem Erstaunen gelang es ihr, zu ihrem Platz zurückzugehen, ohne dass sie auch nur im Geringsten verlegen war.

Die Klasse brach in Gelächter aus. Diesmal jedoch nicht über Carlotta.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Lebenswert

Eines Abends lag Heinrich Grüber an einem Ort, wie er erbärmlicher auf der ganzen Erde nicht hätte sein können, bewusstlos in einer Reihe mit Leichnamen. Das geschah im Winter 1941 auf 42 im Konzentrationslager Dachau. Ein paar Stunden zuvor hatte er einen Herzanfall gehabt. Er konnte jederzeit in den Verbrennungsofen geworfen werden.

Ein Mitgefangener hatte jedoch etwas Besonderes an dem Verhalten dieses Leichnams bemerkt, das den Wächtern, die die Leichen inspiziert hatten, entgangen war. Die Augenlider hatten sich anscheinend bewegt. Sobald die Wächter außer Sichtweite waren, sah er genauer zu. Das Herz schlug noch. Schnell brachte er den schwer Kranken in die Krankenstation. Dort kam der Patient wieder zu Bewusstsein. Aber viele Tage lang zweifelte er daran, ob dieses Leben die Anstrengungen wert war. Trotz der Freundlichkeit der Menschen, die wie er zu Hitlers Opfern geworden waren und die ihn gesund pflegten, wurde er von einem Gefühl der Einsamkeit überwältigt. Würde er jemals seine Frau und seinen kleinen Sohn wiedersehen? Wahrscheinlich nicht. Die Kraft schien ihn ebenso schnell wieder zu verlassen, wie er sie zurückgewonnen hatte.

Dann wurde die geringe Hoffnung, die er inzwischen doch in sich genährt hatte, durch die Ankunft einer besonderen Kommission erschüttert. Es war eine Kommission von medizinischen Forschern und Offizieren der gefürchteten Schutzstaffel. Die SS-Leute hatten den Auftrag, die „überflüssigen Esser“ auszusondern und zu töten, d. h. die Gefangenen, die zu schwach zum Arbeiten waren.
Um Grüber vor dem Krematorium zu retten, versteckte der Mann, der ihn gepflegt hatte, ihn unter einem Bett in einer ungeheizten Baracke. Sein einziger Schutz gegen die Temperaturen unter Null waren eine abgetragene Jacke und ebensolche Hose, zwei dünne Decken und Holzschuhe.

Viele Jahre später erklärte Grüber uns fünf oder sechs Zuhörern in einer Westberliner Wohnung: „ Ich habe dieses Martyrium rein durch Gnade überlebt. Was mir in diesem Konzentrationslager widerfuhr, war ein Wunder, das Wunder von Nahrung ohne Brot. Tatsächlich gelang es meinen Freunden, etwas Brot in mein Versteck zu schmuggeln. Aber das, was ich aß, hätte nicht für mein Überleben gereicht. Die einzige Erklärung, die ich mir denken kann, ist, dass mir eine Kraft von jenseits jeder physischen Kraft geschenkt wurde. Ich bezweifle, dass irgendein Tier das hätte überleben können, wozu ich befähigt wurde. Die Tatsache, dass ich jetzt hier bin, beweist mir, dass ein Mensch mit Gottes Hilfe fast alles überstehen kann.“

Worüber dachte Grüber nach, als er unter dem Bett lag und mit aller Kraft gegen den nagenden Hunger und die Kälte ankämpfte? Oft dachte er natürlich an die Ereignisse, die ihn in die gegenwärtige Situation gebracht hatten. Er war in erster Linie darum an diesem Ort, weil er einen recht guten Kampf gekämpft hatte, manchmal sogar erfolgreich, und zwar für Juden. Er war evangelischer Pastor. Berufskollegen waren zu lange blind für die Situation gewesen, aber er konnte sie nicht übersehen. Er war weit davon entfernt, den Antisemitismus zu tolerieren oder gar zu unterstützen, wie einige Kollegen es getan hatten. Sein Gewissen zwang ihn weiterhin dazu, seine Stimme zu erheben und zu handeln. Es war ihm ziemlich klar, dass die Gestapo hart zurückschlagen würde. Aber er wollte es trotzdem wagen. Solange er konnte, würde er so vielen Juden wie möglich dabei helfen, außer Landes zu gehen.

Bald darauf war er der Leiter einer bedeutenden protestantischen Bewegung, die Verfolgte schützte. Er richtete ein Netz aktiver kleiner Hilfszentren im ganzen Land ein und hielt sie in Gang. Im Februar 1940 war er geradenwegs zu Göring gegangen und hatte von ihm gefordert, dass er mit dem Transport, noch dazu in Viehwagen, von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, in Konzentrationslager in Polen aufhören solle.
Man hatte ihm gesagt: „Leuten wie Ihnen können wir leicht den Mund stopfen.“
„Solange ich lebe und meine Stimme erheben kann“, hatte er erwidert, „werde ich Ungerechtigkeit Ungerechtigkeit und Sünde Sünde nennen.“
Er wurde verhaftet und wieder freigelassen. Aber auch dann protestierte er weiter und organisierte Zweigstellen in allen großen Städten Deutschlands, die Rechtshilfe und andere Hilfe leisten sollten. Er würde die erschreckten, aber dankbaren Gesichter derer, die er zu retten versuchte, niemals vergessen.

Dann kam der Tag, an dem die Gestapo energisch durchgriff. Er hatte versucht, sich darauf vorzubereiten. Aber trotzdem war er kaum auf diese letzte Verhaftung gefasst. Als er seinen Körper auf dem harten Boden der Baracke in Dachau hin und herwälzte, erinnerte er sich oft darin, wie er am 21. Dezember 1940 im Viehwagen von Berlin in sein erstes Konzentrationslager, Sachsenhausen, transportiert worden war. Im eiskalten Viehwagen herrschte nichts als Angst. Aber draußen sah er bei seinem „letzten Blick in die freie Welt“ Weihnachtseinkäufer mit ihren Geschenken nach Hause eilen. In den Gärten und auf den Balkonen standen Weihnachtsbäume. Er freute sich an den bunten Hinweisen auf ein bürgerliches Leben!

Er erinnerte sich auch an seine Einführung in das Leben des Konzentrationslagers ein paar Tage später. Es war Samstag vor dem 4. Advent. Über dem Tor zum Lager in Sachsenhausen war der zynische Satz „Arbeit macht frei“ in großen Buchstaben angebracht. Als er dann in seinen dünnen Kleidern dort zitternd vor Kälte stand, stürzte sich plötzlich ein Wächter völlig grundlos auf ihn, schlug ihn zu Boden, schlug ihn mit den Fäusten und trat ihn dann mit seinen Nagelstiefeln. Das war ihm wie das Ende erschienen, aber es war nur der Anfang. Als er dort so schmachvoll und voller Schmerzen lag, hörte er Kirchenglocken von einem Dorf in der Nähe. Was hatten sie ihm zu sagen? Die Glocken forderten ihn dazu auf, seine Gedanken auf das zu richten, woran die protestantischen Kirchen in ganz Deutschland zu dieser Zeit dachten und worüber seine eigene Familie zweifellos auch nachdenken würde. Es waren die erwärmenden Worte eines anderen Pastors, der genauso gelitten hatte. Mitten in all seinem Leid war Paulus dazu fähig gewesen zu sagen „Freuet euch im Herrn allezeit; nochmals will ich sagen: Freuet euch! Lasset eure Freundlichkeit allen Menschn kundwerden! Der Herr ist nahe.“

Aber wie sollte sich ein Mensch in Grübers Situation freuen? Im ersten Augenblick schien der Gedanke lächerlich. Dann fiel ihm Luthers Rat ein: Es gibt Zeiten, in denen sollte man die Bibel wie die Hebräer lesen, nämlich rückwärts. Das würde er versuchen. Er würde den letzten Satz als ersten nehmen: „Der Herr ist nahe.“ Wenn ein Mensch im Konzentrationslager diese Hauptprämisse zum Mittelpunkt seiner Gedanken machen könnte, dann würde sich alles andere daraus ergeben. Er könnte es dann mit allem aufnehmen. Er könnte sich sogar freuen. Ja, wenn Gott nahe war, näher als irgendjemand sonst, könnte die Dunkelheit, die in ihm herrschte, dem Licht weichen. Von nun an würde er sich selbst nicht mehr als Gefangenen einer brutalen Macht, sondern des „lebendigen Gottes“ verstehen.

Nicht lange danach hatte er Gelegenheit, seine neue Denkweise zu überprüfen. Ein Wächter, den er durchaus nicht provoziert hatte, schlug ihm die Zähne ein. Sein Mund blutete noch, aber er erkannte dankbar, dass er dem Mann nur das Beste wünschte. Er war erstaunt, dass er keine Rachegefühle gegen ihn empfand und er erlebte eine seltsame Freude.
Zwar konnte sein Körper hinter einem elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun eingesperrt sein, der von Wachtürmen umgeben waren, die mit Wachen mit Maschinengewehren bemannt waren. Aber im Grunde seines Wesens war er frei! Er war frei, um diese besondere Kraft zu empfangen, die von außen zu kommen schien, wenn ein Mensch unter Einsatz seines Lebens schwächeren Kameraden bei der Arbeit hilft oder wenn er ihnen etwas von seinem Brot abgibt.

Oft hatte er in Sachsenhausen, wenn die Wachen nicht guckten, mehr als Brot mit seinen Mitgefangenen geteilt. Er hatte ihnen kleine Papierstücke gegeben, auf denen mit Bleistift Zitate aus Gesangbuch und beiden Testamenten standen. Das erfüllte anscheinend ein dringendes Bedürfnis. Sogar Atheisten hatten darum gebeten.

Grüber erinnerte sich an den September 1941, als er nach Dachau überführt wurde. Dort hatte er die menschliche Perversität in noch schrecklicherem Ausmaß erlebt. Er hatte von seinem Versteck unter dem Bett aus gesehen, wie nur ein paar Meter von ihm entfernt Tausende von russischen Kriegsgefangenen in einem besonderen Gebäude zusammengetrieben worden waren. Sie wurden dann, immer nur einige auf einmal, hinausgelassen und erschossen. Aber es gab auch versöhnliche Augenblicke. An Sonntagen nach vier Uhr nachmittags, wenn die Arbeit zu Ende war und die meisten Wächter frei hatten, sammelten sich an verschiedenen Stellen des Lagers unbeobachtet kleine Gruppen von Gefangenen zum Gottesdienst. Um nicht die Aufmerksamkeit von Spionen zu erregen, vermieden sie sorgfältig alle frommen Gesten und taten die ganze Zeit über so, als suchten sie sich die Läuse ab oder flickten ihre Kleider. Aber in Wirklichkeit waren sie auf das aufmerksam, was Grüber ihnen zitierte: die Heilige Schrift. Bevor sie den Gottesdienst beendeten, stärkten sie einander mit dem Vaterunser. Dabei waren sie ganz und gar aufrichtig.

Grüber lag drei lange Wochen unter dem Bett versteckt. Das, was in seinem Geist vor sich ging, als er dort vor Kälte zitternd und fast verhungernd lag, bewirkte, dass es keine verlorene Zeit für ihn war. Er hatte Gelegenheit, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Als er in die alte Routine zurückkehrte, war er fast für ein weiteres Martyrium bereit. Dieses Mal sah es so aus, als würde er dabei sterben.
In Dachau wurden Gefangene oft von nationalsozialistischen Wissenschaftlern für „medizinische Experimenten“ als menschlich Versuchskaninchen benutzt. Einige wurden in eiskaltes Wasser geworfen und dort gelassen. Andere bekamen Injektionen mit tödlichen Keimen oder Medikamenten. Wenn der Versuch gelang, war der Patient tot. Aber bis dahin wurde er von einem Arzt überwacht.

Als der Untersuchungsarzt Grüber nach seinem Beruf fragte, antwortete der, er sei Pastor.
„Mein Großvater war Pastor“, sagte der Arzt nachdenklich.
Hatte der Enkel noch ein Gewissen? fragte sich Grüber. Da Grüber ohnehin bald sterben würde, könnte er vielleicht am Ende seines Weges aus diesem Leben noch die Seele eines Menschen berühren. Er sah ihm fest in die Augen.
„Was denkt Ihr Großvater wohl von Ihnen“, fragte er, „wenn er Sie aus der Ewigkeit beobachtet? Meinen Sie nicht, dass es ihn schmerzt, wenn er sieht, dass Sie Menschen schlechter behandeln, als man Tiere behandelt? Sie spielen mit dem Leben von Menschen, als wäre es wertlos, als wären sie weniger wert als Tiere!“
Einen Augenblick lang herrschte ein entsetzliches Schweigen. Dann bedeutete der Arzt Grüber, in seine Baracke zurückzugehen. Am nächsten Tag wurde er wieder zum Arzt gerufen. Es war derselbe, der ihn am Tag zuvor weggeschickt hatte. Er untersuchte ihn sorgfältig. Wozu tat er das? Wie sich später herausstellte, suchte er eine Ausrede, um den Pastor, der sein Gewissen erreicht hatte, zu retten.

Grüber wurde aus der Gruppe derer, die als „lebensunwert“ eingestuft worden waren, herausgenommen. Der Arzt hatte sich persönlich für ihn eingesetzt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Abenteuer mit unbeschränkter Haftung

Soweit sein Gedächtnis in die Vergangenheit reicht, hat Mitsuo Fuchida immer davon geträumt, tapfer für seinen Kaiser zu kämpfen. Am 7. Dezember 1941 wurde das, was bis dahin ein Traum gewesen war, zur atemberaubenden Realität. Der neununddreißigjährige Japaner war damals Kommandeur einer Luftschwadron, die im Sturzflug die vor Pearl Harbor vor Anker liegende amerikanische Flotte angriff.

In der Schlacht von Midway wurde er von einem Flugzeugträger ins Meer geweht. Dabei brach er sich beide Beine, wurde aber bald von der Besatzung eines Zerstörers aufgefischt. Zuvor hatte er über dem chinesischen Meer folgendes Abenteuer überlebt: Als nur noch für zehn Minuten Treibstoff im Tank waren und keine Aussicht bestand, im Nebel den Flugzeugträger zu finden, wies Fuchida seinen Piloten an, so lange aufzusteigen, bis der Treibstoff verbraucht sein würde. In etwa 2 500 m Höhe fing der Motor an zu stottern und ging dann aus. Aber am Horizont sah er durch sein Fernglas in kaum 10 km Entfernung eine Dschunke. Das Flugzeug glitt abwärts und sie schafften es gerade so! Der berühmte „Angreifer“ von Pearl Harbor wurde mitsamt seiner Flugzeugbesatzung sicher an Bord genommen.

Ein andermal – in der Schlacht von Java - wurde sein Flugzeug so schwer beschädigt, dass er in den Bergen von Borneo bruchlanden musste. Durch den Dschungel machten er und seine Flugzeugbesatzung sich auf den Weg zum Meer. Am dritten Tag wurden ihre Lebensgeister plötzlich beflügelt. Fast in Rufweite konnten sie ein Flugzeug ausmachen, das auf dem Boden auf sie wartete. Es war offensichtlich ein Rettungsflugzeug.
Als sie es erreicht hatten, verwandelte sich ihre Freude in Tränen. Es war das defekte Flugzeug, das sie verlassen hatten. Sie waren die ganze Zeit im Kreis gegangen. Die Nahrungsmittel hatten sie aufgebraucht. Sie waren bis zum Äußersten erschöpft. Sogar Kapitän Fuchida spielte mit dem Gedanken, sich einfach auf den Boden zu legen und auf das Ende zu warten. Aber das sollte nicht geschehen. Irgendwie stolperten und krochen sie weiter. Obwohl sie die Krokodile im Fluss dort fürchteten, gelang es ihnen, sich flussabwärts treiben zu lassen. Schließlich fand sie ein Einwohner Borneos und brachte sie an die Küste, wo sie dann von ihren eigenen Leuten gefunden wurden.
Wenn einer sein Bestes tut, um auf Ebene zwei zu kämpfen, und dabei nicht allzu viel darüber nachdenkt, wie er die eigene Haus retten kann, dann ist das nicht unbedingt alles, was einer tun kann. Es kann sein, dass dieser Mensch zur Entdeckung einer viel aufregenderen und völlig neuen Kampfweise geführt wird. Jedenfalls geschah das Kapitän Fuchida. Keiner, wie gescheit er auch bei der Voraussage von Ereignissen sein könnte, hätte sich im Voraus vorstellen können, wie sich die Dinge für den mehrfach ausgezeichneten Kriegshelden wenden würden.

Nach dem Krieg hörte er von der achtzehnjährigen Amerikanerin Margaret Covel. Ein alter Freund erzählte ihm von ihr. Der Freund war ein Veteran und sehr davon beeindruckt, wie sie ihm und anderen Japanern in einem amerikanischen Gefangenenlager geholfen hatte. Sie ging zwischen ihren „Feinden“ umher und machte sie glücklich. Die Gefangenen fragten einander manchmal, warum sie das wohl tat. Schließlich erzählte sie, was für sie der ausreichende Grund dafür war: Ihre Eltern waren Missionare auf den Philippinen gewesen und die Japaner hatten sie als Spione hingerichtet. Eine Zeitlang, nachdem sie davon gehört hatte, war sie voller Hass. Dann kam ihr in den Sinn, dass sie sich einer Sache sicher sein konnte: Ihre Eltern mussten in den letzten traurigen Augenblicken ihres Lebens Gottes Gnade für die erbeten haben, die sie töteten. Dieser Geist konnte sich weiterhin so vervielfachen, dass sie die ehrenamtliche Arbeit für ihre neuen Freunde im Gefangenlager tun konnte.

Fuchida dachte darüber nach. Eine ziemlich lange Zeit tappte er im Dunkeln. Er brauchte eine genauere Erklärung für das Verhalten dieser jungen Frau. Dann kam der Durchbruch: Auf dem Weg zu General MacArthurs Hauptquartier gab ihm ein Amerikaner eine Broschüre mit dem Titel Ich war ein Gefangener Japans. Auf dem Umschlag war der Autor abgebildet. Er gehörte zur wenig glücklichen Schwadron Doolittle, die im Frühjahr 1942 Tokio bombardiert hatte. Der Sergeant hatte vierzig Monate in einem japanischen Gefängnis zugebracht, wo er fast verrückt geworden wäre, weil er die, die ihn gefangen hielten, so brennend hasste. Dann jedoch verdrängten Erinnerungen aus seiner Kindheit die Bitterkeit. Ein Gedanke, den er in der Sonntagsschule aufgeschnappt hatte und von dem er gedacht hatte, dass er ihn für immer aufgegeben hätte, begann sich jetzt zurückzumelden: Niemand muss seinem Hass nachgeben. Jeder kann sich einer anderen Macht öffnen, die den Hass in den Wunsch, andere zu verstehen, verwandelt.

Jacob DeShazer gründete sein Leben von da an auf diese Macht. Nachdem er seine Familie besucht hatte und sich für seine neue Arbeit hatte ausbilden lassen, kehrte er nach Japan zurück, um seinen früheren Feinden von seiner Entdeckung zu erzählen. Sein gedruckter Rechenschaftsbericht faszinierte Fuchida, besonders das, was er da über die Bibel las: Der Amerikaner hatte seine Bewacher immer wieder um eine Bibel gebeten. Seine Bitte war abgelehnt worden. Schließlich brachte man ihm doch eine. Anscheinend enthielt sie genau die Weisheit, die Fuchida so dringend brauchte. Gut also. Er würde das seltsame Buch genau lesen.
Nicht lange danach las er täglich lange Passagen darin. Aber er war immer noch irritiert. Dann kam Fuchida eines Tages an die Stelle, an der erzählt wird, dass Jesus am Kreuz angesichts der Menschen, die ihn foltern und töten, ausruft: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Nun war ihm klar, warum die junge Amerikanerin sich so erstaunlich verhalten hatte. Genau dies war die Art von Mut, die er sein ganzes Leben gesucht hatte! Was einer auf dem Schlachtfeld tat, war verglichen hiermit ein Kinderspiel!

Konnte er von diesem Geist etwas für sich und für Japan nutzen? Jedenfalls konnte er es versuchen. Seine Freunde – und er hat viele, hier und in Japan – können bezeugen, dass der frühere Kriegsheld auf der neuen Ebene, die er so abenteuerlich findet, große Fortschritte gemacht hat. Wenn jemand Kapitän Fuchida selbst fragte, wie weit er gekommen sei, würde er wahrscheinlich lachen und sagen, dass er bisher weder vom Kongress noch vom Reich Orden für die Laienpredigt bekommen habe, die immer noch seine gesamte Zeit in Anspruch nimmt.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.


Mitten im Kampf

Don war klein für sein Alter. Deshalb fühlte er die besondere Verpflichtung zu beweisen, was für ein harter Kerl er war. Dieser innere Zwang veranlasste ihn dazu, sich in recht viele Faustkämpfe einzulassen. Mitten in einem dieser Kämpfe, noch dazu mit einem besonders gehassten Rivalen und als er schon am Gewinnen war, überkam ihn ein seltsames Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Es war weder Angst noch Hass. Er wusste genau, dass er dem Gegner nur noch näher zu rücken und ihm noch ein paar kräftige Schläge zu verpassen brauchte, um den Kampf zu gewinnen.
Aber das konnte er nicht. Er selbst drückt es später so aus: „Ich sah plötzlich im Gesicht des anderen dieselbe Angst und Erschöpfung, die ich gefühlt hatte, wenn ich verdroschen worden war. Dieser Anblick hinderte mich darin, ihn noch weiter zu schlagen. Natürlich sah er nicht dasselbe wie ich. Also schlug er mich k..o. Aber danach wurden wir Freunde und ich musste mich seitdem nie wieder mit jemandem schlagen.“

Danach führte Don ein konstruktives Leben. Er kam in die deutsche Stadt Kassel, wenige Kilometer von der Grenze nach Ostdeutschland entfernt. An seinem vierundzwanzigsten Geburtstag war er so damit beschäftigt, Maurerarbeit an einem Gemeindezentrum zu verrichten, dass er vollständig vergaß, dass die Familie, in der er lebte, ein Fest für ihn geben wollte. Am Abend – er hatte vierzehn Stunden lang gemauert – bat ihn ein deutscher Sporttrainer, einige Sportgeräte zu transportieren. Don benutzte dafür einen Lastwagen, den ihm die amerikanische Armee geliehen hatte. Es regnete. Die Räder mussten aus dem Schlamm gegraben werden. Als er zurückkam, war es drei Uhr morgens. Aber noch war der Fußboden des Saales nicht gestrichen und er hatte versprochen, ihn zu streichen. Das dauerte bis zum Frühstück. Im Rückblick meinte er, dies sei so etwa der glücklichste Geburtstag gewesen, den man überhaupt hätte feiern können.

Das Jahr darauf stürzte sich Don in eine noch aufreibendere Arbeit: Im Hafenviertel von Neapel, wo die Kriminalität die Polizei überforderte und 5 000 Flüchtlinge aus Russland, der Tschechoslowakei und anderen Ländern gemeinsam mit in Not geratenen Italienern – alle ohne Arbeit und ohne die notwendige Kontrolle – darum kämpften, irgendwie in Höhlen und in den Ruinen eines von der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg zerbombten Gebäudes ihre Existenz zu fristen. Gemeinsam mit fünf jungen Bandenchefs, die Don wegen seiner Härte schätzten, baute er einen Jungenklub auf, der bald mehr als hundert Mitglieder hatte. Zur Unterhaltung der Jugendlichen schrieb er kleine Theaterstücke, in denen sie mitspielen konnten, und führte dabei Regie. Er hielt auch Basare ab, in denen sie von ihnen produzierten Lederarbeiten verkaufen konnten. Ein Ergebnis seiner Arbeit war, dass viele, die dem Kommunismus zugeneigt gewesen waren, sich nun für mehr Demokratie engagierten.

Als er noch in Deutschland gewesen war, hatte er bei einigen Kurzstreckenläufen einen guten Platz belegt. Aber nun hatte er infolge einer Blinddarmoperation, auf die eine Hepatitis gefolgt war, fast 15 kg Untergewicht. Dieses Martyrium hatte ihn fast das Leben gekostet.
Da die zwei Jahre seines Friedensdienstes als Kriegsdienstverweigerer um waren, hätte er nach Hause fahren können, um sich zu erholen. Aber trotz seiner Erschöpfung blieb er weitere sechs Monate, um die Grundlagen für einen Traum zu legen.

Er kehrte in die USA zurück und wurde ein Hollywoodstar, der zusammen mit Marilyn Monroe vor der Kamera stand, und er arbeitete gleichzeitig weiter an seiner Idee. Aus ihr wurde ein gut gehendes Unternehmen auf einer Insel vor der italienischen Küste. Die Vereinten Nationen sind daran beteiligt. Jedoch halten vor allem Dons Filmeinnahmen und seine Begeisterung das Projekt in Gang. Auf den 60 Hektar guten Bodens trifft er, wenn er sich mal eine Woche von den Dreharbeiten freimachen kann, 14 oder mehr seiner alten Freunde, die nun keine „displaced persons“ mehr sind, und genießt mit ihnen ihre Freiheit, in der sie gleichzeitig mit Weizen, Orangen, Artischocken, Kühen und Schweinen auch ihre Selbstachtung pflegen. Dies ist, meint Don, „die beste und modernste Hühnerfarm auf Sardinien.“



Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.


Sie bekam eine Eins in dieser Prüfung

Sogar die Wächter in Ravensbrück kannten Elizabeth Pilinko unter dem Namen „die wunderbare russische Nonne“. Niemand konnte leugnen, dass sie das gewisse Etwas hatte.

Sie gehörte einer wohlhabenden Familie in Südrussland an und hatte an der Frauenuniversität studiert. Danach unterrichtete sie an der Abendschule einer Fabrik. Nach der Oktoberrevolution 1917 setzte sie ihr Leben dafür ein, Terror-Opfer zu retten. Sie tat als Bürgermeisterin ihrer Heimatstadt Dienst und setzte sich sehr für gute Beziehungen zwischen Kommunisten und Antikommunisten ein. Dadurch geriet sie in Schwierigkeiten. Ein Prozess fand statt, aber irgendwie kam sie davon. Schließlich war sie die Grausamkeiten beider Seiten leid und floh nach Paris. Dort trat sie einem religiösen Orden bei. Unter dem neuen Namen „Mutter Maria“ stürzte sie sich in die Arbeit, den Allerärmsten zu helfen.

Sie trug ausrangierte Männerschuhe und ging, einen Sack auf dem Rücken, durch die Stadt, um Nahrungsmittel zu sammeln, die sie in den schmutzigen Bruchbuden am Seineufer verteilte. Außerdem tat sie für russische Flüchtlinge, was sie nur konnte, besonders für die geisteskranken. Schließlich übernahm sie ein Haus und richtete darin eine Heimstätte für Verzweifelte ein. Als die deutschen Truppen Paris besetzten, versteckte sie verfolgte Juden in den Mauern ihres „Hospitals“.
Kurz darauf wurde sie von der Gestapo gestellt und in das berüchtigte Konzentrationslager in Polen befördert. Das war ihre letzte Prüfung auf dieser Erde. Dort stand ein erst kurz zuvor errichtetes Gebäude.

Die Beamten hatten erklärt, dass es nur ein Badehaus sei. Aber Elizabeth wusste es besser.
Einige Dutzend Frauen wurden in einer Reihe aufgestellt. Es konnte kein Zweifel mehr daran herrschen, wozu das führen sollte. Sie sollten alle durch diese finsteren Tore gehen und sie würden nicht mehr herauskommen. Eine der Frauen, sie war noch sehr jung, brach zusammen. Obwohl Elizabeth nicht auf der Liste stand, ging sie zu der verzweifelten Mitgefangenen und sagte: „Du hast große Angst. Sieh mal, ich will deinen Platz einnehmen.“ Dann ging sie mit den anderen in die Gaskammer.

Seltsamerweise war es Karfreitag 1945.

Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.




Ein nicht hässlicher Amerikaner -

„In der Grundschule war ich eine Heulsuse“, gestand G. ganz offen dem Militäranwalt, der ihn befragte, um herauszufinden, ob G., als er einberufen worden war, der Status eines Kriegsdienstverweigerers zuerkannt werden sollte. In der Highschool dauerte es dann nicht lange, bis er herausfand, dass er daran etwas ändern musste, wenn er für die Friedensarbeit in der Welt von irgendeinem Nutzen sein wollte. Also trainierte er sich im Ringen.

Im College nahm er dann an Ringkämpfen teil und stellte sich vor, wie sich wohl sein Gegner fühlte. Wenn er ihn am Boden festhielt, flüsterte er ihm, bevor er ihm erlaubte, sich aufzurichten, etwas Ermutigendes zu, wie etwa „Dein Griff vorhin hat mir wirklich Mühe gemacht!“ Wenn der andere ihn selbst am Boden festhielt, dann gratulierte er ihm ganz aufrichtig dazu.

Monatelang weigerte sich die Einberufungsbehörde, seine ursprüngliche Einteilung zum I A-Kämpfer-Dienst in den Einsatz zum zweijährigen alternativen Zivildienst umzuwandeln, wie er beantragt hatte. Dieser Student sah nicht wie ein Fanatiker aus. Offensichtlich war er auch kein Muttersöhnchen. Warum wollte er also nicht riskieren, sich in der Luftwaffe oder bei der Infanterie den Hals zu brechen? Der Grund dafür sei, so versuchte G mit wenig Erfolg zu erklären, dass er glaube, es gebe einen besseren Weg, und er sei bereit, so gut wie jeden Preis dafür zu zahlen, diesen Weg auszuprobieren.

Schließlich ging man auf seinen Fall ein und teilte ihn schließlich einem Team von Eirene in Marokko zu. Die Lebensbedingungen dort waren genau so primitiv und stellten so hohe Ansprüche an ihn, wie er sie sich gewünscht hatte. Er unterrichtete algerische Flüchtlingswaisen in einem roh errichteten Schuppen. Am Morgen darauf in aller Frühe sollte er eine durch ein Erdbeben beschädigte Zisterne reparieren. Er wanderte also über einen Hügel, um die Betonierarbeiten zu überprüfen.
Als er gerade die andere Seite erreicht hatte, sauste ein Felsbrocken an ihm vorbei. Er war groß, etwa 5 Kilo. Wenn er nur ein paar Zentimeter näher gewesen wäre, wäre es ihm wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen, das was nun folgte, zu berichten.
G wollte natürlich wissen, woher der Felsbrocken gekommen war, und drehte sich gerade rechtzeitig um, um einen weiteren Brocken genau auf seinen Kopf zusausen zu sehen. Er duckte sich. Der Felsbrocken traf einen linken Arm und prallte ab.
G. war zwar erst seit ein paar Monaten im Land, aber er konnte schon etwas Französisch und Arabisch. „Warum“, fragte er in beiden Sprachen, „Warum tust du das?“
„Tahmout – Tahmout“, (du musst sterben, du musst sterben) schrie der andere.
G. stürzte sich auf ihn und ergriff seine Hand. Er wollte unbedingt herausbekommen, so schrieb er einen Monat später, „warum er so wütend war oder mich so sehr hasste. Er schlug seinen Kopf gegen meinen, deshalb ließ ich ihn los, da ich ja keine Gewalt anwenden wollte, und ich versuchte, mit ihm zu reden.“

In G.s Brief heißt es weiter: „Er schlug mir ein paar Mal mit der Faust ins Gesicht. Dann lief er, als er (vermute ich) sah, dass ich keine Angst hatte, ein Stück weit weg und nahm einen Felsbrocken auf, den er mir wieder an den Kopf warf. Ich hielt den Stein mit der Hand auf und versuchte dann, den Mann festzuhalten, aber er hatte schon einen weiteren Stein aufgehoben. Er schlug ihn mir auf den Kopf, so dass ich eine tiefe Wunde davon bekam. Nun gebrauchte ich meine Ringerfertigkeiten, ergriff ihn, drehte ihn herum und hielt ihn auf dem Boden fest.“
Das Spektakel erregte Aufsehen. G.s Angreifer wurde ins Gefängnis gesteckt und G. wurde in die Stadt gebracht, um medizinisch versorgt zu werden.

Zwei Tage danach erfuhr er, was geschehen war. Der junge Mann war verwirrt. Wenige Stunden, bevor er G. angegriffen hatte, hatte er zwei andere Menschen mit Steinen geworfen. Einer von ihnen war zu der Zeit, als G. den Brief über den Zwischenfall schrieb, noch im Krankenhaus. Zwar wollten die Beamten der lokalen Regierung, dass G. Anklage erhob, aber das wollte er nicht. Schließlich wurde der Kranke in die Psychiatrie in Casablanca geschickt.

„Zwei Tage nachdem ich von diesem Burschen verletzt worden war“, lesen wir
 weiter in seinem Brief, „war ich wieder in die Berge gegangen, um dort zu arbeiten (da wusste ich noch nicht, dass er krank war). Ich hatte nun vor allen Menschen dort Angst und traute ihnen so wenig, dass ich ihnen nicht den Rücken wandte. Ich denke, das war normal, aber nachdem ich erfahren hatte, dass er krank war, ging es mir besser. Vermutlich wurde ich darum nach diesem Erlebnis so ängstlich, weil ich den Grund dafür, dass er mich verletzt hatte und mich hatte töten wollen, nicht kannte. Am Tag nach diesem Ereignis wusste das ganze Dorf davon und sie testeten mich, denn sie hatten noch nie etwas von Gewaltfreiheit gehört. Sie hoben Felsbrocken auf, als wollten sie sie auf mich werfen. Sie verpassten mir eine und machten schnelle Bewegungen auf mich zu, , um zu sehen, ob mir das Angst machte. Ein Bursche packte mich am Halt (so, wie der Kranke es getan hatte) und tat so, als wollte er mich erwürgen. Ich zeigte ihm, wie ich mich dagegen wehren konnte und brachte ihn durch einen Trick, den ich einmal gelernt hatte, zum Aufgeben. Ein anderer tat so, als wollte er mir eins verpassen, als ich aus der Zisterne stieg. Ich wandte mich um, ergriff ihn und hielt ihn in die Luft. Das war ein einfacher Ringergriff, aber er veranlasste ihn, mich zu respektieren. Ich musste an diesem Tag den Leuten noch oft beweisen, dass ich keine Angst vor einem Kampf hatte, wenn er nicht im Ernst stattfand. Ich denke, ich bewies ihnen, dass ich kein Feigling war, nur weil ich den Jungen nicht verletzt hatte.“

G. bewundert die Geschicklichkeit, mir der diese Menschen Steine werfen. Damit, sagt er, hüten sie ihre Tiere. Er dankt Gott nicht nur dafür, dass er nicht von einem der 5 oder 6 Kilo schweren Felsbrocken erschlagen wurde, sondern auch dafür, dass er „(damals) keinerlei Furcht oder Hass empfand und dass er ihn nicht verletzte.“

„Ich muss wohl recht erregt gewesen sein“, fügt er hinzu, „denn alles ging mir so schnell durch den Kopf. Ich hatte damals keine Angst vor ihm und ich hasste ihn nicht. Aber etwas ging mir durch den Kopf, wofür ich mich schämte. Haben Sie das Buch Der hässliche Amerikaner gelesen? Ich dachte, mir könnte so etwas nicht passieren, weil ich ein Amerikaner bin. Ich denke, das war in meinem Unterbewusstsein. Mir gefällt das, was ich damals dachte, überhaupt nicht, aber ich bin wohl auch nur genau so schwach wie alle anderen.“

Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

FREIeHEIDe kippt Bombodrom – nach 17 Jahren Widerstand! – doch wahre Wunder dauern länger…

Roland Vogt
Schweinrich, Kyritz-Ruppiner Heide, Kreis Ostprignitz-Ruppin/Land Brandenburg, am 23.August 2009:

„Ist das nicht  ein Wunder? ruft Reinhard Lampe immer wieder in die Menge. Er zählt alle Elemente des erfolgreichen Widerstands gegen das Bombodrom auf und antwortet jedes Mal: „Ja, das ist ein Wunder!“ Ein kleiner Gospelchor auf der Bühne der Festwiese am Dranser See  gibt mit einem langgezogenen „Ay-meen!“das Echo. Nach einigem Zögern stimmen mehr und mehr der über tausend Bombodrom-Gegner swingend und singend ein: „ Amen“, wahrlich so sei es.

Offensichtlich steht die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings hier Pate. Und das passt. Eine durchdachte, gewaltfreie Strategie hat den Menschen dieser Region, einfachen Bürgerinnen und Bürgern „mit Erde an den Füßen“, einen wohlverdienten, hart erarbeiteten Erfolg geschenkt. David hat Goliath ein weiteres Mal in die Knie gezwungen. Aber es hat gedauert…

Und Schweinrich, das Dorf am Rande der Kyritz-Ruppiner Heide und am Dranser See gelegen, ist der richtige Ort, diesen Etappensieg auf dem Weg zur freien Heide zu feiern. Genau hier hatten Bombodrom-Gegner am 15 August 1992 erstmals gegen die Pläne der Bundeswehr für einen Luft-Boden-Schießplatz protestiert. Im „Dorfkrug“ dieser Gemeinde war vor genau 17 Jahren die Bürgerinitiative FREIeHEIDe gegründet worden. Und in Schweinrich war der langjährige Vorsitzende der Bürgerinitiative FREIeHEIDe, mein Freund Helmut Schönberg, Bürgermeister. Er wurde am 11. Juni 2004 im Alter von 62 Jahren jäh aus dem Leben gerissen. Möglicherweise war es eine verschleppte Grippe, die sein Herz so sehr geschwächt hatte, dass er ganz plötzlich einen Schwächeanfall erlitt und kurz danach gestorben ist. Für mich war sein Tod auch ein Symptom für den permanenten Ausnahmezustand, in dem derart aktiv Widerstand leistende Menschen leben. Dazu gehört Selbstausbeutung bis zum Gehtnichtmehr, Vernachlässigung des Privatlebens – und auch der eigenen Gesundheit.   

In Schweinrich begann auch meine Beziehungsgeschichte zu dieser Region und ihren Menschen, langjährigen Weggefährten im aufrechten Gang.

Im Juni 1992 beauftragte mich der Bevollmächtigte des Brandenburger Ministerpräsidenten für den Abzug der sowjetischen Streitkräfte und Konversion, Helmut Domke, mit den Bürgermeistern der Anliegergemeinden des ehemaligen Bombodroms zwischen Wittstock, Neuruppin und Wittstock die neue Lage zu erläutern, die sich aus dem Sinneswandel des Bundesministers der Verteidigung ergab. Ich war damals als Referatsleiter für Konversion in der Staatskanzlei dem Arbeitsstab  Dr. Domkes zugeordnet. Im Februar hatte das Bundeswehrkommando Ost dem für das Gebiet zuständigen  Landrat Christian Gilde, auf dessen gezielte Anfrage  zu Vorhaben auf der Kyritz-Ruppiner Heide noch erklärt, die Bundeswehr strebe grundsätzlich keine Übernahme von sowjetischen Liegenschaften an. Im Frühjahr 1992 sickerte durch, dass der Bundesminister der Verteidigung vielleicht doch auf dem Gelände des ehemaligen sowjetischen Bombodroms einen Luft-Boden-Schießplatz errichten wollte. Am 30. Juni war es amtlich: Der „Truppenübungsplatz Wittstock“, gemeint war besagter Luft-Boden-Schießplatz, war Teil des Truppenübungsplatzkonzepts des Verteidigungsministers Volker Rühe (CDU).
Das Treffen im Schweinricher Dorfkrug mit fast allen Bürgermeistern der Anrainergemeinden rund um das ausgedehnte Militärareal beeindruckte mich durch die Entschlossenheit der Bürgermeister, sich gemeinsam gegen das Bundeswehr-Projekt aufzulehnen. Allerdings blieb offen, was die geeignete Strategie war, um ein derart folgenreiches Vorhaben der Bundesregierung abzuwenden.
Auf der Rückfahrt von dieser denkwürdigen Dienstreise reifte in mir der Entschluss, dienstlich und in meiner Freizeit alles mir Mögliche zu tun, um das deutsche Nachfolgeprojekt des sowjetischen Bombodroms zu Fall zu bringen.

Schweinrich, 5. August 1992:  Im brechend vollen Großen Saal des Dorfkrugs winden sich  Offiziere der Bundeswehr, um einer aufgebrachten, widerspenstigen Menschenmenge die Segnungen  und die Harmlosigkeit des geplanten Luft-Boden-Schießplatzes nahezubringen: Investitionen in Millionenhöhe, um das von den sowjetischen Streitkräften hinterlassene Bombodrom von Munition zu befreien. Soldaten, vielleicht eine Garnison in Wittstock, die Kaufkraft in die Region bringen, Offiziere, die für ihre Familien Häuser bauen oder mieten.
Schießübungen am Boden und aus der Luft ja, aber soft und selten, keineswegs so laut und rücksichtslos wie das die Rote Armee gemacht habe…

Die Menschen im Saal lassen sich nicht beeindrucken. Sie sind vor allem aufgebracht, dass die Bundeswehrführung erst erklärt hat an ehemaligen sowjetischen Übungsplätzen kein Interesse zu haben und nun doch auf das Bombodrom-Gelände will.
Martina Rassmann meldet sich energisch zu Wort: „ Wir haben darauf vertraut, dass die Bomberei mit dem Abzug der russischen Streitkräfte endgültig vorbei ist. Nur deshalb haben wir,  mein Mann und ich, gewagt, ein ehemaliges Betriebsferiengelände zu übernehmen, um damit für unsere Familie eine neue Existenz aufzubauen. Der Platz ist in Kagar, auf der anderen Seite des Bombodroms, ganz nah beim Großen und Kleinen Zermitten-See und auch nicht weit vom Dolgow-See. Wir wollen dort einen modernen attraktiven Campingplatz einrichten. Aber seit bekannt ist, dass die Bundeswehr doch wieder bomben will, ist keine Bank in der Region bereit, uns einen Kredit zu geben. Ein Feriengast vermittelte mir schließlich  einen Kredit einer Frankfurter Bank von zunächst einer Million Deutsche Mark.  Familienmitglieder und Freunde leisten dafür Bürgschaft. Wenn Sie nun mit Ihren Tieffliegern kommen, Raketen auf das Bombodrom abschießen und Bomben werfen,  bleiben  unsere Gäste weg. Und andere kommen erst gar nicht. Dann sind wir erledigt. Wir können den Kredit nicht zurückzahlen. Wie soll ich unseren Bürgen dann noch in die Augen sehen?  Und meine Familie geht pleite. Ich hab keine ruhige Nacht mehr.“ Betroffenheit und lang anhaltender Applaus. Den Bundeswehrvertretern fällt nichts mehr ein.

Die Argumentation von Martina Rassmann lässt mich aufhorchen. Wenn es mehreren Unternehmerinnen und Unternehmern in der Region genauso ergeht wie ihr und ihrer Familie, ist  ernsthafter und dauerhafter Widerstand gegen das Bundeswehrprojekt  möglich. Allerdings nur, wenn die Betroffenen etwas wagen, zum Beispiel ihre Zwangslage öffentlich zu machen. 
Genau so war es doch auch im Larzac, im südfranzösischen Okzitanien, wo ich im Sommer 1974 miterlebte, wie phantasievoll die Einheimischen sich gegen die massive Ausweitung eines Truppenübungsplatzes wehrten, weil das ihre Existenz zerstört hätte. Und so war es auch in Wyhl am Kaiserstuhl ab 1974/75, wo sich die Menschen in ihrer angestammten Lebensweise und ihrer wirtschaftlichen Existenz durch ein geplantes  Atomkraftwerk bedroht fühlten. In beiden Fällen führten Strategien gewaltfreien Widerstands und die Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam zum Erfolg.


Info 1 - Larzac:

Im Larzac, einer Hochebene hundert Kilometer nördlich von Montpellier, wollte die französische Regierung  in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Truppenübungsplatz erheblich erweitern. Die Region lag einigen Leserinnen und Lesern vielleicht schon einmal auf der Zunge:in Gestalt des würzigen Roquefort-Käses.
Er wird aus Schafsmilch gewonnen und in Höhlen des Berges Combalon nahe dem Ort Roquefort zum Reifen gebracht.
Durch die Pläne der Zentralregierung, die auf Enteignung der Felder und des Weidegeländes
hinausliefen, fühlten sich die Farmer in ihrer Existenz bedroht. Einige schon zum zweiten Mal in ihrem Leben. Hatten sie doch nach der Unabhängigkeit Algeriens dort ihre Farm verloren und sich im Larzac eine neue Existenz aufgebaut.
Inspiriert durch Lanza del Vasto, der eine Zeit lang Mitstreiter Gandhis in Indien war und nach dem Zweiten Weltkrieg in Südfrankreich die Gemeinschaft der Arche gestiftet hatte, entwickelte die verschworene Gemeinschaft von 103 Farmern eine mit bäuerlicher List gepaarte, gewaltfreie Widerstandsstrategie. Ganz Frankreich lachte über die Schafe aus dem Larzac, die , bei Nacht und Nebel nach Paris verfrachtet , auf dem Marsfeld unter dem Eiffelturm grasten. Die Hauptstadt-Polizisten hatten ihre liebe Not mit den dort nicht vorgesehenen Viechern, derweil die Larzac-Bauern in den umliegenden Bistros saßen und sich ins Fäustchen lachten. Die Medien hatten eine gute Story und verhalfen dem Kampf des Larzac zu landesweiter und internationaler  Aufmerksamkeit und Sympathie. Das Hochplateau des Larzac wurde schließlich im Sommer 1974 zu einer Pilgerstätte für Hunderttausende von Franzosen und anderen Westeuropäern, viele auf der Suche nach alternativen  Lebens – und Gesellschaftsentwürfen. Die Aktionen der Larzacbauern und ihrer Verbündeten waren fantasievoll, witzig und tiefgründig. Sie pflügten Felder um, die bereits durch die Zentralregierung enteignet worden waren, säten und ernteten darauf Getreide. Das waren zwar Akte des zivilen Ungehorsams aber die Polizei wagte nicht dagegen vorzugehen, nachdem der Widerstand des Larzac bereits zur nationalen Legende geworden war.
An ihr kam niemand vorbei, der im links-alternativen Lager was werden wollte – auch eine Art von Machtentfaltung. So hielt es der Präsidentschaftskandidat der Sozialisten, Francois Mitterand, für ratsam auf dem Hochplateau des Larzac zu erscheinen und zu versprechen als Präsident die Militärpläne zu stoppen.
Und er hat Wort gehalten. Für ihn war das – anders als später bei Scharping in der Kyritz-Ruppiner Heide- eine Frage der Ehre. Am 10. Mai 1981 wurde Mitterand zum Präsidenten gewählt, am 3 .Juni 1981 bestätigte die neue Regierung Mauroy offiziell den Verzicht der Republique Francaise auf das Erweiterungsprojekt.

�Info 2 - Widerstand gegen das Atomkraftwerk WYHL am Kaiserstuhl:

Das Badenwerk, ein machtvolles Energieversorgungsunternehmen, wollte in der Rheintalgemeinde Wyhl am Kaiserstuhl ein Atomkraftwerk errichten. Anfang 1975 war ein Teil des Auewaldes schon gerodet, die Baumaschinen standen bereit. Das Komitee der badisch-elsässischen Bürgerinitiativen rief zum gewaltfreien Widerstand auf. Eine neun Monate andauernde Bauplatzbesetzung führte schließlich zum Nachgeben der Betreiber und der Landesregierung von Baden-Württemberg.  Ministerpräsident Filbinger hatte noch im Februar 1975 prophezeit: „Wenn Wyhl nicht gebaut wird, gehen in Baden-Württemberg die Lichter aus“.  Nun aber sah sich seine Landesregierung genötigt, alle Aktionen des zivilen Ungehorsams straffrei zu stellen. Außerdem wirkte die Landesregierung auf das Badenwerk und seine Subunternehmer ein, auf eventuelle Schadensersatzansprüche gegen die Akteure des Widerstandes zu verzichten.
Der Nährboden des lang anhaltenden Widerstands war auch im Fall Wyhl die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz. Durch die Kühlturmnebel des Atomkraftwerks hätte sich das Kleinklima im umliegenden Weinbaugebiet erheblich verschlechtert. Der Wein, Wirtschaftsgrundlage der Kaiserstühler,  wäre nicht mehr als „von der Sonne verwöhnt“ –so der Werbeslogan der Winzerschaft - vermarktbar gewesen.
Als starke Antriebskraft kam die Sorge um Gesundheit und Leben hinzu. Im Nahbereich  atomarer Anlagen nimmt die Krebshäufigkeit , insbesondere Leukämie bei Kindern, zu, was auf die regelmäßige Niedrigstrahlung und ihre Anreicherung über die Nahrungskette im Körper zurückgeführt wird. Beide Motive erklären die  Hartnäckigkeit und Unbeugsamkeit des Widerstands einer ganzen Region. Die Alemannen im „Dreyecksland“ Elsass, Baden und Schweiz trotzten im frostklirrenden Februar 1975  Wasserwerfern, ließen sich von Strafverfolgung und Disziplinarmaßnahmen nicht beeindrucken. Sie schufen eine Widerstandskultur ohnegleichen, knüpften an regionale Traditionen an. Widerstandslieder wurden in der Muttersprache „Muodersproch“, der Alemannen gesungen. Die Grenzbevölkerung begann, ihr Dreyecksland als eigenständige europäische Region zu begreifen, die einen gemeinsamen Abwehrkampf gegen gefährliche industrielle Großprojekte und für ihre bisherige Lebensweise führte. Der Widerstand brachte neuartige Institutionen hervor wie die Volkshochschule Wyhler Wald und Radio Dreyecksland. Es dauerte nicht lange, bis  heimische Erfinder nach ersten tastenden Versuchen Anlagen Erneuerbarer Energien den Weg ebneten.

Am Ende der Versammlung spreche ich Frau Rassmann an: Ob ich die kommenden Nächte auf ihrem Feriengelände verbringen könnte? Und ob sie mich dann vielleicht gleich dorthin lotsen würde? „Kein Problem“, sagt sie. Doch habe ich einen Hintergedanken – und frage sogleich, ob sie einen Menschen kenne, dem die Leute hier vertrauen. Ich suche jemanden aus der Region, der bereit ist, die Initiative zur Gründung einer Bürgerinitiative gegen die Pläne der Bundeswehr zu ergreifen. Sie überlegt nicht lange und sagt: „Fragen Sie mal den Pfarrer Lampe in Dorf Zechlin“. In stockfinsterer Nacht fahren wir im Konvoi zum Bombodrom-Gelände. Mir wird mulmig, denn meine Gönnerin steuert auf einen Kontrollposten der sowjetischen Streitkräfte zu. Plaudert ein wenig mit den Soldaten, die dort Wache schieben, gibt ihnen eine Schachtel Zigarettern – und die lassen uns einfach passieren! Wir fahren quer durchs Bombodrom und kommen auf der anderen Seite unbehelligt von weiteren Kontrollen raus – und gleich sind wir in Kagar auf dem Campingplatz Reiherholz. Meine Gastgeberin quartiert mich zum Freundschaftspreis in einer Ferienwohnung ein.
Am nächsten Morgen mache ich mich auf zum Pfarrhaus im nahegelegenen Dorf Zechlin, denn da soll Pfarrer Lampe wohnen. Es ist der 6. August, Hiroshimagedenktag. Da faste ich jedes Jahr bis zum 9. August, dem Tag, als 1945 über Nagasaki die zweite Atombombe abgeworfen worden ist. 1983 habe ich an den Gedenkfeiern in beiden Städten teilgenommen und die Spätfolgenopfer der Atombombenabwürfe, die Hibakushas, besucht. Sie haben meist keine Angehörigen mehr und siechen in Krankenhäusern dahin.
Diesmal widme ich das Fasten der Kyritz-Ruppiner Heide und dem Wunsch, sie möge vom Bombenabwurftrainig verschont bleiben. Der gestrige Abend hat mir noch einmal klargemacht was zu tun ist.
Pfarrer Lampe öffnet auf mein Klingeln. Ich trage ihm mein Begehren vor und er sagt, ich solle am Nachmittag wiederkommen. Die Pause nutze ich, um die Seenlandschaft bei Kagar zu erkunden. Der nächstgelegene Große Zermittensee hat einen weiten Sandstrand sowie Turn- und Spielgeräte. Als ich gegen halb elf ankomme, bin ich der einzige Badegast.
Um 11 Uhr lässt sich ein älteres Paar am Strand nieder. Etwas später kommt eine junge Familie mit Kindern. Vom ersten ausgedehnten Schwimmen zurück am Strand und meiner nassen Badehose überdrüssig entdecke ich einen Wegweiser zum Nacktbadestrand. Der liegt am Kleinen Zermittensee. Ja, bin ich denn im Paradies? Vor mir liegt ein wunderschöner kleiner See mit rundum intaktem Schilfgürtel. Außer mir keine Menschenseele. Auch die Enten nehmen keinen Anstoß an einem nackten Mann mit Bart. So statte ich den Seerosen einen Höflichkeitsbeschwimm ab. Entdecke ein halbhavariertes anscheinend herrenloses Boot, mit dem ich den See umrunden kann. Nachdem ich das Boot mit dankbaren Gefühlen für den Überlasser wieder vertäut habe, sammle ich meine Habseligkeiten und die inzwischen getrocknete Badehose am Großen Zermittensee  ein und begebe mich erneut mit noch größerer Entschlossenheit nach Dorf Zechlin . Diese paradiesische Erholungslandschaft  darf  keinem Übungsterror ausgesetzt werden. Nun geht es darum beim Pfarrer Lampe den ersten Versuch zu machen, Menschen der Region für eine gewaltfreie Widerstandsstrategie zu gewinnen. Schließlich haben mir die Bauern des Larzac und die Winzer vom Kaiserstuhl gezeigt, wie es geht. Das  Gedenken an die Opfer der ersten Atombombenabwürfe  spornt mich zusätzlich an.

Doch wie weit darf ich gehen bei Pfarrer Lampe?

Auf jeden Fall nehme ich Wolfgang Hertles Fallstudie zum Larzac mit. Darin wird mit großer Einfühlungsgabe und Sachkunde die gewaltfreie Strategie geschildert, die dort zum Erfolg geführt hat (siehe Infokasten 1).  Wenn ich das Buch überreiche, brauche ich nicht so viel zu erzählen und kann mich auf das Wesentliche konzentrieren.

Wie meine Botschaft ankam, schildert Friederike Lampe, Ehefrau von Reinhard Lampe im   Buch der Bürgerinitiative FREIeHEIDe (im Jahr 2000 veröffentlicht und inzwischen vergriffen):

„Wir saßen zu dritt in der Küche – Roland Vogt, Reinhard Lampe und ich. Nach der ersten Versammlung in Schweinrich  forderte Herr Vogt Reinhard eindringlich auf, eine Bürgerinitiative zu gründen. Er sei der richtige Mann dafür und eine Bürgerinitiative die einzige Chance, das Unheil abzuwenden. Wir ahnten, was das für uns bedeuten würde. Wir waren noch ausgelaugt von Gründungsaktivitäten einer anderen Initiative. Und der ganz normale Alltag forderte uns auch ausreichend. Reinhard ließ sich dennoch überzeugen“
(Die andere Initiative, auf die Friederike Lampe Bezug nimmt: Ehepaar Lampe wollte das märkische Pflaster in Dorf  Zechlin erhalten wissen, aber schließlich setzte sich die Autofahrerfraktion durch. Woraufhin der Pflasterstrand aus dem märkischen Dorf verschwand).

Noch in der Versammlung am 5. August in Schweinrich war zu einer Protestversammlung am 15. August am Dranser See aufgerufen worden. Ich schlug Reinhard Lampe vor, als Redner  Theodor Ebert, den Nestor der gewaltfreien Aktionsbewegung in Deutschland, einzuladen. Der Friedensforscher Ebert könne am ehesten vermitteln, was alles zu einer erfolgreichen, gewaltfreien Strategie gehöre. Außerdem sei er Professor an der Freien Universität Berlin, werde wahrscheinlich kein Honorar verlangen und habe keinen allzu weiten Weg  in die Kyritz-Ruppiner Heide. Ebert habe auch Erfahrungen mit Bürgerinitiativen. Doch es sei unabdingbar, dass er, Reinhard Lampe, persönlich bei der Versammlung am 15. August die Initiative ergreife, zur Gründung einer Bürgerinitiative aufrufe und sich dann die Namen derjenigen aufschreibe, die mitmachen wollten.

Mein Freund Theo Ebert kam und machte den Menschen Mut zum Widerstand, ließ aber keinen Zweifel daran, dass eine gewaltfreie Strategie einen langen Atem erfordere. Es könne durchaus sein, dass man sich auf 10 Jahre anstrengenden Widerstands einstellen müsse. Am Beispiel des Larzac zeigte er, dass Erfolg möglich ist, wenn alle Aktionen strikt gewaltfrei bleiben und es gelinge, die Sympathien von Bevölkerung und Entscheidungsträgern zu gewinnen. 

Reinhard Lampes Aufruf, eine Bürgerinitiative zu gründen, fiel auf fruchtbaren Boden. Etwa 30 der am Dranser See Protestierenden erklärten sich bereit, aktiv mitzumachen. 
Unter den an der Gründung der Bürgerinitiative am 23. August im Dorfkrug zu Schweinrich Beteiligten waren mehrere für die Aufgabe geeignete Führungspersönlichkeiten. Um nur einige prägende Gestalten zu nennen: der eingangs schon vorgestellte ehrenamtliche Bürgermeister von Schweinrich, Helmut Schönberg, Pfarrer Benedikt Schirge, bis heute Sprecher und in der öffentlichen Wahrnehmung „das Gesicht der FREIenHEIDe“ und die –in- zwischen verstorbene- Annemarie Friedrich, eine ehemalige Oberschullehrerin aus der Region. Sie ging als die „Großmutter der FREIenHEIDe“ in die Annalen des Widerstands  ein.
Die Bürgerinitiative oder etwas Ähnliches wäre wahrscheinlich auch ohne mein Einwirken zustande gekommen. Sehr viele Menschen in der Region suchten nach Methoden, ihre Ablehnung der Neuauflage des neuen, nun deutschen Bombodroms wirksam werden zu lassen. Sie vertrauten den Ortsbürgermeistern, die in ihrer Mehrheit bereits öffentlich ihre Entschlossenheit erklärt hatten, gegen die Bundeswehrpläne vorzugehen. Auch der Wittstocker Landrat Gilde, zugleich Landtagsabgeordneter der SPD, bezog entschieden Position gegen das Bundeswehrprojekt. Doch als Landrat hätte er leicht in Schwierigkeiten geraten können, wenn er protestierenden Mitbürgern zugleich als Sympathisant des Widerstands und als Sachwalter der öffentlichen Ordnung begegnet wäre. Mir war von Anfang an klar, dass beim zweistufigen Aufbau der Landesverwaltung in Brandenburg, wo es keine Regierungspräsidien als Vollstrecker  der Landeshoheit gibt, Landräte und Bürgermeister in konkreten Widerstandssituationen Loyalitätskonflikte auszustehen haben würden, die auch bei höchster Integrität der handelnden Persönlichkeiten zum Hemmnis für den Bürgerwiderstand hätten werden können. Christian Gilde sah das genau so und war froh und erleichtert darüber, dass mit der Bürgerinitiative ein neuer Akteur die Bühne betrat.

Die Bürgerinitiative FREIeHEIDe   

1.Ein Drehbuch für die Protestwanderungen

Nachdem Reinhard Lampe für die Idee der Gründung einer Bürgerinitiative gewonnen war, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Friederike, von Beruf Psychotherapeutin, ans Werk.  Mich hatte das Paar schon bei der ersten Begegnung stark beeindruckt. Die beiden sind Eltern von zwei reizenden Mädchen, die bei meinem überfallartigen Besuch  im Garten spielten und hin und wieder in der besagten Küche aufkreuzten. Positiv berührte mich, dass Reinhard nicht gleich zusagte, die ihm angetragene Rolle zu übernehmen, sondern dass er sich erst einer gemeinsamen Entscheidung mit Friederike vergewissern wollte.  Das Ehepaar Lampe war, wie sich herausstellen sollte, ein Glücksfall in der Gründungsphase der Bürgerinitiative.

Aber lassen wir Friederike Lampe selbst zu Wort kommen:

„… Nun ging die gedankliche Vorbereitung los. Tagelang haben wir über den Namen nachgegrübelt. Freunde einbezogen, bis Reinhard den Geistesblitz FREIeHEIDe hatte. Und mich hatte es auch gepackt. Das könnte ja eine tolle Sache werden, wenn wir – die potentiell Gleichgesinnten – Spaß miteinander hatten und wenn wir eine Struktur fänden, die dann eine Eigendynamik entwickelte. … Was ich nicht wollte, war ein bedeutungsschweres, humorloses, fanatisches, kämpferisches „Nun zeigen wir es denen mal“. Und dazu gehört für mich auch die Sprachkultur jenseits von „Demo“ und Marschieren… Ich stellte mir immer wieder die Frage, wofür anstelle wogegen wir aktiv werden. Und da fiel uns – übrigens während eines Spazierganges!- eine ganze Menge ein: Wir haben diesen Schatz einer wunderschönen Landschaft, also warum nicht beim miteinander Gehen und Wandern uns dessen erfreuen?
Und wir haben Dörfer mit ihrem jeweils eigenen Charakter, mit ihren von den Vorfahren teilweise selbst erbauten Kirchen (meist Feldsteinkirchen; Anm. d. Verf.).  Und dort ist ein guter Ort für den Beginn. Ein Ort zum Musizieren, für gute Gedanken, für Informationen und- für alle, die es wollen- ein Ort für den Segen. Also, wie wäre es, wenn wir uns am immer gleichen Sonntag im Monat in der jeweiligen Kirche versammelten und von dort aus zur Schießplatzgrenze wanderten? Ringsherum? Und, wenn nötig, nach einem Jahr wieder beim Ausgangsdorf anfingen? Damit war das Motto klar:

Auf dem Weg zur FREIenHEIDe.(Hervorhebung durch d. Verf.)

Und die Schießplatzgrenze konnte doch ein Ort werden, wo wir unsere Lebensfreude spüren, tanzen zum Beispiel. Und wir sollten ein sichtbares dauerhaftes Zeichen setzen…
Wir haben Holz, Bäume. Also warum nicht jedes Mal eine Mahnsäule errichten?“

Das von den Lampes entwickelte Konzept überzeugte die Mitglieder der Bürgerinitiative in Gründung und wurde fortan zum verbindlichen Muster der Protestwanderungen.
Bei der Gründungsversammlung am 23. August 1992 konnten schon Arbeitsgruppen zur Vorbereitung der ersten Protestwanderung gebildet werden. Sie fand am Sonntag, dem 13. September, in Dorf Zechlin statt und Reinhard Lampe hielt die erste Andacht für die FREIeHEIDe in seiner Kirche. Mit seiner mitreißenden Andacht am 23. August 2009 am Dranser See schloss sich für viele von uns  der Kreis nach 113 Protestwanderungen.

2. Grundlagen eines lang andauernden zivilen Widerstands

Wie konnte es gelingen, dass einfache Bürgerinnen und Bürger in einer dünn besiedelten Region 17 Jahre lang ihre Heimat gewaltfrei und schließlich erfolgreich gegen ein Großprojekt des Staates zu verteidigen wussten? Dass sie Macht entfalteten? Denn wenn Macht die Fähigkeit ist, einen Anderen auch gegen seinen Willen zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zu bewegen, dann haben die Bürgerinitiative FREIeHEIDe und ihre Bündnispartner Macht ausgeübt.

Allein, dass die Luftwaffe so lange gehindert wurde, das Vernichten von Bodenzielen zu üben, ist schon ein Achtungserfolg.

Gekrönt aber wird der Erfolg, als der Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung,  am 9. Juli 2009 auf einer Pressekonferenz verkündet, „ … dass die Bundeswehr auf die Nutzung von Wittstock als Luft-Boden-Schießplatz verzichten wird“ (genauer Wortlaut siehe Info-Kasten 3)


Info 3 - Originalton Jung am 9. Juli 2009, flankiert vom Generalinspekteur der Bundeswehr, Schneiderhahn, vor der Presse:

„Wir haben hier sehr sorgfältig die Erfolgsaussichten überprüft, aber natürlich auch die Sicherstellung der Einsatzbereitschaft unserer Luftwaffe. Und in diesem gesamten Abwägungsprozess kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Bundeswehr auf die Nutzung von Wittstock als Luft-Boden-Schießplatz verzichten wird, das heißt keine Revision gegen dieses Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin/Brandenburg einlegen wird… Wir sind auch der Auffassung, dass nach 15 Jahren auch der gerichtlichen Auseinandersetzung , damit verbunden auch der Nichtnutzung des Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock durch die Bundeswehr und auch unter Berücksichtigung der Petitionsentscheidung des deutschen Bundestages eine Realisierung des Luft-Boden-Schießplatzes Wittstock nicht mehr möglich ist… “   

(Anm. d.Verf.: Mit „Wittstock“ oder „Luft-Boden-Schießplatz Wittstock“ ist das 142 Quadratkilometer große Areal in der Kyritz-Ruppiner Heide zwischen den Städten Wittstock, Neuruppin und Rheinsberg gemeint. Die Bundeswehr nannte ihr Vorhaben Luft-Boden-Schießplatz, die Gegner dieses Unterfangens sprachen in Anlehnung an den früheren sowjetischen Bombenabwurfplatz meist vom Bombodrom)

Für das lange Durchhaltevermögen der FREIeHEIDe-Bewegung und den schließlich erreichten Verzicht des Bundesministers der Verteidigung auf einen Luft-Boden-Schießplatz in dieser Region waren mehrere Komponenten maßgebend:
- ein klares Ziel;
- der unerschütterliche Glaube der Akteure des Widerstands, dass dieses Ziel erreichbar ist ;-eine gekonnte gewaltfreie Strategie;
-Inspiration, Führung und Integration durch Persönlichkeiten natürlicher  Autorität;
-eine verlässliche Kerngruppe, die für das Gelingen der Protestwanderungen und anderer Aktionen verantwortlich zeichnete;
-spektakuläre Bilder, mit denen die FREIeHEIDe immer wieder in die Medien kam, etwa wenn Tausende Teilnehmer gemeinsam das  Peace-Zeichen bildeten; 
-die Fähigkeit , das Protestwandern an Ostern zum größten Ostermarsch in Deutschland anwachsen zu lassen;
-das Wecken großer Spendenbereitschaft von Sympathisantinnen und Sympathisanten überall in Deutschland,
-das Gewinnen von Bündnispartnern in allen Schichten der Bevölkerung und länderübergreifend, wovon Initiativen wie die Unternehmerinitiative „pro Heide“ und die Mecklenburger Initiative „Freier Himmel“ Zeugnis ablegen;
- und letztlich ist nicht auszuschließen, dass die Ankündigung massenhaften zivilen Ungehorsams durch die Kampagne „Bomben nein-wir gehen rein“ Eindruck auf Entscheidungsträger gemacht hat. Im Rahmen dieser Kampagne hatten sich 2000 Menschen durch Unterschrift bereiterklärt, bei Übungsbeginn ins Bombodrom-Gelände einzudringen. Dadurch, so  die Einschätzung der Initiatorinnen und Initiatoren, wurde dokumentiert, dass selbst im Fall einer juristischen Niederlage die Bewegung nicht resigniert. Vielmehr hätte der Widerstand mit gewaltfreiem zivilem Ungehorsam eine neue Qualität bekommen.

Das Geheimnis des Erfolgs wird wohl im Zusammenwirken all dieser Faktoren liegen oder, anders gesagt: in der Fähigkeit der Widerstandsbewegung, alle verfügbaren Register gewaltfreien Handelns zu ziehen.

Garanten des Erfolgs: Erstklassige Verwaltungsrechts-Anwälte und richterliche Rechtsfortbildung

Ganz entscheidend jedoch sowohl für das lange Durchhalten als auch für den Erfolg nach 17 Jahren Widerstand war der Einsatz exzellenter Anwälte für die Sache des Widerstands. Auf meine Empfehlung hatte Christian Gilde den Berliner Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Reiner Geulen, dafür gewinnen können, das Mandat für den Landkreis Ostprignitz-Ruppin zu übernehmen. Geulen war mir in den 1970er Jahren aufgefallen, als er der Bürgerinitiative für die Erhaltung des Spandauer Forsts geholfen hat, ein Kohlekraftwerk zu verhindern. Am 27. Januar 1994 erhebt Rechtsanwalt Reiner Geulen im Namen des Landkreises Ostprignitz-Ruppin, der Gemeinden Gadow und Schweinrich, der Kirchengemeinde Dorf Zechlin und dreier betroffener Grundstückseigentümer vor dem Verwaltungsgericht Potsdam Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel, die Weiternutzung des ehemaligen russischen Bombenabwurfplatzes durch die Bundeswehr zu untersagen. Geulen  gewinnt schließlich im Fall der Kyritz-Ruppiner Heide,  gemeinsam mit seinem mittlerweile hinzugewonnenen Sozius Remo Klinger, sage und schreibe 27 Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland. Inzwischen haben sich die beiden Anwälte den Ruf erworben, mit geradezu magischer Fähigkeit Prozesse gegen umweltschädliche und unsinnige Projekte zu gewinnen. Eines der Geheimnisse ihres Erfolges ist, dass sie mit untrüglichem Spürsinn die Fehler und Schwächen in den Planungen der Gegenseite aufdecken. Im Fall der Kyritz-Ruppiner Heide hat ihnen nicht zuletzt die Arroganz von Bundeswehrjuristen in die Hände gespielt, die partout nicht einsehen wollten, dass auch die militärische Seite sich nicht über die Beteiligungsrechte betroffener Bürger und Gemeinden hinwegsetzen darf. Während der gesamten Dauer der gerichtlichen Auseinandersetzungen hatte ich die Sorge, dass alle vier Minister der Verteidigung sich auf der sicheren Seite wähnten, weil es nach Entspannung, Wende und Vereinigung politisch versäumt worden war, die das Militär privilegierende Rechtsordnung  aus der Zeit des Kalten Krieges an die neue Weltlage anzupassen. Geulen und Klinger ist hoch anzurechnen, dass sie solche Zweifel nie an sich herangelassen haben, unerschütterlich an den Erfolg glaubten und mit dieser Zuversicht sowohl die Menschen im Widerstand angesteckt  als auch die  Richterinnen und Richter überzeugt haben. 
Die Lehre für alle, die vergleichbare Probleme zu lösen haben, ist: Nehmt nicht irgendwelche Anwälte, sondern die besten und sorgt dafür, dass Ihr sie auch bezahlen könnt!
Und die Botschaft mag –frei nach dem Ausspruch des Müllers von Sanssouci- lauten: Es gibt noch Richter in Berlin und Brandenburg! 

3. Lernen im Widerstand

Wie und wo lernen Menschen? Gewiss: in der Familie, auf der Straße, in  Schule, Universität, und Berufsausbildung  und schließlich in der Arbeitswelt, wenn dafür die Chance geboten wird. Sicher auch lebenslang, von der Kindheit bis ins Greisenalter. Rasant beschleunigt wird aber, so finde ich, das Lernen bisweilen durch die Agentur der Liebe und die Agentur des Widerstands. Gemeinsam ist beiden, dass es sich um Ausnahmezustände handelt. Vom Lernen in der Liebe soll hier nicht berichtet werden. Aber vom Lernen im Widerstand. Im  Larzac und in Wyhl, erst recht aber in der Kyritz-Ruppiner Heide, hat sich gezeigt: Die aktive Teilnahme an dieser Art von Widerstand beschleunigt das Lernen enorm. Das, was in kurzer Zeit über Demokratie und Rechtstaat erfahren wurde, hätte in dieser Intensität auf keiner juristischen oder politologischen Fakultät gelernt werden können, auch nicht auf der Ochsentour in einer Partei. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR hatte das –so kurz nach der Vereinigung!- eine besondere Bewandtnis, weil die Gewährleistungen und die Institutionen westlicher Demokratien für Viele Neuland waren, für manche mit hohen Erwartungen, für andere mit großer Skepsis verbunden.
Doch als es um Selbstbehauptung angesichts der Bedrohung von außen ging, waren die Sinne aller am Widerstand Beteiligter geschärft genug, um die Möglichkeiten und Grenzen der bundesdeutschen Rechtsordnung und der repräsentativen Demokratie rasant schnell zu erkennen. 
Das Besondere an der FREIenHEIDe im Vergleich zu den Fallstudien aus dem Westen ist, dass einige Mitstreiterinnen und Mitstreiter Erfahrungen mit dem durch Macht von unten erzwungenen Systemwandel einbringen konnten.
Reinhard Lampe zum Beispiel hat vor der Wende „Demokratie Jetzt“ mit initiiert und tat sich bereits 1986 als junger Vikar durch systemkritische Aktivitäten hervor.
Aber sie lernten auch schmerzlich, dass auf die große Politik kein Verlass ist. Dafür stehen die Namen Rudolf Scharping und Peter Struck. Der eine versprach als Kanzlerkandidat, der andere als Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag, dass, sobald ihre Partei im Bund regiere, das Projekt Luft-Boden-Schießplatz gestoppt und die Kyritz-Ruppiner Heide für die zivile Nutzung freigegeben werde.
Durch einen wahrhaft teuflischen Schachzug des Schicksals wurden beide Politiker nacheinander Verteidigungsminister und setzten sich fortan mit aller Härte für das Projekt ihres Amtsvorgängers Rühe (CDU)  ein.

Auch das Vertrauen der Landeskinder Brandenburgs in das Wort des jeweiligen Landesvaters und einiger Minister wurde arg strapaziert. Die SPD führt seit Neugründung des Landes Brandenburg ununterbrochen die Regierung an. Eindeutig gegen den Luft-Boden-Schießplatz verhielt sie sich nur in der Ampelkoalition während der ersten Legislaturperiode. Als sie dann allein regieren konnte, verschanzte sie sich hinter dem Argument, durch Stellungnahmen als Regierung nicht in laufende Gerichtsverfahren eingreifen zu wollen. In der dann folgenden großen Koalition nahm sie hinter der CDU des ehemaligen Generals und Staatssekretärs beim Bundesminister der Verteidigung, Jörg Schönbohm, Deckung.

Kleines Wunder durch Zivilcourage im Amte

Erst im Landtagswahljahr 2004 kam auf erstaunliche Weise Bewegung ins Spiel. Wahltag war der 19. September. Im April brachte die Unternehmerinitiative Pro Heide eine Sensation zustande: Sie überzeugte Ulrich Junghanns, den CDU- Wirtschaftsminister der Brandenburger großen Koalition,  davon, dass ein Luft-Boden-Schießplatz inmitten der seen- und waldreichen Erholungsregion die aufstrebende Tourismusbranche beschädigt und allein schon die Aussicht auf das Bundeswehrprojekt ein Investitionshemmnis ist. Junghanns vollzog daraufhin einen Kurswechsel im Wirtschaftsministerium, das zuvor bei einer Anhörung - im Rahmen eines der Bundeswehr vom Verwaltungsgericht auferlegten Beteiligungsverfahrens  - den Luft-Boden-Schießplatz „mit Nachdruck“ begrüßt hatte, weil es ihn für einen bedeutsamen Wirtschaftsfaktor in einer strukturschwachen Gegend hielt. Meine Gegenvorstellungen als seit Jahren mit der Kyritz-Ruppiner Heide befasster Konversionsbeauftragter im Wirtschaftsministerium waren auf dem hierarchischen Dienstweg niedergebügelt worden.

Mit seinem Kurswechsel als Fachminister gab Junghanns auch der Landes-CDU das Signal zum Umdenken. Zugleich befreite er Brandenburgs SPD zu sich selbst. Unter dem Druck des nahen Wahltermins ließ sie sogar die Rücksicht auf die Position ihres Genossen  Struck fahren und schlug sich voll auf die Seite der Bombodrom-Gegner.

Seitdem gab es einen edlen Wettstreit der wahlkämpfenden Landesparteien um die Gunst der regionalen Bevölkerung, die ihrer Ablehnung des Luft-Boden-Schießplatzes im April 2004 durch 10.000 Demonstranten in der Fontane-Stadt Neuruppin Nachdruck verlieh.

Vor der Landtagswahl beschloss der brandenburgische Landtag auf Antrag von SPD und CDU auf Bundesebene gegen die Einrichtung des Luft-Boden-Schießplatzes vorgehen zu wollen.
Nach der Wahl bezog die erneuerte Regierung aus SPD und CDU in ihrer Koalitionsvereinbarung  Stellung gegen den „ehemaligen“ (!) Truppenübungsplatz in der Kyritz-Ruppiner Heide.

Der von Junghanns herbeigeführte Kurswechsel und die von ihm ausgelöste Dynamik galten damals schon als kleines Wunder, weil niemand damit gerechnet hatte. Bemerkenswert daran ist, dass Junghanns damit auch seine politische Karriere riskierte und so ein Beispiel der in Deutschland so seltenen Zivilcourage im Amte gab.


Info 4 - „Zivilcourage“:

Der Begriff Zivilcourage wird Otto von Bismarck als Wortschöpfung zugeschrieben. 1864 soll er, wie von Keudell 1901 schreibt, aus Enttäuschung über einen Verwandten, der ihn im Reichstag nicht unterstützt hat, gesagt haben: „Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt“. Nachgewiesen wird der Begriff erstmals in Frankreich als „courage civil“, Mut des Einzelnen zum eigenen Urteil, und „courage civique“, staatsbürgerlicher Mut. Der deutsche Begriff Zivilcourage umfasst beides. 
In vielen  anderen Sprachen kommt der Begriff nicht vor. So hat John F. Kennedy seine Studie über Persönlichkeiten der US-amerikanischen Geschichte, die sich durch Zivilcourage ausgezeichnet hatten, „On the Courage“ genannt. Das Wort Zivilcourage stand ihm im Englischen  nicht zur Verfügung. 

Durchbruch auf Bundesebene

Sosehr die Brandenburger Wende den Bombodrom - Gegnern neuen Auftrieb gab, auf der großpolitischen Ebene bedeutete sie noch nicht viel. Der jeweilige Bundesminister der Verteidigung wartete auf den Ausgang der Gerichtsentscheidungen und meinte dabei die besseren Karten zu haben. Dabei konnte er auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vertrauen, das im Dezember 2000 der Bundeswehr zwar bis auf weiteres den Übungsbetrieb untersagt hatte, die Übernahme des sowjetischen Übungsplatzes durch die Bundeswehr aber gleichwohl für rechtmäßig erklärte.

Wie ist zu erklären, dass der Bundesminister der Verteidigung nun so plötzlich auf das Bombodrom verzichtet, nachdem ihn zuvor 27 verlorene Gerichtsprozesse, die zwei meistbetroffenen Landesregierungen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, der Bundesrechnungshof und eine wachsende Bürgerbewegung nicht zur Einsicht hatten bewegen können?
Hatte die brisante Mischung aus Protesten, politischer Lobbyarbeit, Gerichtsverfahren, direkten gewaltfreien Aktionen, Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam etwa eine neue Qualität erreicht?

Es war wohl, und darauf bezieht sich Jung  in seiner verschwurbelten Erklärung vor der Presse (siehe Info 3), vor allem die Gleichzeitigkeit des zu erwartenden endgültigen Scheiterns vor dem Bundesverwaltungsgericht und des sich abzeichnenden Verlusts der Mehrheit für das Bundeswehrprojekt im Bundestag , die den Minister und die Bundeswehr zum Befreiungsschlag veranlassten. Zugleich mag es auch der Versuch der Schadensbegrenzung für seine Partei und seine eigene Karriere gewesen sein, die Jung in die Flucht nach vorn trieb. Die Onlinekampagne von Campact, einer basisdemokratische Bewegungen äußert effizient unterstützenden Agentur, wollte ursprünglich in der Woche nach dem 9. Juni Anzeigen zum Bombodrom in Zeitungen von Jungs Wahlkreis schalten. Darin hätte er nicht sehr vorteilhaft ausgesehen.

Auf der juristischen Ebene wurde der für die FREIHEIDianer entscheidende Erfolg am 27. März 2009 errungen: Das Oberverwaltungsgericht Berlin/Brandenburg bestätigte eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Potsdam. Sie lautete, dass die Bundeswehr in der Kyritz-Ruppiner Heide nicht üben darf, weil sie die Beeinträchtigungen für die Anlieger bei ihren Planungen nicht hinreichend berücksichtigt hatte.

Am 2. Juli hat der Bundestag mit großer Mehrheit entschieden, die Petitionen gegen die militärischen Nutzungspläne der Kyritz-Ruppiner Heide der Bundeswregierung „zur Erwägung“ zu überweisen.

Der Umstand, dass die Bundesregierung bisher auch auf parlamentarische Anfragen nicht bereit ist, noch vor der Bundestagswahl den vollen Verzicht auf den Truppenübungsplatz Wittstock zu erklären, gibt allerdings zu denken.

Die FREIeHEIDe-Bewegung nimmt das zu Kenntnis. Wahre Wunder dauern anscheinend  länger als 17 Jahre

Wie weiter in der Kyritz-Ruppiner Heide?

Die Botschaft der Heide ist die Heide

August 1993: Gemeinsam mit Anhängern der FREIenHEIDe durchwandere ich einen Teil des Bombodrom – Geländes. Inmitten eines Meeres blühender Heide drängt sich mir das Konversionsziel Nummer eins für diese Landschaft geradezu auf: Die Botschaft der Heide ist die Heide.

„Wer aus der Naturausstattung der Kyritz Ruppiner Heide ein auch wirtschaftlich erfolgreiches Konzept ableiten will“, so schreibe ich in das 2000 erscheinende Buch der Bürgerinitiative FREIeHEIDe, muss die Heide ‚vermarkten‘. Das heißt, sie muss zugänglich, erlebbar gemacht werden und mit einer Legende, also mit einer Geschichte verbunden werden, die Phantasie entzündet und die Sehnsucht der Menschen weckt, von denen wir wollen, das sie zu zahlenden Gästen werden.
Nur in dieser  Hinsicht folge ich dem Hinweis der militärischen Seite auf die Lüneburger Heide (- die Bundeswehr hatte diese als Beispiel für die Koexistenz von Tourismus und militärischem Üben dargestellt). Die Lüneburger Heide ist populär geworden durch das Hermann-Löns-Lied und in den fünfziger Jahren durch verschiedene Heimatfilme…

Die Legende der Kyritz-Ruppiner Heide wird zurzeit von der Bürgerinitiative FREIeHEIDe geschrieben und-vielleicht-ist das Buch der FREIenHEIDe bereits das Schlusskapitel einer Erfolgsstory, die dieser seen- und waldreichen Kulturlandschaft noch ein Highlight hinzufügt: die dann wirklich zugängliche, erlebbare freie Heide.“

14. September 2009, Tourismuskonferenz der Wirtschaftsminister von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nach der Entscheidung des Bundesministers der Verteidigung vom 9.Juli2009:

Eines der Traumziele der Tourismusexperten ist der Dreiklang von Seen, Wald und Heide als Alleinstellungsmerkmal der Erholungsregion. Dieter Hütte, Geschäftsführer der Tourismusmarketing Brandenburg, sagt, die märkische Heide, wie er die dann freie Heide wohl nennen will, könne mit der Lüneburger Heide konkurrieren. Er untertreibt: Sie ist schöner als die Lüneburger Heide. Nur ist noch verdammt viel zu tun, um sie wirklich frei zu bekommen und als Heide zu erhalten. Wenn’s denn sein muss, indem erneut alle Register des Widerstands gezogen werden. Landschaftspflegerisch, indem Vorkehrungen zum Erhalt der Heide als Heide getroffen werden.
Die Minister, der Landrat von Ostprignitz-Ruppin Christian Gilde, der Vorsitzende der Unternehmensinitiative und Bürgermeister von Neuruppin, Jens-Peter Golde, der Vorsitzende der Bürgerinitiative FREIe HEIDe, Benedikt Schirge, die Vorsitzende der Mecklenburger Initiative „Freier Himmel“, Barbara Lange, die Sprecher verschiedener Tourismusverbände, alle Rednerinnen und Redner, stimmen darin überein, dass die Region sich entschieden zur Wehr setzen wird, wenn die Bundeswehr das ehemalige Bombodrom zum militärischen Üben behalten will. Die Regierenden der beiden Bundesländer und die  Meinungsführer der Region reagieren damit auf irritierende Äußerungen der militärischen Seite; haben doch Sprecher des Bundesministers der Verteidigung wiederholt nach der Entscheidung vom 9.Juli gesagt, die Bundeswehr prüfe noch, ob sie den Truppenübungsplatz Wittstock behalten will.

Phase 2 des Widerstands, wenn Bundeswehr bleiben will

Barbara Lange vom Feien Himmel sagt, die Bürgerinitiativen FREIeHEIDe, „Freier Himmel“ und „pro Heide“ seien sich einig, dass die Phase 2 des Widerstands ausgerufen wird, wenn die Bundeswehr bleibt, um mit Bodentruppen zu üben.

Sie warnt davor, sich zu früh in Sicherheit zu wiegen.

Der Luft – Boden-Schießplatz, sagt sie, steht alternativlos im Truppenübungsplatzkonzept, da kann man nicht, wenn eine Variante gescheitert ist, einfach mit einer anderen daher- kommen. Die Steuergelder, die von der Bundeswehr für die Munitionsberäumung veranschlagt worden sind, meint sie, bleiben auch dann unsere Steuergelder, wenn die militärische Nutzung aufgegeben wird. „Einmal sollten sie in unserem Sinne eingesetzt werden“.

Damit spricht sie  mir aus der Seele. Man könnte das, was sie da in gesundem Menschenverstand fordert, auch das Klagelied aller Konversionsschaffenden in  Deutschland nennen. Die Bundeswehr gibt Geld nur aus, um sogenannte struktursichere Truppenübungsplätze von Munition freiräumen zu lassen. Als struktursicher gelten ihr nur die  Militärareale, bei denen sie sicher ist, dass darauf geübt werden darf.
Darüberhinaus besteht die  sogenannte Staatspraxis aller bisherigen Bundesregierungen, wonach der Bund lediglich  das Beseitigen reichseigener Munition finanziert.
Alles andere sei, so die Rechtsauffassung des Bundes, Sache der Länder, der Kommunen und von Privatleuten. Wenn eine alliierte Bombe unter Deinem Haus geortet wird, liebe Leserin, lieber Leser, musst Du sowohl für die Kosten des Abrisses  Deines Hauses als auch der Bergung der Bombe aufkommen. Auch den Neubau zahlt Dir niemand, schon gar nicht die Bundesrepublik Deutschland.
Um diesem Missstand abzuhelfen, hat das Land Brandenburg zweimal Gesetzentwürfe für ein Rüstungsaltlastenfinanzierungsgesetz in die Bundesgesetzgebungsmaschine eingefüttert.
Zweimal hatten wir die Mehrheit im Bundesrat. Im Bundestag wurde es beim ersten Mal beraten und dann sagten dort die Finanzexperten der Regierungsparteien:  „Oh, 
Ihr Brandenburger Schlaumeier, Ihr wollt damit noch einmal Geld, nachdem Euch der Bund die ehemaligen sowjetischen Liegenschaften geschenkt hat“. Damit hatten sie recht. Denn das Land Brandenburg hatte 1994 in einem Verwaltungsabkommen die Kosten der Altlastensanierung  für die unentgeltlich vom Bund übernommenen ehemals sowjetischen Liegenschaften abbedungen, also den Bund davon ausdrücklich freigestellt.“ OK“, sagten wir, „Ihr habt uns erwischt“. Dann haben wir den Gesetzentwurf wunschgemäß abgeändert, denn es gibt ja  noch jede Menge alliierter Rüstungsaltlasten in Brandenburg, z.B. in Oranienburg; und in anderen Bundesländern auch, liest man doch immer wieder von Bombenfunden. Das Regierungsviertel in Berlin beispielsweise ist auf einem Haufen nicht beseitigter Munition errichtet. Der passende „Spiegel“-Titel dazu lautete „Warten auf den großen Knall“.
Unsere Korrektur half nicht, die rot-grüne Mehrheit im Bundestag lehnte das Gesetz ab. Das hatte früher die schwarz-gelbe Mehrheit auch getan, nachdem die niedersächsische Landesregierung mit Schröder und Trittin für fast den gleichen Gesetzentwurf im Bundesrat eine Mehrheit gefunden hatte. Die Staatspraxis ist also gegen Änderungen, gleich aus welcher Richtung, imprägniert.

Das heißt für die Kyritz-Ruppiner Heide, sobald sie „an zivil“ freigegeben ist, dass innovative Lösungen zu ihrer Sanierung und Freigabe an die Öffentlichkeit gefunden werden müssen. Darüber wird zurzeit in der Region heftig diskutiert, auch gefachsimpelt.

Mehrere Handlungskonzepte sind für die Kyritz-Ruppiner Region und die FREIeHEIDe- Bewegung zur Zeit in der Diskussion

a) konversions- und tourismuspolitisch

- Der Bund soll die Heidelandschaft ins Nationale Naturerbe aufnehmen und dann unentgeltlich an das Land Brandenburg oder an Naturschutzstiftungen abgeben, um in der Kyritz-Ruppiner Heide  eine Kombination von Naturschutz, sanftem Tourismus und einer schonenden wirtschaftlichen Nutzung zu ermöglichen.
- Eine Bürgerstiftung oder eine HEID-Genossenschaft soll ins Leben gerufen werden, an der sich möglichst viele einfache Bürgerinnen und Bürger, Unternehmerinnen und Unternehmer mit Einlagen beteiligen. Wird ein ausreichendes Vermögen angesammelt, kann sie als Bieterin auftreten, wenn die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben das Gelände zum Verkauf ausschreibt. Von der Bürgerstiftung wird erwartet, dass sie das Gelände nach dem Erwerb nach den Bedürfnissen der Region entwickelt.
- Die Kosten der Sanierung des ehemaligen Truppenübungsplatzgeländes sollen sukzessive durch auf dem Gelände zu errichtende Anlagen erneuerbarer Energien erwirtschaftet werden, wie das bereits modellhaft auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Lieberose bei Cottbus erprobt wird.
- Mit Fördermitteln der EU, des Landes und des Landkreises soll ein Netz von Wander-, Reit- und Fahrradwegen angelegt werden; die Trassen und Seitenstreifen  sind zuvor von Munition und anderen Altlasten zu befreien, damit sie gefahrlos genutzt werden können. Beispielgebend hierfür ist die Döberitzer Heide bei Potsdam, wo das Land Brandenburg auf  Antrag des Landkreises Havelland mit EU- und Landesmitteln, kofinanziert durch den Landkreis, ein Wanderwegenetz von 25 km Länge geschaffen hat, wofür zuvor mit einem Millionenaufwand an Fördergeldern die Trassen und Seitenstreifen von Munition und anderen Schadstoffen freigeräumt worden sind.
- Auf jeden Fall muss der Bund dafür sorgen, dass  Anwohner und Gäste der Region möglichst bald die jetzt schon gefahrlos zu befahrenden und zu begehenden Straßen und Wege nutzen können und dass die sogenannte „weiße Zone“ des Areals, die als nicht mehr belastet gilt, so aufbereitet wird, dass sie gefahrlos betreten werden kann.

b) friedenspolitisch

Die friedenspolitischen Impulse, die vom gewaltfreien Widerstand ausgegangen sind und die ihn begleitet haben, sollten für alle Welt nachvollziehbar gemacht werden: durch Ausstellungen zum „Weg der FREIenHEIDe“, durch Begegnungsstätten , durch Werkstätten zum Erlernen gewaltfreier Selbstbehauptung, die es im Ansatz bereits in Gestalt der „Sichelschmiede“ um das Ehepaar Ulrike und Hans-Peter Laubenthal  gibt, durch die Erhaltung der Friedenspfarrei, die Benedikt Schirge zurzeit ausübt. Auch eine Friedensakademie in Rheinsberg, Neuruppin oder Wittstock wird erwogen. Es soll sich dabei aber nicht um eine akademische Institution im heute gebräuchlichen Wortsinn handeln, sondern um einen Ort des sehr konkreten praktischen Lernens. Für eine solche Institution sind auch andere Namen im Gespräch wie: Friedenszentrum, Friedensbildungszentrum, Volkshochschule Kyritz-Ruppiner Heide-in Anlehnung an die einstige „Volkshochschule Wyhler Wald“, die eine Zeit lang im „Freundschaftshaus“ auf dem besetzten Platz im Wyhler Wald bestanden hat. Nach dessen Räumung wurde sie  abwechselnd  in verschiedenen  Gemeinden der Widerstandsregion aufrechterhalten. 

Die Heide soll Heide bleiben und der Bund muss sich bewegen

Große Einigkeit besteht darin, dass sehr bald alles getan werden muss, damit die Heide Heide bleibt. Denn bereits jetzt werden große Anteile von ihr durch Büsche und Bäume verdrängt. Das Weiden von Schafherden, regelmäßiges Beseitigen von  Büschen und Bäumen, gelegentlich auch  kontrollierte Brandrodung, sind erprobte Mittel zur Erhaltung von Heidelandschaften.

Auf alle Fälle muss  sich der Bund bewegen und für innovative Lösungen öffnen. Nach 17 Jahren staatlich organisierten Stillstands zu Lasten der Region wollen die  Menschen dort endlich eine gefahrlos zugängliche, erlebbare freie Heide für sich und ihre Gäste.

Vom Bund werden also keine Wunder erwartet. Er soll vielmehr, verdammt noch mal, endlich seine Verantwortung gegenüber Menschen in ehemaligen Militärregionen wahrnehmen!

   
Roland Vogt ist Mitinitiator der Bürgerinitiative FREIeHEIDe und war bis 2006, als er mit 65 aus dem Öffentlichen Dienst ausscheiden musste, Konversionsbeauftragter im Wirtschaftsministerium des Landes Brandenburg

Gütekraft-Erfahrungen von Achim Schmitz - Entfaltung wohlwollender Offenheit und Empathie

1. "Im Sommer 1998 radelte ich durch eine Fußgängerzone in der Innenstadt von Oldenburg und
war durch den Abschied von jemandem, den ich gern mochte, noch bedrückt. Ein Mann riet mir
abzusteigen, da Radfahren dort verboten sei und mir sonst eine Geldbuße drohen könnte.
Zunächst war ich etwas verärgert, da ich seinen Ratschlag als Bevormundung interpretierte. In
mir war also nach der Sprache von Marshall B. Rosenberg („Gewaltfreie Kommunikation“) der
Wolf aktiv, der dem Gegenüber eher Negatives unterstellte. Ich antwortete: „Danke für den
Hinweis.“ Das meinte ich gemäss der „Wolfssprache“ ironisch. Während ich es sagte, änderte
sich jedoch meine Gefühlslage und damit auch meine Interpretation der Situation. Ich war dem
Mann dankbar für seinen Hinweis und unterstellte ihm mit wohlwollender Offenheit, dass er mir
tatsächlich ein evtl. wirklich drohendes Bußgeld ersparen wollte. Nach Rosenberg sprach aus
mir nun die Giraffe. Ich stieg vom Fahrrad und fühlte mich erleichtert über diese nun positive
Deutung der Situation."

2. "Eine andere vergleichbare Situation: 2004/2005 bediente ich als Verkäufer in einem Bioladen
eine Kundin mit einem englischsprachigen Akzent. Sie war jedoch mit meinen Hinweisen bzw.
unseren Produkten nicht zufrieden und meinte, ich würde „dummes Geschwätz“ von mir geben.
In den nächsten Wochen danach wurde sie nicht freundlicher, auch mit meinen KollegInnen
redete sie nicht freundlicher. Eines Tages kam mir der Gedanke, dass sie sich vielleicht unwohl
fühlte, in Deutschland immer auf Deutsch angeredet zu werden, während wir uns mit anderen
ausländischen KundInnen z.T. in ihrer Landessprache unterhielten. Also sprach ich sie auf
Englisch an. Zunächst reagierte sie wohl etwas irritiert und sagte, sie könnte gut Deutsch
sprechen. Dann ging sie aber auf mein Angebot ein und erklärte mir, dass sie ungern in
Deutschland lebte und sagte dazu „Sorry“. Ich antwortete: „Kein Problem.“ oder „Never mind.“
Zum Abschied wünschten wir uns gegenseitig ein schönes Wochenende. Sie war also
freundlicher zu mir als vorher. Auch hier gab es in mir einen Wechsel von der „Wolfssprache“
zur „Giraffensprache“ mit Empathie für ihre Situation."

3. "Im Sommer 2005 saß ich mit einer Gruppe von Radfahrern im Zug und ließ durchblicken,
dass ich schlecht gelaunt war, was aber nichts mit der Gruppe zu tun hatte. Zwei Radfahrer aus
der Gruppe waren dennoch freundlich zu mir. Ich nahm es zunächst nicht ernst und dachte, sie
wollten mich ein wenig auf den Arm nehmen. Dennoch antwortete ich nach außen hin
freundlich, meinte es innerlich eher ironisch - ich wahrte also zunächst eher den Schein. Dann
waren die beiden anderen jedoch weiterhin freundlich zu mir, und bei mir schmolz das Eis nach
und nach. Dann war meine freundliche Reaktion auch innerlich ernst gemeint. Also auch hier
der innere Prozess vom Wolf zur Giraffe."

Das sind alles keine spektakulär heroischen Erfahrungen, aber für mich Ansätze Gewaltfreier
Kommunikation.

(Achim Schmitz)