Aber statt Ärger oder Furcht zu zeigen, stand der Mann, der die Schläge abbekommen hatte, einfach da. Zur Verwunderung aller zeigte das Gesicht des Redners, obwohl Wangen und Stirn blutig waren, keine Veränderung im Ausdruck.
Nachdem die Angreifer ihre Stöcke hatten sprechen lassen, führte er die Gemeinde zum Gebet. Nach dem Amen lud er die Rowdys zu einem Gespräch in die Sakristei ein. Es dauerte nicht lange und sie entschuldigten sich.
Toyohiko Kagawa wurde nun zum neuen Helden des Studenten. Von da an widmete er sich der sich ausbreitenden kooperativen Bewegung und nicht mehr dem Kommunismus.
„Wie oft standest du im Shinkawa-Slum oder anderswo unmittelbar dem Sterben durch Pistole oder Schwert gegenüber?“ fragte ich Kagawa einmal. „Ein dutzend Mal?“
Er schmunzelte. Offensichtlich war es öfter gewesen.
„Hundert Mal?“
„Ja, vielleicht hundert Mal.“
Gefahren schienen ihm zu gefallen. Er fühlte eine solche Sicherheit in sich, dass er es sich leisten konnte, ohne äußere Sicherheit auszukommen.
Als Kagawa einundzwanzig gewesen war, hatte er an einem Weihnachtsabend seine Besitztümer, in der Hauptsache Bücher, auf eine Schubkarre geladen und hatte sie den schmalen, schmutzigen Weg zu seinem neuen „Zuhause“ gebracht. Es war ein Zimmer von etwa zwei mal drei Metern an einem der elendesten Orte der Welt. Um ihn herum wohnten Mörder, Schwachsinnige, Prostituierte, Verrückte und Trinker. Nachts waren die Wanzen so schlimm, dass er gezwungen war, humorvoll mit ihnen umzugehen. Als er entdeckte, dass sie sich gerne in kleinen Löchern aufhielten, ersann er ein Spiel. Bevor er schlafen ging, umgab er sich mit Holzklötzchen, in die er kleine Nischen gebohrt hatte. In diesen ließen sich seine Peiniger nieder und warteten dort auf die gute Mahlzeit, die sie einnehmen würden, wenn Kagawa erst einmal eingeschlafen wäre. Dann schüttelte Kagawa mitten in der Nacht die Holzklötze einen nach dem anderen über den Fußboden. Wenn die Wanzen wegrannten, zerquetschte er sie dort. Es waren ein- oder zweimal mehr als fünfzig.
Das Zimmer kostete fünf Cent am Tag. Es war darum so billig, weil auf dem Boden ein Fleck war. Dort hatte ein Ermordeter sein Blut vergossen und da sein Geist hätte lästig werden können, wollte niemand in dem Zimmer wohnen. Kagawa wusste nicht, ob es Geister gebe oder nicht. Das wäre eine gute Gelegenheit, das herauszufinden. Er schlief direkt über der Stelle mit dem Fleck. Wenn überhaupt irgendwo, dann wäre das der Ort, an dem der Geist erscheinen würde. Aber zunächst geschah nichts. Dann wachte der Schläfer unruhig auf, als wäre ein Fremder im Zimmer. Er öffnete die Augen. Im Gang stand ein betrunkener oder angetrunkener Gangster mit erhobenem Schwert. Kagawa sah, wie sich das Mondlicht in der Klinge spiegelte. Wenige Sekunden später würde sie ihm wahrscheinlich ins Fleisch fahren. Er kniete nieder und neigte sich im Gebet: Er erwartete den tödlichen Schlag. Einen Augenblick später sagte der Mann im Flur: „Kagawa, liebst du mich?“
„Ja“, sagte Kagawa.
Dann trat eine Pause ein. Die Stimme sprach weiter, dieses Mal von Nahem: „Hier ist ein Geschenk.“ Kagawa fühlte den Griff des Schwertes in seiner Hand, das der Mann, bei sich getragen hatte.
Einer der gefährlichsten Fälle war ein Alkoholiker. Er wohnte ein paar Türen weiter die Straße hinunter. Kagawa schrieb eine Kurzgeschichte. Er wollte sie verkaufen, um mit dem Geld Medizin für Kranke in der Gemeinde zu kaufen. Der Desperado kam in Kagawas Zimmer und wackelte am Tisch.
„Gib mir zwei Yen oder ich will den ganzen Tag lang an deinem Tisch wackeln.“
„Nein, einer reicht.“
Später verlangte der Mann, der inzwischen bei Kagawa wohnte, Geld für Schnaps. Kagawa wies die Forderung zurück. Der Mann schlug seinen Gastgeber heftig auf den Mund. Dabei schlug er ihm vier Vorderzähne aus und brach ihm vermutlich den Kiefer. Wenn sich Kagawa daran erinnerte, dann scherzte er mit seinen amerikanischen Zuhörern: „Darum spreche ich kein gutes Englisch. Die falschen Zähne wurden mir von einem japanischen Zahnarzt eingesetzt.“ Der Gangster schlief weiterhin auf dem Fußboden neben Kagawa und aß von seinem Reis.
Bei anderer Gelegenheit ging er mit dem Schwert auf Kagawa los. Das Trinken hatte ihn verrückt werden lassen. Diesmal sah es aus, als würde er ernst machen. Die Umstehenden schrieen: „Tu dem Lehrer nichts!“ Kagawa sagte ihnen, sie sollten aus dem Weg gehen. Das gehe nur ihn etwas an. Er wusste, dass das Schwert seines Nachbarn blutig war. Er wollte nicht, dass noch andere mit hineingezogen würden.
Als Junge hatten ihm Geschichten über Schwertkämpfe sehr gefallen. Er hatte oft das große Schwert seines Vaters geschwungen, wenn seine Pflegemutter gerade nicht hinsah. Er stand dann da wie ein Schwertkämpfer, einen Fuß vor dem anderen. Ohne zu lächeln oder zu sprechen – das würde seinen Gegner nur herausfordern – sah er dem anderen gerade und tief in die Augen, tief in etwas, das er vielleicht, wenn er die richtige Haltung einnähme, erreichen könnte. Jeden Augenblick könnte er einen scharfen Stoß in den Körper erhalten. Aber er stand fest und zwinkerte nicht. Etwa zehn Minuten lang waren, ohne dass sich die Körper bewegten, die beiden Willen in einen Kampf auf Leben und Tod aneinander gefesselt. Dann war der Kampf plötzlich vorbei. Sein Schwert schlenkerte wie ein dummes Spielzeug. Kagawas Gegner schlich sich davon.
Wenn Kagawa die Wahl der Waffen hatte, schien er gerne zu kämpfen. Einmal nahm er mit derselben Energie den Kampf mit tausend wütenden und gewaltbereiten Streikenden auf – und gewann. Als er am Sonntagmorgen den Gottesdienst in seiner Kirche in den Kobe-Slums abhielt, wiegelten einige Agitatoren die Arbeiter auf und nun marschierten sie die Straße hinunter geradewegs zu den Kawasaki-Docks. Sie wollten die Maschinen zerstören. An den Docks standen Hunderte mit Schwertern bewaffnete Polizisten, dazu Soldaten mit geladenen Gewehren. Wenn der Zug nicht abgedrängt werden könnte, würde ein schreckliches Gemetzel stattfinden.
Als Kagawa von der Situation hörte, brach er seinen Gottesdienst ab, warf sich in eine Rikscha – er konnte wegen seiner schwachen Lunge nicht den ganzen Weg rennen – und sprang gerade noch rechtzeitig am Ende einer abfallenden Straße wieder aus der Rikscha heraus. Die Streikenden kamen mit der Kraft eines Gebirgsflusses auf ihn zu und skandierten „Waschu! Waschu!“
Kagawa stand ihnen allein gegenüber. Jahre später erzählte er mir: „Als die ersten Reihen dort ankamen, wo ich stand, sah ich jedem Einzelnen gerade in die Augen und betete: ‚Gib uns Frieden!’ Mein Gebet wurde erhört, denn sie ließen sich aufhalten. Da war ich mit meiner Seele im Frieden. Danach wusste ich plötzlich, dass ich auf der Seite Gottes war.“
Die Streikenden bogen in eine Seitenstraße ein und ließen die Docks unbehelligt. Kein einziger Schuss fiel. Die Gewerkschaft war gerettet. Ihr Ratgeber jedoch wurde ins Gefängnis gesperrt.
Die Wärter versuchten Kagawa zu demütigen, indem sie ihn zwangen, einen Frauenkimono zu tragen. Aber er reagierte nicht auf die Beleidigung, sondern schrieb Gedichte auf Toilettenpapier. Einige davon kann man jetzt in seinem Buch „Songs From the Slums“ lesen.
Als Japan widerrechtlich die Chinesen angriff, schrieb er ein Gedicht, in dem er diese um Vergebung bat. Auch auf andere Weise legte er deutlich Zeugnis für seine Einstellung gegen das Kriegssystem ab. Weniger als zwei Jahre vor Pearl Harbor wurde er länger als zwei Wochen eingesperrt, weil er gegen den Militarismus protestiert hatte. Gegen die Mücken verteidigte er sich sehr erfindungsreich: Er zog sich den Mantel über den Kopf und ließ nur die Nasenlöcher frei. Er versteckte seine Hände, setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand und meditierte zwei Tage und Nächte lang fast ununterbrochen. Als er bemerkte, welchen Weg die Zivilisation einschlug, war er zuerst „enttäuscht“. Dann fühlte er sich allmählich auf die Ebene unwiderstehlicher Freude der Gegenwart Gottes erhoben.
Einige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste er in die etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Wälder fliehen. Fanatische Nationalisten hatten seine Exekution gefordert, weil das Gerücht umging, dass die Amerikaner, wenn sie Japan einnähmen, Kagawa zum Premierminister machen würden.
Nach dem Krieg verbrachte er die Hälfte seiner Zeit damit, Sozialprogramme zu leiten, und die andere Hälfte damit, Menschen in Japan für seine Grundüberzeugung zu gewinnen:
„Die Liebe ist ein Macht“, sagte er. „Versuch es! Versuch es!“ Er hatte es getan.
Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.
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