Samstag

Manchmal braucht es Vertrauen

Eines abends im Jahre 1982 wollten zwei ganz normale junge Frauen in Philadelphia ihre Miete bezahlen gehen. Sie hatten weder eine Handtasche noch einen Geldbeutel dabei. Nachdem sie die Miete bezahlt hatten, schlenderten sie wieder nach Hause - ohne einen einzigen Penny in der Tasche. Und es war ihnen anzusehen. Doch plötzlich stellte sich ihnen auf der dunklen und leeren Straße ein Mann in den Weg und hielt der ihm am nächsten stehenden ein Messer an die Kehle.
  "Ich will Geld. Ich habe kein Geld."
  So etwas geschieht heutzutage in den Straßen der Städte - der vor Schmerz fast verrückte Junkie, der an die Spritze will. Und wenn sein Versuch fehlschlägt, dann kann er nicht einfach ruhig wieder abziehen; mit Sicherheit würde sofort die Polizei alarmiert, die ihm mit heulenden Sirenen, Suchscheinwerfern und gezückten Revolvern nachjagte. Leuteüberfallen ist eben kein Geschäft, wo man sich von einer schlechten Aussicht abwenden kann, um gelassen einen lohnenderen Kunden zu suchen.
  Was sollten die beiden Frauen tun? Wenn eine floh, das erkannten sie gleich, dann würde die andere dem Messer zum Opfer fallen.
  "Ich will das eigentlich nicht tun", sagte der Junkie. "Es macht mir keinen Spass, Leuten weh zu tun. Aber manchmal muß ich einfach!"
  Das Messeer kam näher.
  "Und wenn es sein muß, mach' ich es jetzt. Wenn ich kein Geld kriege, muß ich jemandem weh tun."
  "Aber wir haben kein Geld!"
  "Ich muß aber Geld haben!"
  Sie fingen an, sich Alternativen für ihn zu überlegen. Aber keine war praktikabel.
  "Wenn ich kein Geld kriege, muß ich euch weh tun."
  "Paß auf", sagte die Kleinere, das Kinn über dem Messer. "Ich bleibe bei dir. Mary geht zurück in meine Wohnung und holt das Geld für dich."
  "Nein, auf keinen Fall. Sie ruft nur die Bullen an."
  "Nein, das tut sie nicht! Wirklich nicht! Ich bin doch hier. Sie ruft doch nicht die Bullen, wenn ich noch hier bin."
  Immer noch war die Straße menschenleer. Die drei befanden sich in einer dramatischen Lage. Das Messer war geschwärzt, um kein Licht zu spiegeln. In den jungen Frauen begann ein seltsames Verständnis zu wachsen. Er machte das wirklich nicht gerne. Es ging ihm tatsächlich schlecht. Er war unberechenbar. Außerdem hatte er mehr Angst als sie.
  "Paß auf, du kommst mit uns. Ich hab' ein bißchen Geld in meiner Wohnung. Komm mit."
  "Nein! Dein Mann ist in der Wohnung. Irgend ein Mann ist dort."
  Das Messer begann wieder zu drohen.
  "Es ist niemand dort. Ehrlich! Die Wohnung ist leer. Du mußt uns vertrauen. Los, wir gehen alle zusammen."
  "Es ist ein Trick."
  "Nein, es ist kein Trick."
  Gab er nach? Seine Lage war so unhaltbar wie ihre - noch unhaltbarer. Sie hatten einfach kein Geld bei sich, das sie ihm hier auf der Straße geben konnten. Er konnte drohen, wie er wollte, er konnte sie dadurch nicht zwingen, ihm etwas zu geben, was sie nicht hatten. Und wenn er sie verletzte, würde es auch nichts helfen. Er war in einer unmöglichen Lage, und diese schreckliche Ausweglosigkeit steigerte noch seine Verrücktheit und Frustration.
  "Vertrau uns doch!"
  Sie sprach ihn direkt an, von Person zu Person, sah ihm fest in die Augen - ein Mensch dem anderen.
  "Ich wohne gleich um die Ecke. Komm mit in meine Wohnung."
  Er wurde unsicher.
  "Es ist niemand da. Vertrau uns doch! Komm mit!"
  Langsam, das Messer bereithaltend, begann er, sich mit ihnen die dunkle Straße hinunter zu bewegen. Die junge Frau sprach normal und ruhig weiter.
  An der Außentür angekommen, zog er sie näher ans Messer heran.
  "Es ist gleich die Treppe hoch. Es ist niemand da. Vertrau uns nur!"
  In der Vorhalle. Die Treppe hoch. Den Schlüssel ins Schloß. Dann nahm die andere Frau den Platz unter dem Messer ein. Die kleinere ging in die Wohnung und suchte nach ihrem Geldbeutel. Zehn Dollar. Ein Zehn-Dollar-Schein - das war alles, was sie hatte. Sie rannte zurück zur Tür und gab es ihm.
  "Sonst hast du nichts?"
  Ein Gefühl plötzlichen Versinkens. Nach allem, was geschehen war, nach dem Anschein des Vertrauens, der scheinbaren Lösung ihrer Not - wollte er nach all dem noch mehr verlangen? Sie hatte nicht mehr Geld. Die Wohnungstür stand offen hinter ihr.
  "Das ist alles. Das ist wirklich alles."
  "Aber ich brauche doch nur fünf Dollar. Und ich hab' kein Wechselgeld."
  "Nimm es nur! Nimm es! Es stimmt schon."
  "Aber ich brauche doch nur fünf."
  Seine Hände zitterten und seine Stimme bebte.
  "Es ist in Ordnung. Nimm es! Nimm es!"
  Er sah auf den Geldschein hinunter, dann wieder in die Augen der jungen Frau.
  "Tschüß", sagte er. "Tschüß dann."
  Er stolperte die Stufen hinunter und hinaus in die Nacht.
  Die jungen Frauen plumpsten auf das Sofa, jetzt voller Angst, da sie nicht mehr unter Spannung standen.



(Quelle: Dorothy T.Samuel, Safe Passage on City Streets, 1975; mit freundlicher Genehmigung des Agape-Verlages (s.o.17.), S.88ff)

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