Donnerstag

Der gefährlichste Ort

Ned Richards war 1917 ein kräftiger junger Mann. Er verabscheute den Gedanken, dass seine Klassenkameraden bei dem Massenmord an der Front Kopf und Kragen riskierten, während er als Quäker, der als Kriegsdienstverweigerer anerkannt war, relativ sicher war. Deshalb wandte er sich mit der Frage an einen Freund, der die Weltlage kannte: „Wo ist der gefährlichste Ort, abgesehen von den Schützengräben, an den ich gehen könnte? Ich will als Zivilist etwas Konstruktives tun und nicht in der Armee dienen. Ich will es mir nicht leicht machen.“
Die Antwort war: „In Westpersien wirst du die gewünschte Gefahr finden: Cholera, Ruhr, Typhus, Pocken und das Allerschlimmste, die kriegerischen rücksichtslosen Kurden, die oft aufs Geratewohl schießen.“

Ned Richards ging also nach Persien. Dort heiratete er die Tochter eines Missionars, die so ziemlich ebenso empfand wie er. Er war dazu entschlossen, ein wissenschaftliches Experiment durchzuführen und Persien sollte sein Labor werden. Die Frage war: Wenn einer weder lügt noch hasst noch tötet, kann er dann trotzdem in einer Krise etwas bewirken, wenn er auf den Willen Gottes vertraut?
Die Hypothese, deren Funktionieren er beobachten und dann in eigenen Erfahrungen erproben wollte – das sind seine eigenen Worte –, kann man etwa so formulieren: „Die Macht der Liebe ist stärker als die Macht des Hasses. Um das Böse zu überwinden – es wirklich zu überwinden – kann eine Macht, und nur diese eine, gebraucht werden: Die Macht der Liebe. Das Böse kann man einzig und allein mit dem Guten überwinden. Deshalb muss ich bereit sein, etwas wenigstens ebenso Unangenehmes und Gefährliches zu tun wie die, die ihr Leben in den Schützengräben an der Front aufs Spiel setzen. Aber mein Ziel muss sein, das Leben von Menschen zu erhalten und Versöhnung und Wohlwollen zwischen feindlichen Parteien zu bewirken. Ich darf dabei nur Methoden anwenden, deren Anwendung alle Beteiligten aufrichtet und hilfreich und wohltuend für sie ist. Ich muss bereit sein, mich töten zu lassen, und dennoch jeden Menschen zu lieben und ihm zu helfen, zu lieben: auch die Deutschen, die Türken und alle anderen Menschen. Dieses Programm des Einsatzes ausschließlich guter Mittel kann nur zu guten Ergebnissen führen. Ich brauche nichts weiter zu tun, als am Einsatz guter Mittel festzuhalten. Ich muss mich weigern, böse Mittel einzusetzen.“

Freunde, denen er seine Einstellung erklärte, reagierten mit den damals wie heute üblichen Fragen: „Aber was würdest du tun, wenn du mit Frauen und Kindern in einem Haus wärest und ein paar wilde Türken oder Kurden aus den Bergen würden plötzlich hereinbrechen? Würdest du ihnen einfach ihren Willen lassen? Würdest du dabeistehen und Däumchen drehen oder würdest du wie ein Mann kämpfen? Nehmen wir mal an, du würdest wie ein Mann kämpfen. Könntest du nicht auf diese Weise am besten deine christliche Liebe zeigen? Wenn du die Türken oder Kurden töten würdest, dann würdest du sie davon abhalten, den Frauen und Kindern Leid anzutun, und damit würdest du sie davor bewahren, ihrer eigenen Seele Schaden zuzufügen – meinst du nicht?“
Richards stimmte in einem Punkt zu: Er dürfe kein Feigling sein. Aber es musste einen besseren Weg geben. Wenn irgend möglich, würde er ihn finden. Sein Grundvertrauen bestand darin, dass die wirksamste Weise, die zu verteidigen, für die er verantwortlich war, darin bestand, die richtigen Mittel einzusetzen.

Auf dieser Grundlage konnte er sich darauf verlassen, dass ihm die Kraft und die Weisheit Gottes in dem Augenblick zuteil würden, wenn er sie am meisten brauchte. Selbst wenn die, für die er sterben würde, um sie zu schützen, im Verlauf der Handlung auf brutale Weise getötet würden, wäre ihr Tod nicht umsonst gewesen. Wenn man die Bitte „Dein Reich komme“ aufrichtig ausspreche, würde das mehr bewirken, als wenn man noch so viel um sich schießen würde. Tod und Leben lägen nicht in seinen Händen, sagte Richards. Er könne Gott einzig und allein anbieten, sich in Übereinstimmung mit seinem Gewissen aufrichtig zu bemühen. Und das tat er. Deshalb schiffte er sich in der Erwartung nach Persien ein, dass er niemals nach Hause zurückkehren werde.
Wenige Wochen später sorgte Richards für 500 Waisenkinder. Er organisierte die Arbeit von Flüchtlingen, so dass sie Wolle spinnen und Kleidungsstücke weben konnten. Er reinigte die Straßen von Urumiah. Er begrub die Leichen wieder, die Hunde auf den Friedhöfen ausgegraben hatten. Er benutzte Autos, Karren, Esel und Maultiere.

Er lernte ein wenig die Landessprache und bereitete sich auf sein Experiment vor. Aber es geschah nichts. Er wartete. Monate vergingen. Dann waren eines Tages Hufschläge vor dem Tor des Gebäudes zu hören. Kurz darauf wurde mit Gewehrkolben an die Tür gehämmert. Richards öffnete. Die wütenden Gesichter marodierender Stammesangehöriger starrten ihm entgegen. Endlich waren die Kurden da!
„Puhl! Puhl (Geld, Geld)!“ schrieen sie.
„In Ordnung“, sagte Richards, „wir werden etwas suchen.“
Eine Schublade wurde herausgezogen. Dort lag eine kleine Geldtasche mit Münzen. Die Kurden bedienten sich. Richards führte sie zu dem russischen Safe, einem großen Eisenkasten, der einige tausend Dollar für die Hilfsarbeiten enthielt. Aber er hatte keinen Schlüssel. Sollte das sein Ende sein? Nein. Vielleicht könnten sie das Schloss mit einem Schuss sprengen. Er legte einen Finger auf das Schlüsselloch, zeigte damit einem Kurden, wohin er zielen sollte und zog schnell die Hand weg. Es gab einen großen Knall, aber der Safe gab keinen Cent heraus.

Als er die Kurden hereingelassen hatte, bekannte er später, hatte er eine Angst wie nie zuvor in seinem Leben empfunden. Aber dies hier war schlimmer. Es war, als hätte seine Seele den Boden verloren. Er war zu Tode erschreckt. Dann betete er wortlos das Verzweiflungsgebet: „Gott, ich brauche deine Hilfe!“ Plötzlich war seine Angst verschwunden.
Einer der Kurden schlug ihm äußerst stark auf die Schulter. Er drehte sich um und sah den Mann an, als wolle er ausdrücken: „Was soll das? Kannst du nicht sehen, dass ich kooperiere?“ Der Mann senkte das Gewehr.

Ein Kurde schoss in den zweiten Safe. Auch er öffnete sich nicht. Eine wütende Stimme verlangte den Schlüssel. Richards drehte sich um. Ein anderer Kurde zielte auf ihn, den Finger am Abzug. Es war ihm offensichtlich ernst. Auch Richards war es ernst. Er sah ihm mit der ganzen spirituellen Kraft, die er aufbringen konnte, gerade ins Gesicht und sagte die Wahrheit: Er tat wirklich sein Möglichstes, um den Kurden behilflich zu sein. Kein Schuss fiel. Er empfand jetzt den Mut der „Furcht, die gebetet hat“ und wahrscheinlich fühlten die Kurden das.
Der Mann, der gerade auf Richards gezielt hatte, zog ihm einen Schuh aus. Richards blickte auf die Füße des Kurden. Sie steckten in Sandalen aus ungegerbtem Leder. Richards zog den anderen Schuh selbst aus und gab ihn dem Mann.
Dann gingen die Kurden in den Raum, in dem die Frauen und Dr. Dodd waren. Andere Plünderer machten sich dort zu schaffen. Einer hatte sich schon bedrohlich Frau Richards genähert.
„Ring“, forderte der Mann und hielt das Gewehr auf sie gerichtet.
„Nehmen Sie das Ding weg!“ sagte sie und griff nach der Mündung. Der Kurde tat, was sie ihm gesagt hatte. Einer der Männer sprach davon, dass er sie mit in die Berge nehmen würde. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den Schmuck einer anderen.

Frau Richards hatte sich gedacht, dass es gut wäre, wenn keine Waffen zu sehen wären und deshalb ein Gewehr im oberen Stockwerk versteckt. Dr. Dodd war noch schwach von einer Krankheit, aber er hätte trotzdem vielleicht geschossen, wenn er ein Gewehr gehabt hätte.
Die Kurden nahmen noch mehr Schuhe, einen Verbandskasten und zwei oder drei Mäntel mit und verließen bald darauf das Haus, ohne nennenswerten Schaden angerichtet zu haben.
Richards hatte seine Hypothese erprobt. Sie bestand darin: Du musst weder ein Feigling sein noch musst du deinen Mut durch Töten beweisen. Es gibt eine dritte Möglichkeit. Diese dritte Möglichkeit ist vielleicht nicht im Voraus zu bestimmen. Sie besteht in etwas, das man nicht klar erkennen kann, ehe es eintritt. Aber man kann es vorbereiten. Niemand weiß, was sich daraus ergeben wird. Aber man kann seinen Glauben daran lebendig erhalten, dass auf die Dauer die Folgen der Treue zur dritten Möglichkeit besser sein werden, als wenn man sich auf Waffen verlassen hätte. Wenn entweder am einen oder am anderen Ende der Waffe jemand Angst hat, dann kann sie leicht losgehen. Es ist nicht leicht, die Angst loszuwerden. Die Aufgabe besteht darin, es zu versuchen.

Auch bei anderen Gelegenheiten trug die Furchtlosigkeit von Herrn und Frau Richards dazu bei, dass in Westpersien viele Leben gerettet wurden, darunter auch Leben der „Feinde“. Auch ihre vier Kinder verließen sich auf eine andere Art Kraft als die, die alles ganz und gar zerstört. Beide Söhne, einer bereitete sich auf sein Medizinstudium vor, ließen sich während des Zweiten Weltkrieges lieber zu langen Gefängnisstrafen verurteilen, als dass sie einer Methode zugestimmt hätten, die den Bürgern des einen Landes Sicherheit auf Kosten der Unsicherheit der Bürger eines anderen verspricht. Vater Richards ist jetzt Förster in Pennsylvania. Sie alle sind Kämpfer – Kämpfer gegen Krankheit, Verschwendung durch den Staat, Unsicherheit und Dunkelheit im Geist, aber für den Menschen, wer oder wo er auch sei.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.







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