Samstag

Ein gefährlicher Spaziergang

Vor Jahren habe ich in London an einer Ausbildung zum Community-Worker teilgenommen. Sie fand in einem Gemeinwesenzentrum im East-End nahe dem Hafen statt, einer 'arme-Leute'-Gegend. Es sah damals dort fast gespenstisch aus.In ganzen Straßenzügen waren die Fenster und Türen zugemauert, weil die einstöckigen Häuser zugunsten von Wohnblöcken abgerissen werden sollten.
In der Ausbildung wurde eine Technik angewendet, die man "overflooting" nennt. Das bedeutet, daß man stundenlang mit Informationen vollgestopft wird, was natürlich äußerst anstrengend ist. Deshalb beschloß ich am Abend gegen 22.00 Uhr noch einen Spaziergang zu machen. Von meinen Kollegen wollte keiner mitgehen, weil sie zu müde waren.

Ich ging also los; und als ich so eine viertel Stunde von unserem Zentrum entfernt war, hörte ich in einiger Entfernung Schritte hinter mir, was mich zunächst nicht beunruhigte. Das änderte sich jedoch, als ich in eine Seitenstraße abbog und die Schritte folgten. Ich drehte mich vorsichtig um und bemerkte in einiger Entfernung eine Gruppe von acht Jugendlichen, die schweigend hinter mir herzogen. Jetzt bekam ich Angst. Hatte ich doch in der Stadtteilzeitung von häufigen Überfällen gelesen. Ich blieb stehen, die Schritte verstummten. Ich ging schneller, die Gruppe auch. Da wußte ich Bescheid, die wollten was von mir. Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was sollte ich tun? Davonrennen? - Zwecklos - die jungen Leute wären sicher viel schneller als ich. Schließlich erinnerte ich mich an ein Rollenspiel, in dem unser Lehrer zeigte, daß es erfolgversprechend wäre, auf die Jugendlichen zuzugehen und sie um Hilfe zu bitten.

Da mir selbst nichts besseres einfiel und die Gruppe immer näher rückte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich drehte mich um, ging auf die Jugendlichen zu, die stehenblieben und mich feindselig anblickten. Ich sagte in meinem schlechten Englisch: "Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht helfen? Ich bin ein Ausländer und habe mich verlaufen. Ich suche das Community-Center."
Da hellte sich das Gesicht des jungen Mannes, der vor mir stand auf und er sagte: "Selbstverständlich tun wir das, wir bringen Dich hin."
Sofort entstand in der Gruppe ein entspanntes Klima. Sie fingen an zu reden und geleiteten mich zum Zentrum. Dort lud ich sie noch zu einem Bier ein.

Unser Gemeinschaftsraum war leer. Die Kollegen waren nach dem anstrengenden Tag wohl schon im Bett. Wir ließen uns nieder, ich machte Musik an und wir tranken das Bier. Sie kannten, wie sie sagten, das Zentrum, nur von außen.
Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür und ein englischer Kollege wollte herein¬kommen. Er stutzte, als er die Gruppe sah, und machte schnell die Tür von außen wieder zu. Drinnen unterhielten wir uns noch eine Weile, wobei ich erfuhr, daß alle aus der Gruppe arbeitslos waren, und dann gingen sie friedlich. Sie sagten, sie wollten mal wieder kommen und sich das Haus ansehen.
Als sich die Tür hinter ihnen schloß, öffnete sich die Tür des Essraumes und alle meine Kollegen kamen heraus. Der Engländer hatte sie geweckt. Er kannte den Boß der Gruppe und wußte, daß dies die gefährlichste Jugendbande vom Eastend war. Die Kollegen wollten mir freundlicherweise helfen, falls die mich verprügeln würden. Da wurde mir nachträglich noch schlecht - vor Schreck.


(Quelle: Fritz Karas, Köln)

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