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Samstag

Die schweren Taschen

Eine Frau aus den USA erzählt, daß sie nachts unterwegs war, beladen mit zwei schweren Einkaufstaschen. Nach einiger Zeit stellte sie fest, daß ein Mann sie verfolgte und näher kam. Als dieser sehr dicht aufgeschlossen hatte, drehte sie sich um und sagte:
"Ein Glück, daß sie da sind! Können sie mir bitte beim Tragen der Einkaufstaschen helfen? Sie sind so schwer!" Dabei streckte sie ihm die Taschen freundlich einladend entgegen.
Der Mann war überrascht über diese Wendung und tat, was die Frau von ihm bat.
Die Verabschiedung später war freundlich und mit Dank verbunden. Etwas verlegen deutete dabei der Mann an, daß er sich ihr eigentlich in einer ganz anderen Absicht von hinten genähert hatte.


(Quelle: erzählt von Uwe Painke, Tübingen in seiner Arbeit: Selbstbestimmtes Handeln in Situationen personaler Gewalt (Hausarbeit zur Diplom-Vorprüfung) 1992, S.17)

Donnerstag

„Bitte dein Taschentuch“

Eines Tages wurde in der Universität einer der Studenten so wütend darüber, wie die Diskussion verlief, dass er Patrick Lloyd ins Gesicht spuckte. Damals war Pat Tutor. Er hatte die Aufgabe, den Teilnehmern seiner Diskussionsgruppe zu zeigen, wie sie auf Herausforderungen kreativ reagieren könnten. Aber das hatte niemand erwartet! Sein Herz begann zu rasen. Er ballte die Fäuste. Sein irisches Blut schien die Oberhand zu gewinnen, aber nicht für lange.

„Würdest du“, hörte Pat sich zu seiner eigenen Überraschung vollkommen ruhig und in freundlichem Ton sagen, „mir bitte dein Taschentuch leihen?“
Der junge Mann, der Pat ins Gesicht gespuckt hatte, war noch überraschter über die ruhig gesprochenen Worte. Wie im Trance langte er in seine Tasche und reichte Pat sein Taschentuch. Dann wurde er allmählich rot. Er wurde von einem Ohr bis zum anderen rot, so dass Pat in Verwirrung geriet.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Die beiden gingen gemeinsam hinaus

Muriel Lester entschloss sich dazu, für die Unterprivilegierten in Bow einzutreten. Das erste Loch, das sie mietete, war nicht größer als der Raum, in dem Kagawa bei den Slum-Bewohnern in Kobe in Japan lebte, nämlich knapp zwei mal drei Meter. Sie fing erst einmal damit an, sich mit ihren Mitbewohnern bekannt zu machen. Sie wurden niemals unangenehm. Nachdem sie mehr als ein Dutzend Jahre dort gewesen war und Kingsley Hall, das im Gedenken an ihren Bruder eingerichtet worden war, sich seit mehr als drei Jahren als beliebtes Nachbarschaftshaus erwiesen hatte, machte sich eine kräftige und trunksüchtige Frau, wir wollen sie Frau Schmidt nennen, aus einer der dreißig in der Nähe gelegenen Kneipen auf, um „ihr eine Lektion zu erteilen“.

Es war die Zeit der Waffenruhe nach dem Ersten Weltkrieg. Die Gemeinde befand sich noch im Kriegsfieber. Frau Schmidt hatte Ärger mit ihrer Tochter und es kam ihr eines Abends in den verwirrten Sinn, dass Frau Lester ein passender Sündenbock sein könnte.
Ein Nachbar, der die Drohung mit angehört hatte, eilte nach Kingsley Hall, um die dort Anwesenden zu warnen. „Frau Schmidt hat in der ‚Rose and Crown’ alle überredet, mit ihr loszuziehen. Sie kommen aus der Kneipe und wollen dir Vitriol ins Gesicht gießen, meine Liebe. Es wäre besser, ihr würdet die Polizei rufen.“
Aber die Leute in Kingsley Hall wollten das nicht. Frau Lester sagte zu einem oder zwei Clubleitern: „Dies ist eine Prüfung für euch. In ein paar Minuten werden wir angegriffen. Was nützt es zu sagen ‚Dein Arm allein genügt und unsere Verteidigung ist sicher’, wenn es uns nicht ernst damit ist? Wir wollen weiter tanzen, aber sagt es allen leise weiter.“ Das taten sie und sie hatten den Kampfblick, der manchmal die Augen von Pazifisten zum Leuchten bringt.

Bald war es zehn Uhr, also Zeit zum Schließen, aber von der zweifelhaften Frau Schmidt war nichts zu sehen. Die meisten gingen ein wenig enttäuscht, aber vielleicht auch erleichtert nach Hause. Die wenigen, die noch dort geblieben waren, um zu beten und sauberzumachen, sahen, dass plötzlich etwa 20 aufgeregte Frauen und Männer durch eine Seitentür der Halle hereingekommen waren, angeführt von der besagten Frau. Die riesige Frau Schmidt, sie war „wie eine wandelnde Eiche“, ging auf Frau Lester zu. Sie dachte, dass Kingsley Hall für das, was ihrer Tochter zugestoßen war, büßen sollte. Sie begann eine regelrechte Tirade und konnte anscheinend gar nicht wieder damit aufhören. Die Komik ihres Melodramas war offensichtlich, aber die Verteidigung lag ganz und gar im schweigenden Bewusstsein der Gegenwart Gottes.

Schließlich löste sich ein Dockarbeiter aus der kleinen Gruppe um Frau Lester. Er schlich sich zur Seitentür hinaus in den Beetraum. Eine Minute später, als Frau Schmidt noch Atem für einen erneuten Ausbruch schöpfte, rief einer ihrer betrunkenen Begleiter, offensichtlich ohne zu wissen, was er da sagte: „Gott wird ihre Tochter zurückbringen, Frau Schmidt!“
Alle versammelten sich im Kreis, die Männer zogen ehrfürchtig die Mützen und nahmen am Gebet der Gemeinde von Kingsley Hall teil, die betete, dass das Himmelreich in ihren Straßen und Häusern einkehren möge. Alle fielen in das Amen ein.

Dann bot Frau Lester der überraschten Anführerin formvollendet den Arm und wie Braut und Bräutigam gingen beide hinaus. Die Übrigen folgten ihnen freundschaftlich.
Frau Schmidt wurde nüchtern, bevor sie nach Hause gekommen war, und schwor Frau Lester feierlich ewige Freundschaft. Von der Einhaltung dieses Schwurs wich sie niemals ab. Wenn sie später einmal hörte, dass irgendjemand ihre Freundin kritisierte, stand sie klobig auf, stemmte die Hände in die Hüften und verkündete: „Frau Lester ist eine gute Frau. Ich will nix gegen sie hören!“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Unverbesserlich christlich

Am Abend um zehn (dies wurde vor Oktober 1950 geschrieben, als er seine Arbeit als Grubenarbeiter wieder aufgab) nimmt ein teilweise kahler, recht dunkelhäutiger, athletisch aussehender Franzose in einem Overall, einundvierzig Jahre alt, seine Arbeit in einer belgischen Kohlengrube in Quaregnon auf. Er wird täglich außer sonntags acht Stunden unter Tage arbeiten. An den Sonntagen singt, predigt und betet er in seiner Kirche. Er leitet Gesprächsgruppen, ermutigt ehemalige Alkoholiker und lehrt Jugendliche zusammenarbeiten. Sein Zeitplan verlangt fast übermenschliche Kräfte.

Philippe Vernier ist vielleicht nicht von dieser Welt. Aber sicherlich ist er in ihr. Er ist so tief mit ihr verbunden, dass man mit Sicherheit sagen kann: Kaum jemals, wenn überhaupt, hat ein Mensch solche Erfahrungen gemacht und ist aus diesen Prüfungen mit einem reicheren Geist und einem stärkeren Körper hervorgegangen.
Er ist ein Mann, dessen Nest der Himmel ist. Dort liegt seine Sicherheit und nicht auf dem Boden, kuschelig warm zwischen beschützenden Zweigen und Gräsern, umgeben von Distelwolle. Wie Homers Seevogel „freut er sich seiner Schwingen“.

Wozu, so fragt er mit dem heiligen Franziskus, sind die Diener Gottes auf der Erde da, wenn nicht dazu „die Herzen der Menschen zu erheben und sie zur himmlischen Freude einzuladen?“
Das Recht darauf hat er sich verdient. 1933-1935 verbrachte er etwa zwei Jahre in Einzelhaft, weil er einer Methode treu war, die sich vollständig von der des Tötens unterschied. Während er in der Einzelzelle saß, nahm er die Gewohnheit an, seine Meditationen aufzuschreiben. Es bedurfte Jahre später großer Überzeugungskraft, ihn dazu zu bringen, dass er ihrer Veröffentlichung zustimmte. In einer dieser Meditationen stellt er Überlegungen zu zwei Arten von Mut an: „eine, die schlägt, und eine, die erträgt und liebt … Die zweite nimmt an und fängt den Schlag auf, anstatt ihn zurückzugeben.“ Dieser überlegene Mut, mit dessen Hilfe ein Mensch Tag für Tag ohne Zeugen und ohne Lob durchhalten kann, „verwandelt den Sturzbach des eigenen Wesens mit seinen Überschwemmungen und Dürren in einen schiffbaren Fluss“ (zitiert nach: „With the Master“ von Philippe Vernier, Fellowship Press, 21 Audubon St., New York).

Philipps Leben war anscheinend immer so gewesen. Kein französischer Kerker konnte sein Singen zum Schweigen bringen.
Er gestand mir viele Jahre später, dass er während dieses Martyriums „Wunder und Freude erlebt hatte. Gott war mir so nah und so real, dass mich das manchmal fast überwältigt.“ Als er einmal in hochgemuter Stimmung zu singen begann, ärgerte das einen Wächter so sehr, dass er den jungen Mann acht Tage lang an einer besonderen Strafzelle isolierte. Dort gab es weder einen Hocker noch eine Pritsche, nur eine Steinbank. Die Hälfte der Zeit bekam er nur Wasser und Brot. Aber dieses Erlebnis war weit davon entfernt, ihn zu ducken, es half ihm im Gegenteil dazu, sich zu erheben. Diese acht Tage, sagte er (und ich werde niemals vergessen, wie er seine Arme ausbreitete, als er sich daran erinnerte, wie sein Geist befreit wurde) – diese acht Tage waren „ein Lied in der Tiefe meines Herzens. Ich empfand das Glück eines Kindes, das gerettet worden war. Mir war, als ob ich auf einem Meer gewesen wäre, alle wären ertrunken und dann ergriffen mich Gottes Arme und hoben mich in die Höhe!“

Nach der Zeit in Einzelhaft verbrachte er weitere fünf Monate „mit den anderen“ und arbeitete als Friseur. Einer seiner Mithäftlinge war ein junger Schwarzer, der im Gefängnis saß, weil er einem weißen Offizier ins Gesicht geschlagen hatte. Was Verniers Freundlichkeit für diesen bedeutete, wird durch das folgende Ereignis deutlich. Der Schwarze benahm sich eines Tages auffällig gewalttätig. so dass er erwarten konnte, mit besonderer Strenge bestraft zu werden. Er hoffte, dass er in der Nähe seines weißen Freundes eingesperrt würde. Diese Hoffnung erfüllte sich. In dieser Nacht hörte Vernier eine bekannte Stimme auf dem Korridor.
„Wie bist du denn hierher gekommen?“ rief er.
Der andere erklärte seine Strategie. Die beiden in ihren voneinander getrennten Zellen lachten gemeinsam.

Immer wieder erwies sich in dem Prozess, der zu seiner Verurteilung zu einer langen Haftstrafe führte, seine Anziehungskraft und seine Führungsstärke. Der Vater eines Elfjährigen erzählte, wie dieser junge Pastor, als er in Lille mit Benachteiligten arbeitete, seinem Sohn wie ein älterer Bruder gewesen sei. Der Junge starb an Meningitis. Wenn die Schmerzen für ihn unerträglich wurden, fragte er nach Vernier, weil der der Einzige war, der ihn beruhigen konnte. Vernier betrat dann den Krankenraum, ging zu seinem Bett, legte dem Jungen die Hand auf die Stirn und betete. Der Patient schlief dann ein, aber zuvor murmelte er erleichtert, „Danke, Philo, danke!“

Vernier liebt sein Heimatland wie nur wenige – und zwar auf eine Weise, die mit seinem Gewissen übereinstimmt. Es wäre für ihn eine Art Verrat, wenn er Waffen benutzte, um etwas so Kostbares zu verteidigen. Das kann natürlich ein Militärgericht nicht verstehen. Ein Gerichtspräsident, vor dessen Gericht er stand, weil er sich geweigert hatte, eine Militäruniform anzuziehen, argumentierte so: „Sie sprechen von der menschlichen Bruderschaft, aber könnten sie diese nicht besser predigen, wenn Sie nicht im Gefängnis wären?“
Vernier antwortete: „Predigen ist nicht das Einzige. Wenn Sie zugeben, dass es geistige Werte gibt, dann müssen Sie anerkennen, dass man Gott und der Menschheit auch mit rein geistigen Mitteln dienen kann. Dazu gehört auch das Gebet.“
„Aber auch Gebet ist nicht das Einzige“, antwortete der Präsident. „Es gibt auch Worte. Sie als Pastor haben eine Kanzel zur Verfügung, um die Gute Nachricht zu verbreiten.“
„Aber“, sage Vernier höflich, aber bestimmt, „wenn ich mit etwas beginne, das ich als Verrat ansehe, dann haben meine Worte keinen Wert mehr. Ich kann nur sprechen, wenn ich mein Verhalten und meinen Glauben in Übereinstimmung miteinander gebracht habe.“
Der Präsident erwiderte, dass wir Menschen nun einmal „nicht im Absoluten leben“.
„Wenn Christen dem zustimmen“, sagte Vernier, „dann verweigern sie die Grundlagen des Dienstes an Jesus Christus.“

Das war fünf oder sechs Wochen vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Als Europa zum zweiten Mal in Angst und Hass aufflammte, verließ Vernier, obwohl er nun Pastor einer Missionskirche bei den Grubenarbeitern in Belgien in der Nähe von Mons war, seine Freu und sein Kind und meldete sich sofort bei der Militärbehörde in Frankreich, um sich als christlicher Kriegsdienstverweigerer eintragen zu lassen.

Nachdem er vier Monaten im Gefängnis gewesen war, wurde er zu weiteren vier Jahren verurteilt. Aber zuvor legte er vor dem Militärgericht folgendes Zeugnis ab:
„Ich will mit meiner Haltung durchaus weder ein Urteil über irgendeinen von Ihnen noch über die, die kämpfen, ausdrücken. Nicht durch eine Theorie wird einer zum Christen, sondern durch die Integrität des Herzens, und ich weiß, dass viele Offiziere und Soldaten bessere Menschen sind als ich. Ich bin nur ein armer Sünder, voller Fehler und in vielerlei Hinsicht schlechter als sie. Aber ich glaube, dass es an diesem Tag und an diesem Ort meine Pflicht ist, klar und deutlich meine Überzeugung darzustellen. Sie sehen das vielleicht als eine rein intellektuelle Angelegenheit an, dass die Bibel den Krieg nicht heilig sprechen kann und dass es mir unmöglich ist, einen Menschen zu töten … Zu einigen Zeiten gab es in der Geschichte eine Art christlicher Offensive. Da wurden gewisse fest etablierte Theorien bekämpft. Es war z. B. einmal möglich, Christ zu sein und trotzdem Sklaven zu besitzen. Aber eines schönen Tages kämpfte eine christliche Offensive gegen diese Idee und triumphierte über sie. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Christen und die Menschen im Allgemeinen ihre Ansichten über den Krieg nicht ändern, sie zugrunde gehen werden. Ich gründe mich auf christliche Prinzipien….Trotz der Dunkelheit, in der wir uns befinden, trage ich eine sehr große Hoffnung in mir: Ich hoffe auf die Macht Gottes.“

Etwa drei Monate später sprengte eine explodierende Bombe die Tür des Gefängnisses. Vernier machte sich auf den Nachhauseweg. Sein Bruder war bei ihm. Ihre Reise verlief nicht besonders ruhig. Beide wurden zweimal zum Tode verurteilt: das erste Mal von der Landespolizei, die sie in eine Art Turm sperrte. Die Polizisten beschuldigten sie, zur 5. Kolonne zu gehören und schuld an der Niederlage zu sein. Aber da ihr Hauptmann nicht da war, durften sie sie nicht erschießen. Dann kamen die Deutschen und die Polizisten rannten weg. Die Männer im Turm vergaßen sie. Die beiden Brüder hatten vergeblich versucht, die Tür mit deinem Eimergriff aufzubrechen. Aus Verzweiflung waren sie dann eingeschlafen. Am nächsten Morgen kam ein Polizist und öffnete ihnen die Tür. Als er ihre Geschichte und ihre Gründe für die Kriegsdienstverweigerung gehört hatte, sagte er, sie hätten Recht. Dann umarmte er sie und ließ sie gehen.

Das zweite Todesurteil fällten die Deutschen, die sie gefangen nahmen, als sie ihrer Wege gehen wollten. Wieder hatten sie Glück. Auf dem langen Marsch flüsterte ihnen an einer Straßenbiegung ein alter Mann zu: „Lauft nach links, Jungs!“ Unbemerkt schlichen sie sich nach links aus der Reihe, liefen sehr schnell und versteckten sich 24 Stunden lang in einem Heuhaufen. Zwei Tage danach erreichten sie auf Seitenwegen Le Cambon in den Hügeln Frankreichs. Schließlich kehrte Philippe nach Quaregnon in Belgien zurück, wo seine Familie und seine Gemeinde waren.

Seine Frau Henriette war so heldenhaft und humorvoll wie er. Ihr drittes Kind, ein Junge, wurde fast wörtlich zwischen fallenden Bomben geboren – es waren unsere (amerikanische) Bomben. Eins unserer Kirchenmitglieder ging sie ein paar Tage später besuchen. Es war ein Oberst, der unter erheblicher Gefahr zum „Pfarrhaus“ vordrang. Er brachte als Zeichen der Anerkennung durch unsere Kirche Frau Vernier 150.000 $ in Francs. In seinem Brief vom 6. Februar 1945 stellt er seine Eindrücke dar:

„Nicht oft wird einem Menschen während seines Lebens Gelegenheit gegeben, ins Himmelreich eingetreten zu sein. Aber genau das empfand ich, als ich das Haus Vernier verließ … Als ich an die Tür klopfte, erschienen zwei Engel auf der Schwelle. Zwar hatten sie keine Flügel, aber die Kinder mit den strahlenden Augen, die mich begrüßten, gaben mir das Gefühl, dass ich vor der Himmelspforte stand und von zwei Cherubim hereingebeten wurde. Auf meine Frage antworteten Sie: ‚Papa ist nicht zu Hause’, dann gingen sie ihre Mutter holen. Als sie in den Flur trat, erkannte ich an der Güte in ihrem Gesicht, dass ich einer geheiligten Person gegenüberstand. Sie war höchst erfreut über eure Nachricht und die bescheidene Gabe. Vielleicht war es ebenso gut, dass ihr Mann zu diesem Zeitpunkt einen Gottesdienst in seiner Gemeinde abhielt, denn ich stelle ihn mir gerne weiter so vor, wie ihr ihn in eurem Brief beschrieben habt und wie er in den Beschreibungen der Menschen des Stadtteils erscheint – ja, sicherlich wie der heilige Franziskus. … Ich erfuhr, dass das Geld nicht in der Familie Vernier bleiben, sondern dass es dafür verwendet würde, die zu unterstützen, denen die Familie in allen diesen Jahren so aufopfernd gedient hatte. … Ich war neun Stunden in einem Eisenbahnwagen der Armee unterwegs gewesen und schließlich halb erfroren an meinem Bestimmungsort angekommen. Das waren die kältesten Stunden, die ich je erlebt hatte, aber die Wärme des Hauses, das ich betrat, machte mir klar, dass meine Leiden im Vergleich mit all den Leiden, denen diese Menschen in den letzten fünf Jahren unterworfen gewesen waren, keinerlei Bedeutung hatten.“

Nach dem Krieg war als ein Zeichen ihres Glaubens an das Leben Philippe und Henriette ein zweiter Sohn geboren worden. Die Jahre danach waren voller Arbeit, aber es gab keine Verwirrungen mehr. Ein Mitpastor gab einmal die folgende Beschreibung: „Philippe ist der Organisator, Leben und Seele einiger Ferienlager. Er ist ihr Athlet, Koch, Assistent und Pförtner, der unermüdliche Erzähler aufregender Geschichten, Autor von Theaterstücken und Schauspieler. Sie hätten ihn dabei sehen sollen, wie er den Chorgesang von hundert Jungen leitete. Er wiegte mit dem Klang seiner Flöte die Kinder in den Schlaf, bis er selbst einschlief.“

Diese Darstellung scheint zwar übertrieben, aber sie ist dennoch wahr. Nur dass Philippe ständig neue und dringendere Aufgaben übernimmt. Nachdem die deutsche Besetzung vorüber war, schrieb er, er wolle die Erfahrungen seines Lebens dazu verwenden, „einen weiteren Krieg unmöglich zu machen.“ Einige Jahre später schrieb er, dass er Fortschritte in dieser Richtung plante, indem er „versuchte, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jeder immer mehr etwas gibt und empfängt, anders als in einer klerikalen Organisation, in denen der Pastor die spirituellen Aktivitäten monopolisiert … Seit Anfang Oktober arbeite ich als Grubenarbeiter in einer Kohlengrube im Ort. Das tue ich teilweise, um mich besser in dieses Gemeindekonzept einzubringen, und teilweise auch, um in engeren Kontakt mit den Grubenarbeitern zu kommen, unter denen ich seit zehn Jahren lebe. Das gibt mir Gelegenheit zu wunderbaren Kontakten mit meinen neuen Kameraden: Belgiern, Italienern, Deutschen, Polen, Ungarn, Litauern und anderen. … Für gewöhnlich schlafe ich am Morgen und verrichte meine Arbeit für die Kirche nachmittags und abends.“

Niemand kann Philippe Vernier mit einem einzigen Satz zutreffend charakterisieren. Allerdings gelang das fast einem verärgerten Armeeoffizier. Zwar kann sein Freund die Tatsächlichkeit dieser Geschichte nicht beweisen, jedoch ist Vernier zu wahrheitsliebend, um sie zu leugnen. Es war etwa fünfzehn Jahre zuvor. Der Offizier hatte sein Bestes getan, diesen intelligenten, bescheidenen, vitalen, fröhlichen und freundlichen Gefangenen mit dem eisernen Willen dazu zu bringen, sich zu fügen. Die Armee hatte monatelang ohne Erfolg die alten Techniken bei ihm angewendet. Danach sollte dieser Offizier einen Schlussbericht anfertigen. Dahin, wo zu diesem Zweck in dem Formular Platz gelassen war, kritzelte er verzweifelt: „Unverbesserlich christlich.“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Ein Amerikaner wurde nicht mit dem Bajonett aufgespießt

Vielleicht kann ein Tier nicht bereuen. Aber ein menschliches Wesen kann das. Das ist unser einziges Privileg. Und es ist der sicherste Tipp, wenn wir einander nicht von der Erdoberfläche vertilgen wollen. Reue ist keine Reaktion in Worten auf eine aus Worten bestehende Situation. Es ist eine Sache der Umkehr des gesamten Menschen. Die Ergebnisse kann man nicht messen und wägen. Sie können weit führen, wenn jemand auf dem alten Weg, der falsch ist, umkehrt und wenn er alles aufs Spiel setzt, indem er die neue Richtung einschlägt, die die richtige ist. Einer meiner Freunde erzählt, wie ein Mitmensch in einer extremen Situation seine Menschlichkeit behauptete.

Es geschah während des Zweiten Weltkrieges. Mein Freund, ein „Teufelsflieger“, wie die Deutschen die amerikanischen Gefangenen nannten, lief in einer Gruppe amerikanischer Kriegsgefangener mit. Sie trabten verzweifelt in Richtung eines Gefangenenlagers, das, so hatte der deutsche Hauptmann gesagt, fast 30 km entfernt war. Der Hauptmann war von Hass erfüllt. Es hieß, dass seine engsten Angehörigen bei einem Bombenangriff der Amerikaner getötet worden seien. Nun hatte er befohlen, dass jeder Amerikaner, der stolperte und fiel – auch wenn das am zu schnellen Schritt lag - mit dem Bajonett getötet werden sollte.

Mein Freund Jeff wäre fast gefallen, aber ein junger Soldat, der das beobachtet hatte, hielt ihn aufrecht, als der Hauptmann gerade nicht hinsah, und flüsterte ihm ins Ohr: „Not far, not far.“ Ein Amerikaner verlor, nur ein paar Schritte von ihnen entfernt, das Gleichgewicht.
„Erstich den Mann mit dem Bajonett“, schrie der Hauptmann den jungen Soldaten neben Jeff an. Der Soldat, dem das befohlen worden war, ließ sein Gewehr über der Schulter hängen. Hatte er nicht gehört? „Erstich den Mann!“ Diesmal schrie der Hauptmann.

Die Arme des Soldaten und sein fester Wille arbeiteten mit plötzlicher Entschlossenheit. Er konnte frei handeln, gehorchte nicht mehr der Routine von Befehl und Gehorsam. Er handelte aus seinem wahren Inneren, zog das Bajonett aus seinem Gewehr, steckte es in die Scheide am Gürtel, schwieg und bewegte sich nicht mehr. Er sah seinem Hauptmann in die Augen.
Der Hauptmann war so wütend, dass er ihn immer wieder ins Gesicht schlug. Der Soldat stand einfach da. Wahrscheinlich würde er das später mit dem Leben bezahlen.

Es war, als hätte sein Gewissen auf dem Boden vor ihm eine Linie gezogen, die er um nichts in der Welt überschritten hätte. Er würde keinen Schritt weiter in die falsche Richtung gehen. Davor hatte er seinen Willen den Kriegsgewohnheiten unterworfen. Das hatte er nun hinter sich. Er würde sich nicht mehr drängen lassen. Er war ein Mann und seine Integrität war entschieden. Vielleicht sind ihm die Worte nicht eingefallen, aber er drückte die Bedeutung, die hinter den Worten steht, in seinem Handeln aus: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28).

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

„Lieber will ich sterben“

Im Oktober 1948 wurde in Sunchon, Südkorea, während eines Aufstandes der Kommunisten Dong-In in seinem Zimmer überfallen. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und Vorsitzender der „Y“ im dortigen College. Wegen dieses Postens wurde er von den Kommunisten geschlagen. Dann brachten sie ihn in eine Polizeistation, damit er dort erschossen würde. Sein neunzehn Jahre alter Bruder Dong-Schin, der auch misshandelt worden war, ging freiwillig mit.

Als Dong-In an die Reihe kam, schrie ihn ein Studienkamerad, der die Kommunisten anführte an, er solle seinem Glauben abschwören. „Wenn du das tust“, sagte er, „kannst du gehen.“
Aber Dong-In wollte lieber sterben. „Ich kann eher mein Leben als meine Religion aufgeben“, sagte er. Dann hörte er, wie sein jüngerer Bruder die Kommunisten darum bat, dass sie ihn statt Dong-In erschießen mögen. Da bat er sie, den Jungen nach Hause zu schicken. Bevor er niedergeschlagen wurde, betete er: „Nimm meine Seele auf und vergib mir meine Sünden.“

Das rettete aber Dong-Schin nicht. Der kommunistische Anführer war wütend darüber, wie er sich weiterhin zu seinem Glauben bekannte, und schrie: „Dieser Kerl ist ja noch schlimmer als sein Bruder!“
Bevor er neben seinem Bruder zu Boden fiel, hörte man Dong-Schin Gott für die, die ihn töteten, um Vergebung bitten.

Diese Einzelheiten können nicht verifiziert werden, aber ein mit dem Vater befreundeter Lehrer, der ein paar Tage später die Szene betrat, hat die Vorgänge rekonstruiert. Er hatte sich als Bettler verkleidet und war durch die Linien geschlichen, um herauszufinden, ob das Gerücht über die Hinrichtung der beiden auf Tatsachen beruhte. In der Nähe der Polizeistation fand er die Leichen der beiden Söhne zwischen anderen Leichnamen, begrub sie und kehrte mit der traurigen Nachricht zum Vater zurück. Dieser war unter dem Namen Pastor Sohn bekannt. Zur Zeit der Ereignisse leitete er einige Kilometer entfernt eine Schule für Leprakranke. Als er davon hörte, galt seine erste Sorge dem Kommunisten, der seine Söhne ermordet hatte.

Er würde den jungen Mann in seine Familie aufnehmen und er würde versuchen, aus ihm einen Christen zu machen. Er sollte Dong-Ins Platz einnehmen. Inzwischen war die Revolte zusammengebrochen, so dass nun das Leben des Jungen in Gefahr war. Deshalb schickte Pastor Sohn eine eilige Botschaft an seinen guten Freund Pastor Ra, der in Sunchon der Kirche diente, er möge zum Befehlshaber der Regierungstruppen gehen und ihn bitten, das Leben des Mörders zu schonen.
Pastor Ra sah sich unter den gefangenen Aufrührern um und fand schließlich, gerade noch rechtzeitig, den jungen Mann. Das Erschießungskommando wollte schon in Aktion treten. Es wurde von Studienfreunden der beiden Ermordeten dazu gedrängt, die „Gerechtigkeit“ forderten. Pastor Ra erklärte dem Anführer, dass er den Vater vertrat. „Pastor Sohn“, sagte er, „will nicht, dass dieser Gefangene getötet oder auch nur geschlagen werde. Er bittet sie, dass sie ihm die persönliche Verantwortung für ihn überlassen. Er will ihn an Kindes Statt annehmen und ihn zu einem christlichen Führer erziehen.“
Aber das sei übermenschlich, wandte der Offizier ein. Kein Vater könne zulassen, dass irgendjemand seinem Sohn ins Gesicht schlage!
„Dieser Vater kann das“, antwortete Pastor Ra.
Der junge Mann wurde nach Hause geschickt. Als Pastor Sohn ihn einige Tage später zur Rede stellte, gab er seine Schuld offen zu und bereute seine Tat aufrichtig.

„Ich vergebe dir“, sagte Pastor Sohn freundlich, „wie mir mein himmlischer Vater vergibt.“
Der Vater des Jungen bot Pastor Sohn seine vier Söhne an, um zu zeigen, wie er empfand. Aber Pastor Sohns Herz umschloss nur den einen. Seine Hoffnung sei, sagte er ohne Umschweife, dass der Junge zum Christen werde, das Werk seiner beiden eigenen Söhne fortsetze und auf diese Weise Gottes Willen erfülle. Aber der andere Vater ließ sich nicht abweisen. „Sie haben eine Tochter, die dieselbe Schule besucht wie eine meiner Töchter“, sagte er. „erlauben Sie, dass sie in unserem Hause lebt. Sie wird uns dabei helfen, das Christentum zu verstehen. Außerdem werden Sie, wenn ihre Tochter bei uns lebt, öfter zu uns kommen und mich unterweisen.“

Dong-Hi gefiel das zunächst durchaus nicht, dann aber wurde sie darauf hingewiesen, dass das ihre Gelegenheit war, Zeugnis für das abzulegen, wofür ihre Brüder hatten sterben wollen.
In Zeiten von Guerillakämpfen ist es schwierig, zuverlässige Informationen zu bekommen. Die Geschichte, wie ich sie bis hierher erzählt habe, wurde von Frau Geraldine Fitch weitergegeben, die sie aus einer koreanischen Broschüre ins Englische übersetzte. Für das Folgende verbürgt sich Alvin Bro, der im Außenministerium arbeitet. Am 4. April 1950 schrieb er begeistert aus Korea über eine Gemeinschaft, die weithin als Atomic Love (atomare Liebe) bekannt wurde. „In den letzten sechs Monaten“, so berichtet er, „veränderte sich das Leben vieler Menschen dort von Grund auf.“
Der Motor dieser verändernden Kraft, fügte er hinzu, sei ein koreanischer Pastor mit Namen Sohn, der einen großen Teil seines Lebens den Leprakranken in einer Inselkolonie in der Nähe von Sunchon gewidmet habe. Alvin Bro fasste das, worüber hier schon berichtet wurde, kurz zusammen und sagte, dass der Kommunist, der die beiden Studenten getötet hatte, als Sohn im Hause des Pastors lebte. Aber das war nicht alles. Die Tochter des Pastors hatte ihre eigene Familie verlassen, um bei der Familie des Mörders „als Tochter“ zu leben. Nach einigen Monaten wurde Pastor Sohns Dorf von den Kommunisten angegriffen. Als sie näher kamen, baten ihn wohl Freunde, das Dorf zu verlassen. Es muss eine schwere Entscheidung für den Leiter des Dorfes der Atomic Love gewesen sein: Korea würde Menschen wie ihn dringend brauchen. Aber was würde mit denen geschehen, die nicht fort konnten?

Pastor Sohn entschloss sich offenbar dazu, bei den leidenden Menschen zu bleiben. Er tat das und wurde erschossen. Man sagt, dass damals, als er durch den befreundeten Pastor erfolgreich für das Leben des Mörders seiner beiden Söhne, der schon vor dem Erschießungskommando stand, eingetreten war, ein Mitglied des Kommandos so tief vom vergebenden Geist des Pastors erschüttert war, dass er den Kolben seines Gewehrs auf den Boden stieß und ausrief: „Ist Jesus so gut? Dann will ich von nun an Christ sein.“
Wie dem auch sei, jedenfalls können wir sicher sein, dass diese Art Energie, die von der Familie Sohn freigesetzt wurde, immer noch eine „radioaktive“ Kraft in Südkorea ist. Und, wer weiß, vielleicht auch im Norden, wo der Totalitarismus sich immer noch behauptet.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
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Allan A. Hunter
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Der Mann, der den dritten Weltkrieg verhinderte

Vergessener Held
Der Mann, der den dritten Weltkrieg verhinderte

Atomraketen im Anflug: Im September 1983 erlebte Stanislaw Petrow den Alptraum. Die sowjetische Frühwarnzentrale meldete den Start amerikanischer Raketen. Die Apokalypse? Oder nur ein Fehlalarm? Dem Oberst blieben Minuten, um die wohl wichtigste Entscheidung des 20. Jahrhunderts zu treffen.

Vergessener Held: Der Mann, der den dritten Weltkrieg verhinderte


"Der Himmel", sagt Stanislaw Petrow, 70, Sohn eines sowjetischen Kampfpiloten, Oberst a.D. der Luftabwehrstreitkräfte, ein Weltenretter im Ruhestand, "der Himmel hält immer Überraschungen bereit." So wie damals, als der Himmel ihn zu täuschen versuchte, aber Petrow ihm auf die Schliche kam. Er hat sich nicht blenden lassen.

Es war 1983, der Kalte Krieg steuerte gerade auf seinen Höhepunkt zu. Die Sowjets hatten seit Mitte der siebziger Jahre mehr als 400 Raketen des Typs SS-20 "Saber" in Dienst gestellt, Spitzname: "Schrecken Europas". Zwei Drittel der modernen Raketen waren auf Westeuropa ausgerichtet, auf Ziele wie London, Paris, Bonn. Jede Rakete verfügte über eine Sprengkraft von bis zu einer Megatonne, 50-mal mehr als die 1945 über dem japanischen Nagasaki abgeworfene Atombombe "Fat Man".

Im Frühjahr 1983 berechneten Ärzte aus Ulm die Folgen eines Angriffs mit einer sowjetischen SS-20 auf ihre Stadt. Ihr Ergebnis: Im Bruchteil einer Sekunde würde über Ulm ein Feuerball von mehreren Hundert Metern Durchmesser entstehen. Die Innenstadt würde ausradiert, an der Stelle des gotischen Münsters ein Krater klaffen. Selbst im Umkreis von vier Kilometern Entfernung um die City würden Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen. Die Bilanz einer einzigen Bombe: 123.000 Tote, 80.000 Schwerverletzte.

Moskau rechnete jederzeit mit einem Atomangriff 

Der Westen reagierte auf die SS-20-Bedrohung seinerseits mit Aufrüstung - und ließ in Europa Pershing-II-Raketen aufstellen: In Washington führte seit 1981 Ronald Reagan das Zepter, der 40. Präsident der USA wollte die Sowjetunion - das "Reich des Bösen" - in einem Wettrüsten in die Knie zwingen.

Die Stimmung war aufgeheizt, Moskau rechnete jederzeit mit einem Überraschungsangriff der USA, Sowjetführer Juri Andropow war überzeugt, Amerika plane den Erstschlag. Noch als Chef des sowjetischen Geheimdiensts hatte er deswegen Operation "RJAN" gestartet: Mitarbeiter der KGB-Residenturen spähten seit 1981 rund um die Uhr Regierungseinrichtungen in den Hauptstädten des Westens aus. Überstunden hochrangiger Beamter und nachts hell erleuchtete Bürofenster galten ebenso als Alarmzeichen wie ein erhöhtes Briefaufkommen bei der Post und massenhafte Einlagerung von Lebensmitteln. Es hätten Vorbereitungen für einen Angriff sein können.

Wo Oberst Petrow arbeitete - davon hatte seine Familie keine Ahnung. Frau Raissa und die beiden Kinder stellten nie Fragen. Am 25. September 1983 verabschiedeten sie Petrow, um 20 Uhr begann seine Schicht in Serpuchow-15. Der Ort, rund 90 Kilometer südlich von Moskau, war auf keiner frei erhältlichen Landkarte verzeichnet, eine geschlossene Stadt, errichtet um einen Stützpunkt der Streitkräfte der Luftverteidigung. Hier befand sich die Zentrale des satellitengestützen Raketenwarnsystems "Oko", hier diente Oberst Petrow.

Der Feind soll früher sterben - das ist die Logik des Kalten Krieges 

Obschon vom Rang Offizier, war Petrow selbst Zivilist, ein studierter Ingenieur. "Die Welt kann froh sein, dass ich in dieser Nacht das Kommando geführt habe - und kein dumpfer Militär", sagt Petrow heute. Vielleicht hätte ein Militär anders entschieden, streng nach Vorschrift, vermutlich falsch. Petrow dagegen vertraute seinem Gefühl.

Der Nutzen von Frühwarnsystemen wie "Oko" war damals begrenzt. Dessen Satelliten können einen bevorstehenden Nuklearschlag zwar rund zehn Minuten früher melden als die klassische Radarüberwachung, doch ihn verhindern, die Raketen abfangen, das konnte "Oko" nicht. Immerhin konnte man den vernichtenden Gegenschlag früher starten, als wenn man sich nur auf Radarüberwachung stützt, Dutzende Millionen Menschen auf der Seite des Feindes stürben dann wenige Minuten früher. In der Logik des Kalten Krieges ist das ein Fortschritt. 

Nachdem die Amerikaner als erste ein eigenes Frühwarnsystem in Betrieb genommen hatten, arbeiteten die Sowjets fieberhaft daran, den Rückstand wettzumachen. Ab 1972 wuchsen in Serpuchow-15 die Antennen von "Oko" in die Höhe, Petrow war von Anfang an dabei. Die Computerprogramme stammten von ihm, und auch das Handbuch zur Bedienung des neuen Systems. Für Petrow war es der Job, den er sich stets erträumt hatte. "Ich war so glücklich, als ich erfuhr, dass ich mit dem Kosmos zu tun haben würde." 

Sirenen künden vom Beginn der Apokalypse 

Doch an jenem 26. September verwandelte sich der Traum in einen Alptraum. Kurz vor Mitternacht jaulten die Sirenen, auf dem 30 Meter messenden Bildschirm vor Petrow leuchteten rote Buchstaben auf: START. Das System hatte den Abschuss einer Atomrakete von einer US-Basis registriert. Spionagesatellit Kosmos 1382, seit einem Jahr im All, meldete den Beginn der Apokalypse. 25 Minuten blieben bis zum Einschlag, irgendwo in Russland.

Im Kontrollzentrum Serpuchow-15 richteten sich die Augenpaare von 200 Mitarbeitern auf Oberst Petrow.

Dass ein Atomschlag stattfinden würde, schien damals nicht nur möglich, sondern sogar höchst wahrscheinlich. Russische Spione hatten kurz zuvor von einem geplanten Großmanöver der Nato erfahren. "Able Archer 83" sollte Ende November starten - und einen Atomkrieg simulieren. Den nervösen Machthabern in Moskau galt dies als Beweis westlicher Angriffsvorhaben. 

Wie nervös die Finger am Abzug waren, zeigte der Abschuss eines südkoreanisches Passagierjets Anfang September. Wohl versehentlich war Korean Airlines Flug 007 in russischen Luftraum eingedrungen. Moskau fackelte nicht lang und gab den Kampfpiloten den Angriffsbefehl, 269 Menschen starben.

Falscher Alarm oder totale Vernichtung?
Petrow jedoch bewahrte Ruhe. Er erhob sich von seinem Pult. Jeder seiner Untergebenen sollte ihn sehen. Er konnte jetzt keine Panik gebrauchen, er brüllte: "Hinsetzen! Weiterarbeiten!"

Petrow dachte in diesem Moment weder an die Millionen möglicher Opfer eines Nuklearkonflikts noch an seine Familie, er dachte an Teelöffel: Niemand löffelt einen Wassereimer langsam mit einem Teelöffel aus, sagte er sich leise, niemals würden die USA einzelne Raketen auf die UdSSR feuern. Ein nuklearer Angriff würde mit der Vernichtungskraft von Hunderten Raketen gleichzeitig erfolgen, so hatte er es gelernt. "Nur: Sicher war ich mir in dem Moment natürlich nicht", erinnert sich Petrow.

Dann rief er seinen Vorgesetzten an. "Es ist ein falscher Alarm", rapportierte Petrow. Die Leitung knisterte. "Verstanden." Als Petrow auflegte, jaulten die Sirenen erneut: Kosmos 1382 meldete den zweiten Raketenstart und wenig später den Anflug drei weiterer Raketen. Die Systeme in Serpuchow-15 liefen einwandfrei, sie melden keine Fehler. Petrow misstraute den Riesenrechnern, die in 16 Schränken leise schnurrten, dennoch: "Wir sind klüger als die Computer. Wir haben sie geschaffen."

750 Millionen Tote, 340 Millionen Verletzte - die Bilanz eines Atomkriegs 

Niemals war die Welt der atomaren Vernichtung näher als in dieser Nacht, sagt Bruce Blair, US-Abrüstungsexperte und heute Chef des World Security Institute. "Die oberste sowjetische Führung hätte, wenn sie über einen Angriff informiert worden wäre und da sie binnen Minuten einen Entschluss fällen musste, die Entscheidung für einen Vergeltungsangriff getroffen." Andropow, der damals bereits vom Krankenbett aus regierte, hätte wohl den "roten Knopf" gedrückt - und damit einen tatsächlichen Nuklearschlag der Amerikaner provoziert.


Der SPIEGEL berichtete 1983, was ein Atomkrieg für die Welt bedeuten würde: Rund 5000 Sprengköpfe würden über dichtbesiedelten Gebieten in Nordamerika, Europa und Asien niederregnen, 1124 Städte, praktisch alle Zentren mit mehr als 100.000 Einwohnern, würden ausgelöscht. Der Cambridge-Mediziner Hugh Middleton rechnete weltweit mit 750 Millionen Toten und 340 Millionen Verwundeten.
Doch dank Stanislaw Petrow kam es nicht dazu. Nach wenigen Minuten bestätigen die Radarsysteme seine Einschätzung. Es war ein Fehlalarm. Vermutlich täuschte ein von einer seltenen Wolkenformation reflektierter Sonnenstrahl das sowjetische Warnsystem, Satellit Kosmos 1382 deutete den Lichtblitz als Start einer Rakete.
Tadel von der eigenen Führung, Ehrung vom Klassenfeind
Oberst Petrow hat seiner Frau Raissa nie erzählt von jener Nacht und den fünf Raketenphantomen, der Vorfall unterlag der Geheimhaltung. Erst 1998 enthüllte ihn Generaloberst Juri Wotinzew, damals Petrows Vorgesetzter, in einem Interview. Raissa aber starb schon 1997 an Krebs.
Petrow wohnt jetzt in Frjasino, einem Vorort von Moskau. Er lebt zurückgezogen, einsam. Der alte Oberst hat einen Fetzen Firmament an die speckige Küchenwand gepinnt, er klebt gleich neben der alten Marienikone, eine Karte des Sternenhimmels. "Etwas ergreift mich noch immer", sagt Petrow, schlohweißes Haar, buschige Brauen, "wenn ich in den Kosmos schaue."
Petrow bekam damals für seine Heldentat keine Orden, sondern einen Tadel - weil er vergaß, seine Beobachtungen im Dienstbuch festzuhalten, während die Alarmsirenen schrillten. Die Ehrungen folgen erst später - vom einstigen Klassenfeind. Nach dem Bekanntwerden des Zwischenfalls sandten dankbare Westeuropäer und US-Bürger Fanpost ins Städtchen Frjasino. Eine Britin schickte ein Pfund Kaffee, ein Amerikaner einen Englischkurs - und Hollywoodstar Kevin Costner 500 Dollar. Petrow reiste nach New York, erhielt dort den "World Citizens Award".

"Der Mann, der die Welt rettete" nannten ihn die Zeitungen aus Übersee, und "Stan the Man". "Glauben Sie mir", sagt Petrow, "ich bin kein Held. Ich habe nur meine Arbeit getan." So sieht er es. Alle anderen wissen: Er hat die Menschheit vor einem nuklearen Inferno bewahrt.
© Christian O. Bruch/ laif
Benjamin Bidder/ SPIEGEL ONLINE
Mittwoch, 21.04.2010   18:14 Uhr

Neunjähriges Mädchen stoppte rassistische Gewalt in der U-Bahn

„In der U-Bahn in Essen ereignete sich dieser Vorfall. Es war vor zwei oder drei Jahren Mitte August in der Nähe der Haltestelle Viehofer Platz an einem Nachmittag gegen 17 Uhr: Die Bahn war recht voll. Zwei Kerle, 19 bis 20 Jahre alt, waren drauf und dran, einen Afrikaner zusammenzuschlagen. Dies ist im ersten Abteil geschehen. Ich saß im zweiten Abteil ziemlich am Ende. Als ich das sah, wurde ich ängstlich. Keiner hat etwas unternommen. Nur ein kleines Kind, ein Mädchen (8 bis 9 Jahre), stellte sich dazwischen. Ich sah das Mädchen von der Seite. Es sagte nichts. Als ich das Mädchen sah, wie es sich dazwischen stellte, habe ich einen leichten Stolz empfunden, dass es noch solche Leute gibt, die sich noch um ihre Mitmenschen kümmern können oder wollen. Die Typen haben doof geguckt und - das konnte ich an den Gesten der Typen erkennen - sie wollten es zur Seite schieben; aber sie packten das Mädchen nicht an. Als dann immer mehr, etwa fünf Leute sich ebenfalls dazwischen stellten, sind die Typen an der nächsten Haltestelle ausgestiegen. Als sie draußen waren, war ich sehr erleichtert, dass sie weg waren. Der Afrikaner war auch sichtlich erleichtert und hat sich bei dem Mädchen und den Leuten bedankt.

Zuerst, da sie alleine dazwischen trat, habe ich gedacht, das Mädchen muss verrückt sein, denn die zwei Typen waren recht groß und kräftig im Vergleich zu diesem Mädchen. Ich staunte über den Mut und über den Erfolg des Mädchens. Ich denke, eine Frau im selben Alter wär garantiert durch die Gegend geschubst worden. Wenn es eine alte Frau oder ein junges Kind ist, hat man immer noch mehr Respekt als vor Gleichaltrigen. Die hatten nicht gewagt, das Mädchen zu schlagen. Wenn ich näher an dem Ort gesessen hätte, wäre ich auch mit den anderen dazwischen gegangen.“

Alexander Behler, ein 19-jähriger Berufsschüler, erlebte dieses gütekräftige Auftreten und schrieb es auf die Bitte von Martin Arnold hin am 20. Juni 2001 im Religionsunterricht auf. Die Angaben über seine Gefühle und Gedanken (kursiv) fügte er auf Nachfragen hin dazu. Er ist mit der Veröffentlichung einverstanden.

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Wir alle haben die Gütekraft erlebt. Gütekraft-Erlebnisse (wie dieses) sind wichtig. Merken wir sie uns, erzählen wir sie uns gegenseitig und reden darüber, wie Gewalt überwunden werden kann. Martin Arnold sammelt für die Erforschung der Gütekraft Erlebnisberichte und bittet um Kontaktaufnahme:

Martin Arnold
E-Mail: Martin.Arnold((ätt))ekir.de

Eine alte Frau rettet einen jungen Chinesen, ein Gütekraftbericht

"Vor drei Jahren wollten fünf Ausländer auf dem Fronhauser Markt in Essen einen kleinen Chinesen oder Koreaner hauen. Ich saß im Bus und konnte es beobachten. Die fünf haben ihn geschubst, angespuckt und geohrfeigt. Bis eine alte Frau kam und sich dazwischen gestellt hat. Sie fuchtelte, als sie hinzukam, mit ihrem Regenschirm. Sie fing an, mit ihrem Regenschirm zu hauen und die fünf Ausländer versuchten sich zu schützen mit den Armen am Kopf. Sie rief etwas, was ich nicht verstehen konnte. Da haben die fünf ganz doof geguckt und sind abgehauen.
Ich fühlte mit dem Chinesen (oder Koreaner) mit, dass es einfach feige und respektlos ist, mit fünf auf einen. Ich habe mich gewundert, dass eine Alte Frau dem Chinesen (Koreaner) geholfen und die fünf Ausländer verscheucht hatte."

Džavid Karalic (Berufsschüler in Essen, aufgeschrieben am 20.6.01, mit Veröffentlichung einverstanden)

Wie Gewalt abgewendet wurde, drei kurze Gütekraftberichte

Erlebnissberichte von Schülern einer Berufsschule in Nordrhein-Westfalen:

"Ein Freund von mir hatte Stress mit einem Libanesen in einer Disko und er war  kurz vor einer Schlägerei. Bevor jedoch dieser Freund eine sinnlose Prügelei anfangen konnte, ging ich dazwischen, schuppte beide weg und sorgte dafür, dass sie an diesem Abend nicht mehr auf einander trafen. Ich bin dazwischen gegangen, da ich meinen Freund genau einschätzen kann, und wenn er gesoffen hat, hätte die Situation böse ausgehen können." (KT)

"Zwei Freunde hatten Streit, ich weiß auch nicht wieso. Später hat sich das dann so hochgeschaukelt, dass sie sich schlagen wollten. Es war bei mir zu Hause, ich hab dann einen rausgeworfen und mit dem andern gesprochen. Am nächsten Tag sind wir dann zusammen zu dem andern gegangen und haben es geklärt." (EK)

"Es kam schon mal einer an und sagte zu mir ohne Grund Hurensohn. Normalerweise reagiere ich nicht gerade freundlich darauf zumindest beleidige ich ihn zurück, aber ich sagte nur „Halt die Fresse!“ und bin weiter gegangen! Hätte ich ihn beleidigt, hätte es vielleicht zu einer Prügelei kommen können, aber ich bin einfach weiter gegangen und habe ihn ignoriert! Ich war zu der Zeit ungefähr 14 und er war ungefähr 16. Es gab auch Zuschauer, aber die haben nichts gesagt oder gemacht." (TE)

Wie kann Gewalt abgewendet werden? Sich beherrschen und ruhig bleiben. Aus dem Weg gehen und nicht hinhören. Oder freundlich reden und sprechen. Einige Male verwarnen. Viele andere Dinge sind möglich.