Freitag

Großmutter wartet auf Kurt Felix

Die Großmutter hatte ihre Wocheneinkäufe im Supermarkt erledigt und schickte sich an, wie üblich im Selbstbedienungsrestaurant ein kleines Mittagsmahl einzunehmen. Mit Glück ergatterte sie in vorweihnachtlichen Gedränge ein freies Tischchen, an das sie ihre Handtasche und Einkaufstüten stellte.

Erna B. geht ans Buffet, von wo sie mit einer Suppe und Würstchen an ihren Tisch zurückkehrt. Sie stellt fest, dass sie das Besteck vergessen hat, und geht nochmals zum Buffet, wo Gabeln, Löffel und Messer zu Hunderten bereitliegen. Als sie zum zweitenmal an ihren Platz zurückkommt, sieht sie zu ihrem Schrecken einen Schwarzen an ihrem Tisch sitzen, der in aller Zufriedenheit ihre Suppe löffelt.

Ehe die Großmutter Zeit hat, sich zu ärgern, schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf: Nur nicht aus der Rolle fallen, da muss Kurt Felix mit seiner versteckten Kamera am Werk sein! Geistesgegenwärtig fasst sie ihren Löffel ein wenig enger, geht auf den Tisch zu, nimmt neben dem Schwarzen Platz und beginnt, mit diesem zusammen die Suppe und die Würstchen zu verzehren. Der Tischgenosse, weder erstaunt noch verlegen, lächelt Erna B. zu und schiebt ihr den Teller näher. Die Großmutter lächelt den Schwarzen an, und ohne ein Wort zu wechseln, verspeisen die beiden Suppe und Würstchen. Sie lächeln sich mehrmals zu und an, stumm, und als das gemeinsame Mahl beendet ist, erhebt sich der Schwarze, geht zum Buffet und kommt mit zwei Tassen Kaffee zurück. Wieder lächeln sie sich an, als der Mann den einen Kaffee vor die Großmutter stellt, und schweigend genießen sie das dampfende Getränk. Dann erhebt sich das Gegenüber und verabschiedet sich mit einem Lächeln.

Die Großmutter, die ihre "Rolle" bisher souverän gespielt hat, erwartet nach dem Verschwinden des Schwarzen Kurt Felix, der ihr die Lösung des Rätsels, das ja für die Großmutter gar keines ist, bringen soll. Kurt Felix erscheint jedoch nicht, und nach längerem Ausharren greift Erna B. nach ihrer Handtasche. Welch ein Schreck, als die gute Frau feststellen muss, dass sowohl ihre Handtasche als auch die Einkäufe verschwunden sind. Schlagartig ändert sich ihre Laune, und aus dem netten Mann wird mit einem Mal ein verdammter Ausländer. Entrüstet schaut die Geprellte umher. Sie will sich schon erheben, um verschiedene Maßnahmen zu ergreifen, als ihr Blick an einem Tischchen weiter drüben haften bleibt: dort steht ihre Handtasche, neben den Tragetaschen, in denen ihre Einkäufe sind. Und auf dem Tischchen wartet ein Teller, dessen Inhalt sie nur erraten kann. Erst jetzt wird die Großmutter gewahr, dass sie am falschen Tisch Platz genommen hatte, als sie mit dem Besteck zurückkam. Sie sei sofort nach Hause gegangen und habe sich bis tief in den Abend geschämt, berichtete später Erna B.


Eine wahre Begebenheit, nacherzählt von Paul Bischof aus dem Tagesanzeiger vom 30.12.1985

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