Donnerstag

Sie fand ihren eigenen Weg

Die siebzehnjährige Fei-Yen, die als Kuli arbeitete, lernte in der 8 km von ihrem Dorf entfernten ausländischen Schule schnell lesen und 500 Schriftzeichen schreiben. Dann nahm sie sich vor, anderen Dorfbewohnern dabei zu helfen, auch lesen und schreiben zu lernen.
Als die Japaner sich in der Nähe ihres Dorfes mit Maschinengewehren den Weg freischossen, machte ihr Vater den für eine solche Situation genau richtigen Vorschlag. Sie war das älteste von ziemlich vielen Kindern. Er war der einzige Verdiener. Wenn sie im Gebäude wäre, wenn die Soldaten kämen, müsste er versuchen, sie vor ihnen zu beschützen. Das würde aber nur dazu führen, dass sie ihn mit dem Bajonett erstechen würden wie schon so viele andere Landarbeiter, die versucht hatten, ihre Frauen zu beschützen. Darum musste Fei-Yen „sich alleine einen Plan ausdenken.“ Das bedeutete, sie müsse Suizid begehen.
Aber Fei-Yen war Christin und sie nahm seinen Vorschlag wörtlich. Sie ging weg, verhielt sich ruhig, dachte an Gott und ersann einen Plan für sich. Ihr fiel etwas Gutes ein. Sie ging zu einer 25 km entfernt gelegenen Klinik, wo zwei halb ausgebildete chinesische Ärzte eine große Anzahl Dorfbewohner versorgten. Sie hießen ihre neue Kollegin herzlich willkommen.

Bald erreichten die japanischen Invasoren den Stadtteil, in dem die Klinik lag. Die Ärzte machten schweren Herzens den richtigen Vorschlag: Sie müsse sich alleine einen Plan ausdenken. Und wieder folgte sie dem Vorschlag. Sie verabschiedete sich und suchte sich einen Bauern, den sie dazu bewegte, ihr ein paar alte Kleidungsstücke und große Stiefel zu geben. Sie zog sie an, schnitt sich das Haar ab, kehrte zur Klinik zurück, klopfte an die Tür und fragte mit rauer Stimme, ob man dort nicht einen Kuli brauche.

Am nächsten Morgen versorgten Fei-Yen und die Ärzte – alle mit einem an den Kopf gehaltenen Revolver – verwundete japanische Soldaten. Sie waren froh, dass sie gebraucht wurden.
Etwas nach Sonnenuntergang zogen sich alle japanischen Soldaten zurück. Sie blieben im Dunkeln niemals draußen, wenn es chinesische Guerillas in der Nähe gab. Die Chinesen in der Klinik nahmen sich etwas zu essen und legten sich hin, um ein Nickerchen zu halten. Sie wussten, dass sie in den nächsten ein oder zwei Stunden vielleicht von ihren Landsleuten als Verräter getötet würden. Aber vielleicht würden sie auch von ihnen dafür gebraucht, dass sie ihre Verwundeten versorgten.
So geschah es. Sie versorgten die ganze Nacht hindurch ihre eigenen Leute. Im Morgengrauen waren alle Guerillas verschwunden. Der Tag war für die Japaner da, der Anbruch der Nacht und die Nacht selbst für die Chinesen.

Bald darauf hörte Fei-Yen, dass die Japaner ihr Dorf zerstört hatten und alle ihre Geschwister getötet worden waren. Aber das änderte nichts an ihrer Fürsorge für die verwundeten Japaner.
Der ausländische Arzt, der für die Wahrheit dieser Geschichte bürgt (er erzählte sie einem Sekretär des Versöhnungsbundes), wurde schließlich auf Fei-Yen aufmerksam. Das war in einem 24 km von der Klinik, in der sie weiter arbeitete, entfernten Krankenhaus. Als er eines Abends in einer Versammlung sprach, sah er eine seltsame Person, die weder auf der Männer- noch auf der Frauenseite, sondern im Gang dazwischen saß und wie ein Kuli angezogen war. Aber der Kuli hatte nicht den gewöhnlichen, etwas stumpfen Gesichtsausdruck. Die Augen waren schrecklich wach, das ganze Gesicht leuchtete, als ob ein Feuer der Begeisterung, das im Geheimen im Inneren brannte, nicht verborgen werden könnte. Gleich nachdem die Versammlung vorüber war, wollte er mit dieser seltsamen Kreatur sprechen.

„Sie ist schon weg“, sagte man ihm.
„Wohin?“
„Zurück in die Klinik, etwa 20 km von hier entfernt. Sie kam hierher, um etwas Äther für ihre Arbeit dort zu holen. Um hierher zu kommen, musste sie einige Kilometer durch das Gebiet gehen, das von den Japanern besetzt ist. Und jetzt geht sie mit dem Medikament zurück.“
„Warum ist denn nicht einer der Männer gekommen?“
„Sie hatten alle Angst.“
Monate danach, als die Japaner das gesamte Gebiet eingenommen hatten, besuchte der Arzt die große Stadt, in deren Nähe die Klinik gelegen hatte. Er war traurig und schämte sich, als er sich daran erinnerte, dass die Missionare ihre Arbeit in der Stadt schon vor Jahren hatten aufgeben müssen, weil keine finanzielle Unterstützung mehr aus dem Heimatland gekommen war. Deshalb gab es kein chinesisches Flüchtlingslager in der Art derer, die die Missionare für gewöhnlich organisierten. Aber als er sich dem Gelände der Mission näherte, bemerkte er plötzlich Zeichen von Leben dort, geordnetem Leben und nicht nur irgendeinem menschlichen Leben. Die Tore standen weit offen. Die Schriftzeichen „Chinesisches Flüchtlingslager“ waren sauber auf eine Tafel gemalt. Auf der Veranda vor einem der großen Häuser waren Schafe und Ziegen angebunden. Kühe und Hühner sahen gut genährt und zufrieden aus. Das Schulhaus war offensichtlich in Gebrauch. Die Frauen nähten und stickten in einem anderen Gebäude.
Er war überrascht. „Wer macht denn das alles?“ fragte er einen froh aussehenden Jungen. „Möchten Sie ihn sehen? Ich werde ihn holen“, antwortete das Kind. Dann stand er der entzückten Fei-Yen gegenüber.
„Wie haben Sie nur die Erlaubnis bekommen, um dies alles auf die Beine zu stellen?“ fragte er, fast streng in seiner Aufregung. „O“, antwortete sie, „ich habe gesagt, dass ich für die Missionare arbeite, die nicht japanisch sprechen könnten. Sie denken immer noch, dass es hier irgendwo einen Missionar gäbe, aber sie sehen ja, ich mache alles allein.“

Es war gegen Sonnenuntergang, als gerade die Glocken zu läuten begannen. Bald war die Kapelle voller Menschen: die Männer auf der einen Seite des Ganges und die Frauen auf der anderen. „Machen Sie den Gottesdienst, Doktor“, sagte sie. Aber, gestand er später Muriel Lester, er konnte nicht. Er musste zuvor das Geheimnis der Kraft dieser jungen Frau entdecken. „Morgen, will ich das tun“, sagte er, „Ich möchte lieber, dass Sie es heute tun.“
Natürlich gab es keine Bücher. Aber sie hatte einige Sätze aus Gebeten aufgeschrieben, an die sie sich erinnert hatte. Nachdem sie diese wiederholt hatte, betete sie in ihren eigenen Worten, Gott möge alle Freunde und Verwandten der dort Versammelten segnen. Dann betete sie. „Und bitte segne das japanische Volk in seinem eigenen Land, die Menschen, die ebenso wie wir unter diesem Krieg leiden müssen.“ Dann beendete sie den Gottesdienst mit diesem Gebet: „O Gott, bitte hilf uns, allen Hass und Stolz und Furcht und alle Wut aus unseren Herzen mit den Wurzeln auszureißen, denn wir wissen, dass sie Kriege wie diese möglich machen. Um Christi willen, Amen.“
Der Arzt sagte später, dass das der Höhepunkt aller seiner Erfahrungen gewesen sei.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

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