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Samstag

Aus der Sicht eines Polizisten

  Nun, es gibt zwei Theorien über Kriminalität und den Umgang mit ihr. Manche sagen: "Du mußt wie der Kriminelle denken." Manche Polizisten lernen das so gut, daß sie selber eine Form krimineller Mentalität entwickeln.
  Die Weise, auf die ich arbeite, unterscheidet sich davon beträchtlich. Ich betrachte den Menschen als essentiell rein und unschuldig und von einer ungeteilten, guten Natur. Das ist sein Geburtsrecht. Und das ist es auch, was ich im Verlauf eines jeden Arbeitstages anzuerkennen habe - ja, es ist sogar das, woraus meine Arbeit besteht. ...
  Ich versuche diese Vision auch dann zu bewahren, wenn Konflikt entsteht. Ich hatte einmal einen sehr zornigen, schwarzen Mann verhaftet, der mich mit gezielter Ablehnung behandelte. Als ich ihn zum Polizeiwagen führen wollte, spuckte er mir ins Gesicht - das war schon keine Kleinigkeit - und dann versuchte er noch, mit einem Stuhl auf mich loszugehen. Es gelang uns, ihm Handschellen anzulegen. Als wir im Wagen fuhren, mußte ich mich einfach irgendwie von diesem eigenen negativen Bild von ihm befreien, das nun entstanden war. So affirmierte ich ständig in meinem Geist: "Dieser Mann und ich sind Brüder in der Liebe." Als wir zum Revier gelangten, sagte ich spontan zu ihm:
  "Hören Sie zu. Wenn es irgend etwas gegeben hat, womit ich Sie verletzt habe, so möchte ich Sie jetzt um Entschuldigung bitten."
  Mein Kollege neben mir schaute mich an, als sei ich total verrückt geworden.
  Am nächsten Tag mußte ich den Mann zum Kriminalgericht überführen. Als ich ihn abholte, dachte ich: "Wenn du deiner Vision wirklich vertraust, dann brauchst du ihm auch keine Handschellen anzulegen." Das tat ich auch nicht. Im Gerichtsgebäude gelangten wir zu einer Stelle im Korridor, wo er auf mich hätte losgehen müssen, wenn er eine solche Absicht gehabt hätte. Er blieb dort tatsächlich stehen, was ich auch tat. Dann sagte er:
  "Wissen Sie, ich habe darüber nachgedacht, was Sie gestern gesagt haben, und ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen."
  Ich spürte diese tiefe Dankbarkeit, die von ihm ausstrahlte.
  Aus seinem Strafregister ergab sich, daß er lange im Staate Michigan gesessen und ziemlich viel Ärger mit seinen Wächtern gehabt hatte. Ich symbolisierte anfangs etwas für ihn. Und ich sah bei diesem Vorfall, wie das verwandelt werden konnte - so eine Art von "Heilung" war das, glaube ich.



(Quelle: Ram Dass und Paul Gormann: "Wie kann ich helfen?", Berlin 1988, S.46ff)

Der Dritte Weg

  Martin Luther King vermittelte diesen Dritten Weg Jesu (die Gewaltfreiheit, d.Red.) so an seine Anhänger, daß er zur ethischen Grundlage der gesamten Bürgerrechtsbewegung werden konnte.
  Eines Abends, als Selma in Alabama das Zentrum der Bürgerrechtskämpfe war, stand eine riesige Menschenmenge aus schwarzen und weißen Aktivisten vor der baptistischen Ebenezer-Kirche. Die Nachricht, die ein schwarzer Bestattungsunternehmer aus Montgomery mitbrachte, schlug in ihre Versammlung ein wie ein Blitz. Er berichtete, wie an diesem Nachmittag nahe beim Kapitol berittene Polizisten in eine Gruppe schwarzer demonstrierender Studenten hineingestürmt waren und die Demonstranten zusammengeschlagen hatten. Zwei Stunden lang hatten die Polizisten sodann die Krankenwagen daran gehindert, zu den Verletzten vorzudringen. Unser Informant war der Fahrer eines dieser Krankenwagen. Er war sofort nach Selma gefahren, um uns davon zu unterrichten, was geschehen war.
  Die Menge vor der Kirche kochte vor Wut. Der Ruf "Losmarschieren!" wurde immer lauter. Hinter der Menge, auf der anderen Straßenseite, standen die Staatstruppen von Alabama und die lokalen Polizeikräfte mit Sheriff Jim Clark in Alarmbereitschaft. Die Lage war explosiv.
  Da ging ein junger schwarzer Pfarrer zum Mikrophon und sagte:
  "Es ist Zeit, daß wir ein Lied singen."
  Er begann mit der Verszeile:
  "Liebt ihr Martin Luther King?"
  Diejenigen, die das Lied kannten, stimmten in den Refrain ein:
  "Sicherlich, sicherlich, sicherlich, Herr!"
  Dann ging er alle Führergestalten der Bürgerrechtsbewegung durch. Die Menge erwärmte sich mehr und mehr für das Lied und beantwortete jeden Vers:
  "Sicherlich, sicherlich, sicherlich, Herr!"
  Ohne Vorwarnung sang der Pastor plötzlich:
  "Liebt ihr Jim Clark?" - das war der Sheriff!
  "Si...cherlich, Herr!", kam das zögernde, verebbende Echo.
  "Liebt ihr Jim Clark?", wiederholte der Pfarrer.
  "Sicherlich, Herr!", tönte das Echo schon lauter.
  "Liebt ihr Jim Clark?".
  Mittlerweile war der Groschen gefallen:
  "Sicherlich, Sicherlich, Sicherlich, Herr!"
  Dann ergriff Pfarrer James Bevel das Mikrophon.
  "Wir kämpfen nicht nur für unsere Rechte", sagte er, "sondern für das Wohl der gesamten Gesellschaft. Es reicht uns nicht, Jim Clark zu besiegen - können Sie mich hören, Jim? - , wir wollen Sie bekehren. Wir können nicht gewinnen, solange wir unsere Unterdrücker hassen. Wir werden sie lieben, bis sie sich verändern."
  Und Jim Clark veränderte sich wirklich. Als der Feldzug zur Wähler-Registrierung abgeschlossen war, merkte Jim Clark , daß er ohne die schwarzen Stimmen nicht wiedergewählt werden konnte. So begann er, schwarze Wähler zu hofieren. Später bekannte er sogar - wie ich meine, ehrlich - , daß er sich in seiner Einstellung gegenüber den Schwarzen geirrt hätte.



(Quelle: Walter Wink, Angesichts des Feindes - Der dritte Weg Jesu in Südafrika und anderswo, München 1988, S.82ff)

Meine Welt

  Eine junge Frau erzählt eine Erfahrung, über die sie selbst später noch überrascht war:
  Sie ging allein durch eine von Bäumen beschattete Straße nach Hause, als sie von einem Jugendlichen mit einem Messer angehalten wurde. Es war sorgfältig schwarz angemalt, um das Blinken von Lichtstrahlen zu verhindern. Dies war also kein unerfahrener Räuber. Aber als er sie festhielt und ihr Portemonnaie forderte, sagte sie einfach:
  "Du kannst mich hier nicht belästigen! Das ist meine Wohngegend!"
  Sie war in ihrem Gerechtigkeitsgefühl angegriffen. Sie lebte in einer Welt, in die der Angreifer nicht hineinkonnte. Und ihre Sätze hatten gewirkt. Ohne daß etwas in der Umgebung den Angreifer von körperlicher Gewalt abhielt, drehte er sich um und rannte weg.



(Quelle: ebda., S.30)

Zwei zufriedene Angreifer

  Ich erzähle, was ein Freund von mir erfahren hat:

  Es kamen zwei Männer auf meinen Freund zu, die ihn grob anhielten.
  Mein Freund fragt: "Guten Abend, kann ich etwas für Euch tun?"
  Die anderen: "Wir wollen Dein Geld."
  "Habt Ihr Schwierigkeiten?"
  Die anderen: "Ja, wir brauchen Geld."
  Und mein Freund: "Wieviel braucht ihr?"
  Mit dieser Reaktion hatten seine Angreifer nicht gerechnet. Und dies hatte zur Folge, daß sie nach      einigem Zögern sagten, daß sie 25 Cent brauchten, und verschwanden.



(Quelle: ebda., S.39)

Manchmal braucht es Vertrauen

Eines abends im Jahre 1982 wollten zwei ganz normale junge Frauen in Philadelphia ihre Miete bezahlen gehen. Sie hatten weder eine Handtasche noch einen Geldbeutel dabei. Nachdem sie die Miete bezahlt hatten, schlenderten sie wieder nach Hause - ohne einen einzigen Penny in der Tasche. Und es war ihnen anzusehen. Doch plötzlich stellte sich ihnen auf der dunklen und leeren Straße ein Mann in den Weg und hielt der ihm am nächsten stehenden ein Messer an die Kehle.
  "Ich will Geld. Ich habe kein Geld."
  So etwas geschieht heutzutage in den Straßen der Städte - der vor Schmerz fast verrückte Junkie, der an die Spritze will. Und wenn sein Versuch fehlschlägt, dann kann er nicht einfach ruhig wieder abziehen; mit Sicherheit würde sofort die Polizei alarmiert, die ihm mit heulenden Sirenen, Suchscheinwerfern und gezückten Revolvern nachjagte. Leuteüberfallen ist eben kein Geschäft, wo man sich von einer schlechten Aussicht abwenden kann, um gelassen einen lohnenderen Kunden zu suchen.
  Was sollten die beiden Frauen tun? Wenn eine floh, das erkannten sie gleich, dann würde die andere dem Messer zum Opfer fallen.
  "Ich will das eigentlich nicht tun", sagte der Junkie. "Es macht mir keinen Spass, Leuten weh zu tun. Aber manchmal muß ich einfach!"
  Das Messeer kam näher.
  "Und wenn es sein muß, mach' ich es jetzt. Wenn ich kein Geld kriege, muß ich jemandem weh tun."
  "Aber wir haben kein Geld!"
  "Ich muß aber Geld haben!"
  Sie fingen an, sich Alternativen für ihn zu überlegen. Aber keine war praktikabel.
  "Wenn ich kein Geld kriege, muß ich euch weh tun."
  "Paß auf", sagte die Kleinere, das Kinn über dem Messer. "Ich bleibe bei dir. Mary geht zurück in meine Wohnung und holt das Geld für dich."
  "Nein, auf keinen Fall. Sie ruft nur die Bullen an."
  "Nein, das tut sie nicht! Wirklich nicht! Ich bin doch hier. Sie ruft doch nicht die Bullen, wenn ich noch hier bin."
  Immer noch war die Straße menschenleer. Die drei befanden sich in einer dramatischen Lage. Das Messer war geschwärzt, um kein Licht zu spiegeln. In den jungen Frauen begann ein seltsames Verständnis zu wachsen. Er machte das wirklich nicht gerne. Es ging ihm tatsächlich schlecht. Er war unberechenbar. Außerdem hatte er mehr Angst als sie.
  "Paß auf, du kommst mit uns. Ich hab' ein bißchen Geld in meiner Wohnung. Komm mit."
  "Nein! Dein Mann ist in der Wohnung. Irgend ein Mann ist dort."
  Das Messer begann wieder zu drohen.
  "Es ist niemand dort. Ehrlich! Die Wohnung ist leer. Du mußt uns vertrauen. Los, wir gehen alle zusammen."
  "Es ist ein Trick."
  "Nein, es ist kein Trick."
  Gab er nach? Seine Lage war so unhaltbar wie ihre - noch unhaltbarer. Sie hatten einfach kein Geld bei sich, das sie ihm hier auf der Straße geben konnten. Er konnte drohen, wie er wollte, er konnte sie dadurch nicht zwingen, ihm etwas zu geben, was sie nicht hatten. Und wenn er sie verletzte, würde es auch nichts helfen. Er war in einer unmöglichen Lage, und diese schreckliche Ausweglosigkeit steigerte noch seine Verrücktheit und Frustration.
  "Vertrau uns doch!"
  Sie sprach ihn direkt an, von Person zu Person, sah ihm fest in die Augen - ein Mensch dem anderen.
  "Ich wohne gleich um die Ecke. Komm mit in meine Wohnung."
  Er wurde unsicher.
  "Es ist niemand da. Vertrau uns doch! Komm mit!"
  Langsam, das Messer bereithaltend, begann er, sich mit ihnen die dunkle Straße hinunter zu bewegen. Die junge Frau sprach normal und ruhig weiter.
  An der Außentür angekommen, zog er sie näher ans Messer heran.
  "Es ist gleich die Treppe hoch. Es ist niemand da. Vertrau uns nur!"
  In der Vorhalle. Die Treppe hoch. Den Schlüssel ins Schloß. Dann nahm die andere Frau den Platz unter dem Messer ein. Die kleinere ging in die Wohnung und suchte nach ihrem Geldbeutel. Zehn Dollar. Ein Zehn-Dollar-Schein - das war alles, was sie hatte. Sie rannte zurück zur Tür und gab es ihm.
  "Sonst hast du nichts?"
  Ein Gefühl plötzlichen Versinkens. Nach allem, was geschehen war, nach dem Anschein des Vertrauens, der scheinbaren Lösung ihrer Not - wollte er nach all dem noch mehr verlangen? Sie hatte nicht mehr Geld. Die Wohnungstür stand offen hinter ihr.
  "Das ist alles. Das ist wirklich alles."
  "Aber ich brauche doch nur fünf Dollar. Und ich hab' kein Wechselgeld."
  "Nimm es nur! Nimm es! Es stimmt schon."
  "Aber ich brauche doch nur fünf."
  Seine Hände zitterten und seine Stimme bebte.
  "Es ist in Ordnung. Nimm es! Nimm es!"
  Er sah auf den Geldschein hinunter, dann wieder in die Augen der jungen Frau.
  "Tschüß", sagte er. "Tschüß dann."
  Er stolperte die Stufen hinunter und hinaus in die Nacht.
  Die jungen Frauen plumpsten auf das Sofa, jetzt voller Angst, da sie nicht mehr unter Spannung standen.



(Quelle: Dorothy T.Samuel, Safe Passage on City Streets, 1975; mit freundlicher Genehmigung des Agape-Verlages (s.o.17.), S.88ff)

Bewaffneter Raubüberfall

Ira Sandperl war auf dem Heimweg von einem Meeting im Mission District von San Francisco, einem Stadtviertel, in dem die Mexikaner die Mehrheit stellen, deren Leben meist von Armut geprägt ist. Er hatte versucht, die Anwesenden dazu zu bewegen, sich selbst zu organisieren, um ihre Situation zu verbessern. Das Treffen war gut gelaufen; er hatte einige Menschen in Bewegung gebracht und am Schluß hatten sie sogar noch Geld gesammelt: Sechs Dollar waren zusammengekommen. Für die Menschen in diesem armen Viertel war das damals ein ganz ansehnlicher Geldbetrag. Den trug Ira Sandperl jetzt spät nachts glücklich in seiner Tasche mit nach Hause.
Plötzlich - in einer unbelebten Seitenstraße - steht vor ihm jemand, der eine Pistole auf ihn gerichtet hält und ihn auffordert: "Gib mir all Dein Geld!"
Ira entgegnet ziemlich unbeirrt: "Kann ich nicht. Ich habe nur sechs Dollar, und die muß ich für unser Projekt geben."
Und er beginnt sogleich, ein paar Worte hinzuzufügen, wofür das Geld bestimmt sei.
Der Straßenräuber unterbricht: "Einen Dreck interessiert mich das. Los, gib mir jetzt endlich Dein Geld."
Darauf Ira: "Ich mach dir einen Vorschlag: Ich geb dir die Hälfte."
Der Räuber: "Das hier ist keine Verhandlung, verdammt noch mal! Her damit, oder ich blas dich weg!!"

In diesem Augenblick fällt Ira Sandperl auf, daß der Mann, der ihn gerade bedroht, mager und hungrig aussieht. Ihm kommt plötzlich der Gedanke, daß der gewaltfreie Weg eine andere Herangehensweise verlangt - und damit gewissermaßen auch ein anderes "Drehbuch" in der Konfrontation mit diesem Menschen.
"Sag mal, wie lange hast du nichts mehr zu Essen gehabt?"
Sein Gegenüber antwortet jetzt: "Ist etwa zwei Tage her."
Darauf Ira: "Verdammt, ich kauf dir was zu essen. Komm schon, steh nicht rum. Wir gehn an der Ecke was essen."
Dabei macht Ira schon die ersten Schritte und gibt mit einer seinem Gegenüber zugewandten, auffordernden Bewegung zu verstehen, daß er darauf warte, mit ihm losgehen zu können, um dem Hunger des Fremden endlich Abhilfe schaffen zu können. Der Fremde geht tatsächlich mit und Ira spendiert ihm ein billiges Essen für 1,97 Dollar. (Zu dieser Zeit konnte man im ärmlichen Mission District für so wenig Geld noch ein richtiges Essen bekommen.)
Nachdem sein Gegenüber sich satt gegessen hatte, bietet Ira ihm 1,03 Dollar an. Der Fremde fragt:
"Was iat das?"
Ira: "Das ist der Rest von deinem Geld. Ich habe dir angeboten, daß wir fifty-fifty teilen, und möchte zu meinem Wort stehen."
Der Fremde lehnt das Geld nun ab: "Ich kann es nicht annehmen."



(Quelle: erzählt von Uwe Painke, Tübingen in seiner Arbeit: Selbstbestimmtes Handeln in Situationen personaler Gewalt (Hausarbeit zur Diplom-Vorprüfung) 1992, S. 18ff)

Im U-Bahn Tunnel

Ich kam gerade aus der U-Bahn und ging meinen Weg nach oben. Wie immer ein etwas längerer Tunnel, durch den die FußgängerInnen gehen müssen, um nach oben zu gelangen.
Ich komme an zwei Leuten vorbei: ein Mädchen und ein Mann bei ihr. Wie sie zueinander standen, war unklar. Doch mir war ein wenig mulmig. So drehte ich mich nach ca. 20 Metern nochmal um und schaute zurück. Das Mädchen wurde von dem Mann angesprochen, und noch war die Situation uneindeutig. Doch als ich blieb und eine Weile beobachtete, sah es nach Streit aus, und das Mädchen fing an zu schreien:  "Laß mich!".
Nun ging ich wieder zurück. Ich ging direkt auf die beiden zu und sagte zu dem Mann in meiner festen, klaren und lauten Art:  "Du läßt sie jetzt sofort los!"
Es war nicht aggressiv, nur äußerst deutlich.
Er zeigte einen harten Blick. Ich war mir nun selbst unsicher und meinte schon: Vielleicht holt er gleich ein Messer hervor. Doch ich hielt einfach seinem Blick stand. Dann ging ich wieder; und als ich mich noch einmal umdrehte, war auch er gegangen und hatte das Mädchen losgelassen. Es hatte also anscheinend etwas genützt.



(Quelle: Ute Delor, Freiburg)

Kleine Rettungsaktion

Sandweg am Abend: Ein Mann steigt aus einem Auto aus, läuft einer jungen Frau hinterher, versucht, sie mit sich zu ziehen.
Sie macht sich immer wieder los, wehrt ihn ab.
Eine andere Frau beobachtet die Auseinandersetzung, zögert, rennt den beiden dann nach.
Sie begrüßt die Belästigte wie eine alte Freundin und zieht sie in eine Kneipe.



(Quelle: Bericht in der Frankfurter Rundschau, 17./18.11.92 (Dorothee Beck))

Randale mit dem Beil

Von FreundInnen wurden wir zur Hilfe gerufen; sie wurden von einer Gruppe faschistoider Jugendlicher bedrängt. Und wir konnten zunächst noch ganz gut mit ihnen reden. Doch da fand nun einer, der stark betrunken war, ein Beil und schwang es in der Luft. Sofort war da auf einmal eine ganz eisige Stimmung, wir hatten völlige Angst, daß es echt zum Blutvergießen kommen könnte.
Ich ging zu ihm hin. Andere aus seiner Gruppe wollten mich zurückhalten, weil sie Angst um mich hatten. Doch ich ging, und ich sagte zu ihm:  "Das macht Angst mit dem Beil, auch den anderen. Da kann sehr viel passieren; und das bedroht uns. Da kann noch viel mehr ausgelöst werden, was wir nicht wissen."
Er sah mich zögernd an. Er redete nicht, ließ sich auf kein Gespräch ein. Doch dann nahm er das Beil und schleuderte es in hohem Bogen ins Gebüsch. Wir haben es auch später nicht mehr gefunden. Was er sich gedacht hat, oder ob er gar etwas 'eingesehen' hat, weiß ich nicht. Jedoch die Reaktion war deutlich und hat geholfen.

Ich war in dieser Situation ganz ruhig gewesen. Mir war klar: Das ist jetzt das einzig Mögliche, da auf ihn zugehen. Die Angst war da, aber sie hat nicht mein Handeln bestimmt. Ich konnte etwas tun, ohne daß mich die Angst lähmte. Danach dann, so am nächsten Abend, kamen schlimme Erinnerungen daran, und ich wünschte sehr, daß so was nicht noch einmal passiert.



(Quelle: Ulli Laubenthal)

Schul-Autorität

Eine pensionierte Lehrerin war einige Tage zu Besuch in New York. Am letzten Abend wurde sie auf dem Bürgersteig von einem jungen Mann angehalten. Er war mit einem Revolver bewaffnet und verlangte alles Geld von ihr. Andernfalls - so drohte er - würde er sie ermorden.
Da reagierte in der alten Frau die ganze Mentalität ihrer früheren Arbeit. Die Art der Schullehrerin kam in diesem Moment in ihrer ganzen Körperhaltung hervor: sie wurde groß, ihre Augen blinkten mit Autorität, und sie befahl:   "Hör sofort damit auf! Steck die Pistole weg!"
Die Reaktion zeigte Wirkung: In gleicher Weise mit der Körpersprache eines getadelten Schuljungen zuckte der Verbrecher zusammen. Er ließ die Hand sinken, in der er die Pistole hielt, und rannte aus der Straße weg.



(Quelle: erzählt von Dorothy T.Samuel, zitiert aus: Han Horstink, s.o.19., S.74)

Die Kunst der Versöhnung

Der Zug rasselte und ratterte durch die Vorstädte Tokios. Es war ein schläfriger Frühlingsnachmittag. Unser Wagen war vergleichsweise leer - einige Hausfrauen mit ihren Kindern im Schlepptau, einige alte Leute, die einkaufen gehen wollten. Gedankenverloren starrte ich auf die eintönigen Häuser und die staubigen Hecken.

An einer Station öffneten sich die Türen und die Ruhe des Nachmittags wurde gestört. Ein Mann stolperte in den Wagen. Laut stieß er gewalttätige und unverständliche Flüche aus. Er trug Kleidung eines Arbeiters, und er war groß, betrunken und dreckig. Laut schreiend stieß er mit einer Frau zusammen, die ein Baby hielt. Sie wirbelte um ihre eigene Achse und fiel in den Schoß eines älteren Ehepaars. Es grenzte an ein Wunder, daß dem Baby dabei nichts geschah.
Verschreckt sprang das Ehepaar auf und rettete sich zum anderen Ende des Wagens. Der Arbeiter wollte der alten Frau noch einen Tritt geben, doch er verfehlte sie in ihrer hastigen Flucht. Das erzürnte den Betrunkenen so sehr, daß er den Metallstab in der Mitte des Wagens ergriff und versuchte, ihn aus der Halterung zu reißen. Ich sah, daß er sich an einer Hand geschnitten hatte und blutete. Der Wagen ruckelte vorwärts, die Passagiere froren vor Angst. Ich stand auf.

Das Ganze ist nun zwanzig Jahre her. Ich war damals jung und in guter körperlicher Verfassung. Ich hatte fast jeden Tag runde acht Stunden Aikido trainiert, und das seit drei Jahren. Ich kämpfte gerne. Ich dachte, ich sei ziemlich gut. Mein Kummer war nur, daß meine Kriegskunst noch nie in einem echten Kampf auf die Probe gestellt worden war. Als Aikido-Schüler durften wir nicht kämpfen.
"Aikido", hatte mein Lehrer immer gesagt, "ist die Kunst der Versöhnung. Wer kämpfen will, hat seine Verbindung mit dem Universum unterbrochen. Wenn du versuchst, Menschen zu beherrschen, bist du schon besiegt. Wir lernen hier, Konflikte zu lösen, nicht sie anzufangen."
Ich hatte seinen Worten zugehört, und ich hatte es ernsthaft versucht. Ich war sogar soweit gegangen, den Chimpira aus dem Weg zu gehen, den Flipperpunks, die um die Bahnhöfe herumlungerten. Meine Geduld verschaffte mir ein Gefühl der Erhabenheit. Ich fühlte mich zugleich stark und heilig. In Gedanken jedoch wartete ich nur auf eine Gelegenheit, die es rechtfertigte, die Unschuldigen zu retten und die Schuldigen zu vernichten. Das ist sie! sagte ich mir, als ich aufstand. Hier sind Menschen in Gefahr, wenn ich nicht schnell handle, wird es wahrscheinlich Verletzte geben.

Als er mich aufstehen sah, erkannte der Betrunkene eine Chance, seine Wut auf ein Ziel zu richten.
"Aha!", brüllte er. "Ein Ausländer! Du brauchst sicher eine Lektion in japanischem Benehmen!"
Ich hielt mich lässig an dem Signalseil über mir fest und sandte ihm einen verächtlichen und abweisenden Blick zu. Ich hatte vor, diesen Truthahn auseinanderzunehmen, aber er mußte den ersten Schritt tun. Ich wollte, daß er explodierte, also spitzte ich meine Lippen und blies ihm einen unverschämten Kuß zu. "In Ordnung!", schrie er. "Du kriegst eine Lektion."
Er sammelte sich für einen Angriff. Doch einen Sekundenbruchteil, bevor er sich in Bewegung setzte, rief ihm jemand zu: "Hej."

Es war trommelfellzerfetzend. Ich erinnere mich genau an die seltsam freudige und fröhliche Art des Zurufs - als hättest du mit deinem Freund lange nach etwas gesucht und er sei gerade darüber gestolpert. "Hej."
Ich drehte mich nach links; der Betrunkene nach rechts. Beide starrten wir auf einen kleinen, alten Japaner. Er mußte wohl schon in den Siebzigern sein, dieser kleine Herr, wie er so dasaß in seinem Kimono. Von mir nahm er überhaupt keine Notiz, aber den Arbeiter strahlte er voller Freude an, als hätte er ihm das wichtigste und willkommenste Geheimnis mitzuteilen.
"Komm rüber", sagte der alte Mann in leichter Umgangssprache und lud den Betrunkenen ein. "Komm rüber, wir wollen miteinander reden." Er winkte ihm leicht mit der Hand.
Der große Mann folgte ihm wie an einem Faden. Er pflanzte seine Füße streitlustig vor den alten Herrn und überbrüllte das Rattern der Räder: "Warum sollte ich mit dir reden, verdammt noch mal?"
Der Betrunkene wandte mir nun den Rücken zu. Sollte sein Ellenbogen sich auch nur einen Millimeter bewegen, so wollte ich ihn in seine Socken hineinboxen.
Der alte Mann strahlt ihn immer noch an.
"Was hast du getrunken?", fragte er, und seine Augen blinkten vor Interesse.
"Ich habe Sake getrunken", bellte der Arbeiter zurück, "und es geht dich einen Dreck an."
Kleine Speicheltröpfchen trafen den alten Mann.
"O, das ist aber schön," sagte er, "wirklich schön. Du mußt wissen, ich trinke auch gerne Sake. Jeden Abend wärmen meine Frau und ich - sie ist 76, weißt du? - eine Flasche Sake auf und nehmen sie mit in den Garten. Dort sitzen wir dann auf einer alten Holzbank. Wir schauen zu, wie die Sonne untergeht, und wir sehen nach, was unser Persimonenbaum macht. Mein Urgroßvater hat den Baum gepflanzt, und wir machen uns Sorgen, ob er sich von den schrecklichen Eisstürmen erholt, die wir letzten Winter hatten. Unser Baum hat sich besser gehalten als ich fürchtete, besonders wenn man den schlechten Boden in Rechnung stellt. Es ist so eine dankbare Sache, ihn anzusehen, wenn wir unseren Reiswein trinken und draußen den Abend genießen - auch wenn es regnet!"
Er schaute den Arbeiter an und zwinkerte mit den Augen.
Während er versuchte, den Worten des alten Mannes zu folgen, begann das Gesicht des Betrunkenen sich zu besänftigen. Seine zu Fäusten geballten Hände lösten sich.
"Ja, ich habe Persimonen auch gern...", sagte er, und seine Stimme verlor sich.
"Ja", sagte der alte Mann lächelnd. "Und ich bin sicher, du hast eine wunderbare Frau."
"Nein", antwortete der Arbeiter. "Meine Frau ist gestorben."
Und ganz leise, sich im Rhythmus des Zuges hin und her bewegend begann der große Mann zu schluchzen. "Ich habe keine Frau mehr, ich habe kein Heim mehr, ich habe keine Arbeit mehr. Ich schäme mich so vor mir selber."
Tränen rollten über seine Backen, sein ganzer Körper verkrampfte sich vor Verzweiflung.
Jetzt war ich an der Reihe. Da stand ich in meiner jugendlichen Unschuld, mit meiner Gerechtigkeit, die die Welt für die Demokratie sichern wollte, und fühlte mich plötzlich dreckiger, als er es war.
Dann hielt der Zug an meiner Station. Als die Türen sich öffneten, hörte ich den alten Mann teilnehmend glucksen:
"Ach jemine, das ist aber wirklich eine schwierige Situation. Setz dich her und erzähl mir darüber."
Ich wandte den Kopf zu einem letzten Blick. Der Arbeiter lag ausgestreckt auf der Bank, sein Kopf im Schoß des alten Mannes. Der alte Mann strich ihm sanft über das schmutzige, verfilzte Haar.

Als der Zug weggefahren war, setzte ich mich erstmal auf eine Bank. Was ich mit meinen Muskeln hatte tun wollen, war nun mit guten Worten erreicht worden. Ich hatte gerade Aikido in der Bewährung des Kampfes gesehen, und das Wesen dieses Kampfes war die Liebe. Ich mußte diese Kunst anscheinend mit einem völlig anderen Geist ausüben. Es sollte wohl noch lange dauern, bevor ich über die Lösung von Konflikten würde reden können.



(Quelle: Terry Dobson, org. in Reader's Digest 1981; mit freundlicher Genehmigung des Agape-Ver¬lages aus:John H.Yoder,Was würden Sie tun?,deutsch von Wolfgang Krauß,1985,S.84ff)

Randale vor der Hütte

 Ein Telefonanruf rief uns zur Hilfe: Nächtliche Randale - das war die Absicht einiger faschistisch ausgerichteter Jugendlicher, die vor der Pressehütte standen. Sie machten einigen Aufruhr vor dem Haus. Zwei waren betrunken; die waren auch besonders aggressiv. Und sie belagerten die Tür. Einer von uns, ein Ami, ging zu dem einen an der Türe hin und bat ihn, daß er doch da weggehen solle. Der Betrunkene sagte, gut, gehen wir da auf die Straße. Und es war klar: Er wollte den Zweikampf.
Sie gingen vor, und der Ami stand einfach ganz ruhig da. Das machte den anderen ganz hilflos, und provozierte ihn auch. Er nahm den Ami und stieß ihn rückwärts über eine Bodenkante auf die Erde. Er schlug ihn und rüttelte an ihm. Doch dieser blieb weiter ruhig, ertrug es noch und sagte nur:
"Was hab' ich dir denn getan? Ich schlage niemand. Ich habe dich ja auch noch nie gesehen."
Da endlich kamen zwei andere von dessen Kumpels und zogen den Besoffenen weg. Es ging ihnen wohl doch zu weit, was hier geschah. Und sie sagten es dem auch.
Der Ami war - wie gesagt - in der Situation ganz ruhig; doch als wir nachher noch darüber sprachen, hat er sehr stark am ganzen Körper gezittert.



(Quelle: Ulli Laubenthal)

Streit ums Fernsehprogramm

Ich arbeitete als Sozialarbeiter in einer neugegründeten Wohngemeinschaft, in der sehr verwahrloste Jugendliche einen neuen Halt finden sollten.
An einem trüben Tag gerieten zwei Jugendliche in Streit, weil jeder ein anderes Programm im Fernsehen anschauen wollte. Ich selbst war gerade in einem anderen Raum. Plötzlich bekam der eine einen Wutanfall und warf das Fernsehgerät zum Fenster hinaus. Durch den Knall aufgeschreckt, rannte ich hinüber. Als ich erzählt bekam, was los war, schaute ich zuerst gleich zum Fenster hinaus. Gott sei Dank war das Gerät niemandem auf den Kopf gefallen.

Dann fragte ich den Burschen - 1,80 groß und viel stärker als ich - ob er verrückt geworden sei. Ich verlangte von ihm, daß er die Glassplitter aufkehren sollte. Er weigerte sich. Mittlerweile waren alle zehn Jugendliche im Raum versammelt und standen neugierig hinter ihm, um zu sehen was passieren würde. Er stand mir gegenüber und wurde in seinen Worten immer aggressiver. Ich merkte: wenn mir jetzt nichts einfällt, dann schlägt er zu. Da kam mir der rettende Einfall. Ich sagte zu dem langen Kerl: "Ich verstehe, Du kannst das bei Deiner schwachen Gesundheit nicht machen."
Und wandte mich an den Kleinsten: "Vielleicht kannst Du das für Ihn machen?"
Die Reaktion: der Lange brach in ein brüllendes Gelächter aus und die ganze Gruppe lachte mit. Der Kleine fing an zu kehren; doch nach einer Weile nahm der Lange ihm den Besen ab und kehrte selbst weiter. Die Situation war entspannt.



(Quelle: Fritz Karas, Köln)

Unerwartete Reaktion

Seit Monaten arbeite ich an einer Sammlung gewaltfreier Aktionen. Ich habe mich ganz in diese Haltung hineingedacht und hineingefühlt. Mit allen meinen Gedanken bin ich dabei. So kommt es mir eines abends gar nicht zu Bewußtsein, daß ich mich in einer gefährlichen Situation befinde: der Gang alleine als Frau durch eine ziemlich dunkle Seitenstraße.
Ich betrete eine Telefonzelle und führe ein erfreuliches Telefonat. Auf einmal wird die Tür aufgerissen. Eine Horde Randalierender steht vor mir, angetrunken, in schwarzer Kleidung mit viel Metall an den Lederjacken. Sie haben kahlrasierte Schädel, von denen ihnen oben die Haare zu Berge stehen; Nadeln sind in den Ohren zu sehen, und sie tragen Schlagringe und -ketten.
"Wird das Scheißhaus endlich frei?" brüllt der an der aufgerissenen Tür und schwingt drohend eine Bierflasche gegen mich.
Die Stimmung, in der ich mich befunden habe, ist so stark, daß ich mich auch jetzt nicht aus der Fassung bringen lasse. Strahlend wende ich mich zu dem Grölenden und sage ganz unbefangen und mit ruhiger Herzlichkeit: "Ja, gleich. Ich bin bald fertig. Prost."
Verblüfft bleibt ihm der Mund offenstehen, die Bierflasche trudelt ins Leere und die Tür fällt zu. Ich sehe die jungen Leute die Straße runterschlurfen; da ist irgendwie die Luft raus.
Im Nachhinein hab' ich überlegt, womit ich das eigentlich bewirkt habe. Wie gesagt: ich war allein, keine Vorsätze, keine besonderen Machtmittel. Ich denke, es kam daher, daß ich unerwartet reagiert und mich nicht auf Drohungen eingelassen hatte. Das Gewaltmuster griff dadurch nicht und lief ins Leere.

Ein gefährlicher Spaziergang

Vor Jahren habe ich in London an einer Ausbildung zum Community-Worker teilgenommen. Sie fand in einem Gemeinwesenzentrum im East-End nahe dem Hafen statt, einer 'arme-Leute'-Gegend. Es sah damals dort fast gespenstisch aus.In ganzen Straßenzügen waren die Fenster und Türen zugemauert, weil die einstöckigen Häuser zugunsten von Wohnblöcken abgerissen werden sollten.
In der Ausbildung wurde eine Technik angewendet, die man "overflooting" nennt. Das bedeutet, daß man stundenlang mit Informationen vollgestopft wird, was natürlich äußerst anstrengend ist. Deshalb beschloß ich am Abend gegen 22.00 Uhr noch einen Spaziergang zu machen. Von meinen Kollegen wollte keiner mitgehen, weil sie zu müde waren.

Ich ging also los; und als ich so eine viertel Stunde von unserem Zentrum entfernt war, hörte ich in einiger Entfernung Schritte hinter mir, was mich zunächst nicht beunruhigte. Das änderte sich jedoch, als ich in eine Seitenstraße abbog und die Schritte folgten. Ich drehte mich vorsichtig um und bemerkte in einiger Entfernung eine Gruppe von acht Jugendlichen, die schweigend hinter mir herzogen. Jetzt bekam ich Angst. Hatte ich doch in der Stadtteilzeitung von häufigen Überfällen gelesen. Ich blieb stehen, die Schritte verstummten. Ich ging schneller, die Gruppe auch. Da wußte ich Bescheid, die wollten was von mir. Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was sollte ich tun? Davonrennen? - Zwecklos - die jungen Leute wären sicher viel schneller als ich. Schließlich erinnerte ich mich an ein Rollenspiel, in dem unser Lehrer zeigte, daß es erfolgversprechend wäre, auf die Jugendlichen zuzugehen und sie um Hilfe zu bitten.

Da mir selbst nichts besseres einfiel und die Gruppe immer näher rückte, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen. Ich drehte mich um, ging auf die Jugendlichen zu, die stehenblieben und mich feindselig anblickten. Ich sagte in meinem schlechten Englisch: "Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht helfen? Ich bin ein Ausländer und habe mich verlaufen. Ich suche das Community-Center."
Da hellte sich das Gesicht des jungen Mannes, der vor mir stand auf und er sagte: "Selbstverständlich tun wir das, wir bringen Dich hin."
Sofort entstand in der Gruppe ein entspanntes Klima. Sie fingen an zu reden und geleiteten mich zum Zentrum. Dort lud ich sie noch zu einem Bier ein.

Unser Gemeinschaftsraum war leer. Die Kollegen waren nach dem anstrengenden Tag wohl schon im Bett. Wir ließen uns nieder, ich machte Musik an und wir tranken das Bier. Sie kannten, wie sie sagten, das Zentrum, nur von außen.
Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür und ein englischer Kollege wollte herein¬kommen. Er stutzte, als er die Gruppe sah, und machte schnell die Tür von außen wieder zu. Drinnen unterhielten wir uns noch eine Weile, wobei ich erfuhr, daß alle aus der Gruppe arbeitslos waren, und dann gingen sie friedlich. Sie sagten, sie wollten mal wieder kommen und sich das Haus ansehen.
Als sich die Tür hinter ihnen schloß, öffnete sich die Tür des Essraumes und alle meine Kollegen kamen heraus. Der Engländer hatte sie geweckt. Er kannte den Boß der Gruppe und wußte, daß dies die gefährlichste Jugendbande vom Eastend war. Die Kollegen wollten mir freundlicherweise helfen, falls die mich verprügeln würden. Da wurde mir nachträglich noch schlecht - vor Schreck.


(Quelle: Fritz Karas, Köln)

Donnerstag

Versuch es!

Ein Student der Universität Tokio, der sich von Herzen wünschte, sein Leben für etwas Aufregenderes einzusetzen als dafür, seine Reisschale zu füllen, geriet in einen Abendgottesdienst. Dort sah er vor dem Altar etwas, das sein Leben in eine für ihn vollständig neue Richtung umlenken sollte. Ein kräftiger, halb blinder, aber sehr energischer und offenbar kenntnisreicher Mann in einem billigen schwarzen Anzug hatte gerade seine Rede beendet. Aus der ersten Reihe erhoben sich etwa zehn Rowdys, stürzten sich auf den Redner und schlugen ihm mit langen Bambusstöcken über den Kopf.

Aber statt Ärger oder Furcht zu zeigen, stand der Mann, der die Schläge abbekommen hatte, einfach da. Zur Verwunderung aller zeigte das Gesicht des Redners, obwohl Wangen und Stirn blutig waren, keine Veränderung im Ausdruck.
Nachdem die Angreifer ihre Stöcke hatten sprechen lassen, führte er die Gemeinde zum Gebet. Nach dem Amen lud er die Rowdys zu einem Gespräch in die Sakristei ein. Es dauerte nicht lange und sie entschuldigten sich.

Toyohiko Kagawa wurde nun zum neuen Helden des Studenten. Von da an widmete er sich der sich ausbreitenden kooperativen Bewegung und nicht mehr dem Kommunismus.
„Wie oft standest du im Shinkawa-Slum oder anderswo unmittelbar dem Sterben durch Pistole oder Schwert gegenüber?“ fragte ich Kagawa einmal. „Ein dutzend Mal?“
Er schmunzelte. Offensichtlich war es öfter gewesen.
„Hundert Mal?“
„Ja, vielleicht hundert Mal.“
Gefahren schienen ihm zu gefallen. Er fühlte eine solche Sicherheit in sich, dass er es sich leisten konnte, ohne äußere Sicherheit auszukommen.

Als Kagawa einundzwanzig gewesen war, hatte er an einem Weihnachtsabend seine Besitztümer, in der Hauptsache Bücher, auf eine Schubkarre geladen und hatte sie den schmalen, schmutzigen Weg zu seinem neuen „Zuhause“ gebracht. Es war ein Zimmer von etwa zwei mal drei Metern an einem der elendesten Orte der Welt. Um ihn herum wohnten Mörder, Schwachsinnige, Prostituierte, Verrückte und Trinker. Nachts waren die Wanzen so schlimm, dass er gezwungen war, humorvoll mit ihnen umzugehen. Als er entdeckte, dass sie sich gerne in kleinen Löchern aufhielten, ersann er ein Spiel. Bevor er schlafen ging, umgab er sich mit Holzklötzchen, in die er kleine Nischen gebohrt hatte. In diesen ließen sich seine Peiniger nieder und warteten dort auf die gute Mahlzeit, die sie einnehmen würden, wenn Kagawa erst einmal eingeschlafen wäre. Dann schüttelte Kagawa mitten in der Nacht die Holzklötze einen nach dem anderen über den Fußboden. Wenn die Wanzen wegrannten, zerquetschte er sie dort. Es waren ein- oder zweimal mehr als fünfzig.

Das Zimmer kostete fünf Cent am Tag. Es war darum so billig, weil auf dem Boden ein Fleck war. Dort hatte ein Ermordeter sein Blut vergossen und da sein Geist hätte lästig werden können, wollte niemand in dem Zimmer wohnen. Kagawa wusste nicht, ob es Geister gebe oder nicht. Das wäre eine gute Gelegenheit, das herauszufinden. Er schlief direkt über der Stelle mit dem Fleck. Wenn überhaupt irgendwo, dann wäre das der Ort, an dem der Geist erscheinen würde. Aber zunächst geschah nichts. Dann wachte der Schläfer unruhig auf, als wäre ein Fremder im Zimmer. Er öffnete die Augen. Im Gang stand ein betrunkener oder angetrunkener Gangster mit erhobenem Schwert. Kagawa sah, wie sich das Mondlicht in der Klinge spiegelte. Wenige Sekunden später würde sie ihm wahrscheinlich ins Fleisch fahren. Er kniete nieder und neigte sich im Gebet: Er erwartete den tödlichen Schlag. Einen Augenblick später sagte der Mann im Flur: „Kagawa, liebst du mich?“
„Ja“, sagte Kagawa.
Dann trat eine Pause ein. Die Stimme sprach weiter, dieses Mal von Nahem: „Hier ist ein Geschenk.“ Kagawa fühlte den Griff des Schwertes in seiner Hand, das der Mann, bei sich getragen hatte.

Einer der gefährlichsten Fälle war ein Alkoholiker. Er wohnte ein paar Türen weiter die Straße hinunter. Kagawa schrieb eine Kurzgeschichte. Er wollte sie verkaufen, um mit dem Geld Medizin für Kranke in der Gemeinde zu kaufen. Der Desperado kam in Kagawas Zimmer und wackelte am Tisch.
„Gib mir zwei Yen oder ich will den ganzen Tag lang an deinem Tisch wackeln.“
„Nein, einer reicht.“

Später verlangte der Mann, der inzwischen bei Kagawa wohnte, Geld für Schnaps. Kagawa wies die Forderung zurück. Der Mann schlug seinen Gastgeber heftig auf den Mund. Dabei schlug er ihm vier Vorderzähne aus und brach ihm vermutlich den Kiefer. Wenn sich Kagawa daran erinnerte, dann scherzte er mit seinen amerikanischen Zuhörern: „Darum spreche ich kein gutes Englisch. Die falschen Zähne wurden mir von einem japanischen Zahnarzt eingesetzt.“ Der Gangster schlief weiterhin auf dem Fußboden neben Kagawa und aß von seinem Reis.
Bei anderer Gelegenheit ging er mit dem Schwert auf Kagawa los. Das Trinken hatte ihn verrückt werden lassen. Diesmal sah es aus, als würde er ernst machen. Die Umstehenden schrieen: „Tu dem Lehrer nichts!“ Kagawa sagte ihnen, sie sollten aus dem Weg gehen. Das gehe nur ihn etwas an. Er wusste, dass das Schwert seines Nachbarn blutig war. Er wollte nicht, dass noch andere mit hineingezogen würden.

Als Junge hatten ihm Geschichten über Schwertkämpfe sehr gefallen. Er hatte oft das große Schwert seines Vaters geschwungen, wenn seine Pflegemutter gerade nicht hinsah. Er stand dann da wie ein Schwertkämpfer, einen Fuß vor dem anderen. Ohne zu lächeln oder zu sprechen – das würde seinen Gegner nur herausfordern – sah er dem anderen gerade und tief in die Augen, tief in etwas, das er vielleicht, wenn er die richtige Haltung einnähme, erreichen könnte. Jeden Augenblick könnte er einen scharfen Stoß in den Körper erhalten. Aber er stand fest und zwinkerte nicht. Etwa zehn Minuten lang waren, ohne dass sich die Körper bewegten, die beiden Willen in einen Kampf auf Leben und Tod aneinander gefesselt. Dann war der Kampf plötzlich vorbei. Sein Schwert schlenkerte wie ein dummes Spielzeug. Kagawas Gegner schlich sich davon.

Wenn Kagawa die Wahl der Waffen hatte, schien er gerne zu kämpfen. Einmal nahm er mit derselben Energie den Kampf mit tausend wütenden und gewaltbereiten Streikenden auf – und gewann. Als er am Sonntagmorgen den Gottesdienst in seiner Kirche in den Kobe-Slums abhielt, wiegelten einige Agitatoren die Arbeiter auf und nun marschierten sie die Straße hinunter geradewegs zu den Kawasaki-Docks. Sie wollten die Maschinen zerstören. An den Docks standen Hunderte mit Schwertern bewaffnete Polizisten, dazu Soldaten mit geladenen Gewehren. Wenn der Zug nicht abgedrängt werden könnte, würde ein schreckliches Gemetzel stattfinden.

Als Kagawa von der Situation hörte, brach er seinen Gottesdienst ab, warf sich in eine Rikscha – er konnte wegen seiner schwachen Lunge nicht den ganzen Weg rennen – und sprang gerade noch rechtzeitig am Ende einer abfallenden Straße wieder aus der Rikscha heraus. Die Streikenden kamen mit der Kraft eines Gebirgsflusses auf ihn zu und skandierten „Waschu! Waschu!“
Kagawa stand ihnen allein gegenüber. Jahre später erzählte er mir: „Als die ersten Reihen dort ankamen, wo ich stand, sah ich jedem Einzelnen gerade in die Augen und betete: ‚Gib uns Frieden!’ Mein Gebet wurde erhört, denn sie ließen sich aufhalten. Da war ich mit meiner Seele im Frieden. Danach wusste ich plötzlich, dass ich auf der Seite Gottes war.“

Die Streikenden bogen in eine Seitenstraße ein und ließen die Docks unbehelligt. Kein einziger Schuss fiel. Die Gewerkschaft war gerettet. Ihr Ratgeber jedoch wurde ins Gefängnis gesperrt.
Die Wärter versuchten Kagawa zu demütigen, indem sie ihn zwangen, einen Frauenkimono zu tragen. Aber er reagierte nicht auf die Beleidigung, sondern schrieb Gedichte auf Toilettenpapier. Einige davon kann man jetzt in seinem Buch „Songs From the Slums“ lesen.

Als Japan widerrechtlich die Chinesen angriff, schrieb er ein Gedicht, in dem er diese um Vergebung bat. Auch auf andere Weise legte er deutlich Zeugnis für seine Einstellung gegen das Kriegssystem ab. Weniger als zwei Jahre vor Pearl Harbor wurde er länger als zwei Wochen eingesperrt, weil er gegen den Militarismus protestiert hatte. Gegen die Mücken verteidigte er sich sehr erfindungsreich: Er zog sich den Mantel über den Kopf und ließ nur die Nasenlöcher frei. Er versteckte seine Hände, setzte sich auf den Boden, lehnte sich an die Wand und meditierte zwei Tage und Nächte lang fast ununterbrochen. Als er bemerkte, welchen Weg die Zivilisation einschlug, war er zuerst „enttäuscht“. Dann fühlte er sich allmählich auf die Ebene unwiderstehlicher Freude der Gegenwart Gottes erhoben.

Einige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste er in die etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Wälder fliehen. Fanatische Nationalisten hatten seine Exekution gefordert, weil das Gerücht umging, dass die Amerikaner, wenn sie Japan einnähmen, Kagawa zum Premierminister machen würden.
Nach dem Krieg verbrachte er die Hälfte seiner Zeit damit, Sozialprogramme zu leiten, und die andere Hälfte damit, Menschen in Japan für seine Grundüberzeugung zu gewinnen:
„Die Liebe ist ein Macht“, sagte er. „Versuch es! Versuch es!“ Er hatte es getan.

Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.








„Bitte dein Taschentuch“

Eines Tages wurde in der Universität einer der Studenten so wütend darüber, wie die Diskussion verlief, dass er Patrick Lloyd ins Gesicht spuckte. Damals war Pat Tutor. Er hatte die Aufgabe, den Teilnehmern seiner Diskussionsgruppe zu zeigen, wie sie auf Herausforderungen kreativ reagieren könnten. Aber das hatte niemand erwartet! Sein Herz begann zu rasen. Er ballte die Fäuste. Sein irisches Blut schien die Oberhand zu gewinnen, aber nicht für lange.

„Würdest du“, hörte Pat sich zu seiner eigenen Überraschung vollkommen ruhig und in freundlichem Ton sagen, „mir bitte dein Taschentuch leihen?“
Der junge Mann, der Pat ins Gesicht gespuckt hatte, war noch überraschter über die ruhig gesprochenen Worte. Wie im Trance langte er in seine Tasche und reichte Pat sein Taschentuch. Dann wurde er allmählich rot. Er wurde von einem Ohr bis zum anderen rot, so dass Pat in Verwirrung geriet.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

Unverbesserlich christlich

Am Abend um zehn (dies wurde vor Oktober 1950 geschrieben, als er seine Arbeit als Grubenarbeiter wieder aufgab) nimmt ein teilweise kahler, recht dunkelhäutiger, athletisch aussehender Franzose in einem Overall, einundvierzig Jahre alt, seine Arbeit in einer belgischen Kohlengrube in Quaregnon auf. Er wird täglich außer sonntags acht Stunden unter Tage arbeiten. An den Sonntagen singt, predigt und betet er in seiner Kirche. Er leitet Gesprächsgruppen, ermutigt ehemalige Alkoholiker und lehrt Jugendliche zusammenarbeiten. Sein Zeitplan verlangt fast übermenschliche Kräfte.

Philippe Vernier ist vielleicht nicht von dieser Welt. Aber sicherlich ist er in ihr. Er ist so tief mit ihr verbunden, dass man mit Sicherheit sagen kann: Kaum jemals, wenn überhaupt, hat ein Mensch solche Erfahrungen gemacht und ist aus diesen Prüfungen mit einem reicheren Geist und einem stärkeren Körper hervorgegangen.
Er ist ein Mann, dessen Nest der Himmel ist. Dort liegt seine Sicherheit und nicht auf dem Boden, kuschelig warm zwischen beschützenden Zweigen und Gräsern, umgeben von Distelwolle. Wie Homers Seevogel „freut er sich seiner Schwingen“.

Wozu, so fragt er mit dem heiligen Franziskus, sind die Diener Gottes auf der Erde da, wenn nicht dazu „die Herzen der Menschen zu erheben und sie zur himmlischen Freude einzuladen?“
Das Recht darauf hat er sich verdient. 1933-1935 verbrachte er etwa zwei Jahre in Einzelhaft, weil er einer Methode treu war, die sich vollständig von der des Tötens unterschied. Während er in der Einzelzelle saß, nahm er die Gewohnheit an, seine Meditationen aufzuschreiben. Es bedurfte Jahre später großer Überzeugungskraft, ihn dazu zu bringen, dass er ihrer Veröffentlichung zustimmte. In einer dieser Meditationen stellt er Überlegungen zu zwei Arten von Mut an: „eine, die schlägt, und eine, die erträgt und liebt … Die zweite nimmt an und fängt den Schlag auf, anstatt ihn zurückzugeben.“ Dieser überlegene Mut, mit dessen Hilfe ein Mensch Tag für Tag ohne Zeugen und ohne Lob durchhalten kann, „verwandelt den Sturzbach des eigenen Wesens mit seinen Überschwemmungen und Dürren in einen schiffbaren Fluss“ (zitiert nach: „With the Master“ von Philippe Vernier, Fellowship Press, 21 Audubon St., New York).

Philipps Leben war anscheinend immer so gewesen. Kein französischer Kerker konnte sein Singen zum Schweigen bringen.
Er gestand mir viele Jahre später, dass er während dieses Martyriums „Wunder und Freude erlebt hatte. Gott war mir so nah und so real, dass mich das manchmal fast überwältigt.“ Als er einmal in hochgemuter Stimmung zu singen begann, ärgerte das einen Wächter so sehr, dass er den jungen Mann acht Tage lang an einer besonderen Strafzelle isolierte. Dort gab es weder einen Hocker noch eine Pritsche, nur eine Steinbank. Die Hälfte der Zeit bekam er nur Wasser und Brot. Aber dieses Erlebnis war weit davon entfernt, ihn zu ducken, es half ihm im Gegenteil dazu, sich zu erheben. Diese acht Tage, sagte er (und ich werde niemals vergessen, wie er seine Arme ausbreitete, als er sich daran erinnerte, wie sein Geist befreit wurde) – diese acht Tage waren „ein Lied in der Tiefe meines Herzens. Ich empfand das Glück eines Kindes, das gerettet worden war. Mir war, als ob ich auf einem Meer gewesen wäre, alle wären ertrunken und dann ergriffen mich Gottes Arme und hoben mich in die Höhe!“

Nach der Zeit in Einzelhaft verbrachte er weitere fünf Monate „mit den anderen“ und arbeitete als Friseur. Einer seiner Mithäftlinge war ein junger Schwarzer, der im Gefängnis saß, weil er einem weißen Offizier ins Gesicht geschlagen hatte. Was Verniers Freundlichkeit für diesen bedeutete, wird durch das folgende Ereignis deutlich. Der Schwarze benahm sich eines Tages auffällig gewalttätig. so dass er erwarten konnte, mit besonderer Strenge bestraft zu werden. Er hoffte, dass er in der Nähe seines weißen Freundes eingesperrt würde. Diese Hoffnung erfüllte sich. In dieser Nacht hörte Vernier eine bekannte Stimme auf dem Korridor.
„Wie bist du denn hierher gekommen?“ rief er.
Der andere erklärte seine Strategie. Die beiden in ihren voneinander getrennten Zellen lachten gemeinsam.

Immer wieder erwies sich in dem Prozess, der zu seiner Verurteilung zu einer langen Haftstrafe führte, seine Anziehungskraft und seine Führungsstärke. Der Vater eines Elfjährigen erzählte, wie dieser junge Pastor, als er in Lille mit Benachteiligten arbeitete, seinem Sohn wie ein älterer Bruder gewesen sei. Der Junge starb an Meningitis. Wenn die Schmerzen für ihn unerträglich wurden, fragte er nach Vernier, weil der der Einzige war, der ihn beruhigen konnte. Vernier betrat dann den Krankenraum, ging zu seinem Bett, legte dem Jungen die Hand auf die Stirn und betete. Der Patient schlief dann ein, aber zuvor murmelte er erleichtert, „Danke, Philo, danke!“

Vernier liebt sein Heimatland wie nur wenige – und zwar auf eine Weise, die mit seinem Gewissen übereinstimmt. Es wäre für ihn eine Art Verrat, wenn er Waffen benutzte, um etwas so Kostbares zu verteidigen. Das kann natürlich ein Militärgericht nicht verstehen. Ein Gerichtspräsident, vor dessen Gericht er stand, weil er sich geweigert hatte, eine Militäruniform anzuziehen, argumentierte so: „Sie sprechen von der menschlichen Bruderschaft, aber könnten sie diese nicht besser predigen, wenn Sie nicht im Gefängnis wären?“
Vernier antwortete: „Predigen ist nicht das Einzige. Wenn Sie zugeben, dass es geistige Werte gibt, dann müssen Sie anerkennen, dass man Gott und der Menschheit auch mit rein geistigen Mitteln dienen kann. Dazu gehört auch das Gebet.“
„Aber auch Gebet ist nicht das Einzige“, antwortete der Präsident. „Es gibt auch Worte. Sie als Pastor haben eine Kanzel zur Verfügung, um die Gute Nachricht zu verbreiten.“
„Aber“, sage Vernier höflich, aber bestimmt, „wenn ich mit etwas beginne, das ich als Verrat ansehe, dann haben meine Worte keinen Wert mehr. Ich kann nur sprechen, wenn ich mein Verhalten und meinen Glauben in Übereinstimmung miteinander gebracht habe.“
Der Präsident erwiderte, dass wir Menschen nun einmal „nicht im Absoluten leben“.
„Wenn Christen dem zustimmen“, sagte Vernier, „dann verweigern sie die Grundlagen des Dienstes an Jesus Christus.“

Das war fünf oder sechs Wochen vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Als Europa zum zweiten Mal in Angst und Hass aufflammte, verließ Vernier, obwohl er nun Pastor einer Missionskirche bei den Grubenarbeitern in Belgien in der Nähe von Mons war, seine Freu und sein Kind und meldete sich sofort bei der Militärbehörde in Frankreich, um sich als christlicher Kriegsdienstverweigerer eintragen zu lassen.

Nachdem er vier Monaten im Gefängnis gewesen war, wurde er zu weiteren vier Jahren verurteilt. Aber zuvor legte er vor dem Militärgericht folgendes Zeugnis ab:
„Ich will mit meiner Haltung durchaus weder ein Urteil über irgendeinen von Ihnen noch über die, die kämpfen, ausdrücken. Nicht durch eine Theorie wird einer zum Christen, sondern durch die Integrität des Herzens, und ich weiß, dass viele Offiziere und Soldaten bessere Menschen sind als ich. Ich bin nur ein armer Sünder, voller Fehler und in vielerlei Hinsicht schlechter als sie. Aber ich glaube, dass es an diesem Tag und an diesem Ort meine Pflicht ist, klar und deutlich meine Überzeugung darzustellen. Sie sehen das vielleicht als eine rein intellektuelle Angelegenheit an, dass die Bibel den Krieg nicht heilig sprechen kann und dass es mir unmöglich ist, einen Menschen zu töten … Zu einigen Zeiten gab es in der Geschichte eine Art christlicher Offensive. Da wurden gewisse fest etablierte Theorien bekämpft. Es war z. B. einmal möglich, Christ zu sein und trotzdem Sklaven zu besitzen. Aber eines schönen Tages kämpfte eine christliche Offensive gegen diese Idee und triumphierte über sie. Ich bin davon überzeugt, dass, wenn Christen und die Menschen im Allgemeinen ihre Ansichten über den Krieg nicht ändern, sie zugrunde gehen werden. Ich gründe mich auf christliche Prinzipien….Trotz der Dunkelheit, in der wir uns befinden, trage ich eine sehr große Hoffnung in mir: Ich hoffe auf die Macht Gottes.“

Etwa drei Monate später sprengte eine explodierende Bombe die Tür des Gefängnisses. Vernier machte sich auf den Nachhauseweg. Sein Bruder war bei ihm. Ihre Reise verlief nicht besonders ruhig. Beide wurden zweimal zum Tode verurteilt: das erste Mal von der Landespolizei, die sie in eine Art Turm sperrte. Die Polizisten beschuldigten sie, zur 5. Kolonne zu gehören und schuld an der Niederlage zu sein. Aber da ihr Hauptmann nicht da war, durften sie sie nicht erschießen. Dann kamen die Deutschen und die Polizisten rannten weg. Die Männer im Turm vergaßen sie. Die beiden Brüder hatten vergeblich versucht, die Tür mit deinem Eimergriff aufzubrechen. Aus Verzweiflung waren sie dann eingeschlafen. Am nächsten Morgen kam ein Polizist und öffnete ihnen die Tür. Als er ihre Geschichte und ihre Gründe für die Kriegsdienstverweigerung gehört hatte, sagte er, sie hätten Recht. Dann umarmte er sie und ließ sie gehen.

Das zweite Todesurteil fällten die Deutschen, die sie gefangen nahmen, als sie ihrer Wege gehen wollten. Wieder hatten sie Glück. Auf dem langen Marsch flüsterte ihnen an einer Straßenbiegung ein alter Mann zu: „Lauft nach links, Jungs!“ Unbemerkt schlichen sie sich nach links aus der Reihe, liefen sehr schnell und versteckten sich 24 Stunden lang in einem Heuhaufen. Zwei Tage danach erreichten sie auf Seitenwegen Le Cambon in den Hügeln Frankreichs. Schließlich kehrte Philippe nach Quaregnon in Belgien zurück, wo seine Familie und seine Gemeinde waren.

Seine Frau Henriette war so heldenhaft und humorvoll wie er. Ihr drittes Kind, ein Junge, wurde fast wörtlich zwischen fallenden Bomben geboren – es waren unsere (amerikanische) Bomben. Eins unserer Kirchenmitglieder ging sie ein paar Tage später besuchen. Es war ein Oberst, der unter erheblicher Gefahr zum „Pfarrhaus“ vordrang. Er brachte als Zeichen der Anerkennung durch unsere Kirche Frau Vernier 150.000 $ in Francs. In seinem Brief vom 6. Februar 1945 stellt er seine Eindrücke dar:

„Nicht oft wird einem Menschen während seines Lebens Gelegenheit gegeben, ins Himmelreich eingetreten zu sein. Aber genau das empfand ich, als ich das Haus Vernier verließ … Als ich an die Tür klopfte, erschienen zwei Engel auf der Schwelle. Zwar hatten sie keine Flügel, aber die Kinder mit den strahlenden Augen, die mich begrüßten, gaben mir das Gefühl, dass ich vor der Himmelspforte stand und von zwei Cherubim hereingebeten wurde. Auf meine Frage antworteten Sie: ‚Papa ist nicht zu Hause’, dann gingen sie ihre Mutter holen. Als sie in den Flur trat, erkannte ich an der Güte in ihrem Gesicht, dass ich einer geheiligten Person gegenüberstand. Sie war höchst erfreut über eure Nachricht und die bescheidene Gabe. Vielleicht war es ebenso gut, dass ihr Mann zu diesem Zeitpunkt einen Gottesdienst in seiner Gemeinde abhielt, denn ich stelle ihn mir gerne weiter so vor, wie ihr ihn in eurem Brief beschrieben habt und wie er in den Beschreibungen der Menschen des Stadtteils erscheint – ja, sicherlich wie der heilige Franziskus. … Ich erfuhr, dass das Geld nicht in der Familie Vernier bleiben, sondern dass es dafür verwendet würde, die zu unterstützen, denen die Familie in allen diesen Jahren so aufopfernd gedient hatte. … Ich war neun Stunden in einem Eisenbahnwagen der Armee unterwegs gewesen und schließlich halb erfroren an meinem Bestimmungsort angekommen. Das waren die kältesten Stunden, die ich je erlebt hatte, aber die Wärme des Hauses, das ich betrat, machte mir klar, dass meine Leiden im Vergleich mit all den Leiden, denen diese Menschen in den letzten fünf Jahren unterworfen gewesen waren, keinerlei Bedeutung hatten.“

Nach dem Krieg war als ein Zeichen ihres Glaubens an das Leben Philippe und Henriette ein zweiter Sohn geboren worden. Die Jahre danach waren voller Arbeit, aber es gab keine Verwirrungen mehr. Ein Mitpastor gab einmal die folgende Beschreibung: „Philippe ist der Organisator, Leben und Seele einiger Ferienlager. Er ist ihr Athlet, Koch, Assistent und Pförtner, der unermüdliche Erzähler aufregender Geschichten, Autor von Theaterstücken und Schauspieler. Sie hätten ihn dabei sehen sollen, wie er den Chorgesang von hundert Jungen leitete. Er wiegte mit dem Klang seiner Flöte die Kinder in den Schlaf, bis er selbst einschlief.“

Diese Darstellung scheint zwar übertrieben, aber sie ist dennoch wahr. Nur dass Philippe ständig neue und dringendere Aufgaben übernimmt. Nachdem die deutsche Besetzung vorüber war, schrieb er, er wolle die Erfahrungen seines Lebens dazu verwenden, „einen weiteren Krieg unmöglich zu machen.“ Einige Jahre später schrieb er, dass er Fortschritte in dieser Richtung plante, indem er „versuchte, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jeder immer mehr etwas gibt und empfängt, anders als in einer klerikalen Organisation, in denen der Pastor die spirituellen Aktivitäten monopolisiert … Seit Anfang Oktober arbeite ich als Grubenarbeiter in einer Kohlengrube im Ort. Das tue ich teilweise, um mich besser in dieses Gemeindekonzept einzubringen, und teilweise auch, um in engeren Kontakt mit den Grubenarbeitern zu kommen, unter denen ich seit zehn Jahren lebe. Das gibt mir Gelegenheit zu wunderbaren Kontakten mit meinen neuen Kameraden: Belgiern, Italienern, Deutschen, Polen, Ungarn, Litauern und anderen. … Für gewöhnlich schlafe ich am Morgen und verrichte meine Arbeit für die Kirche nachmittags und abends.“

Niemand kann Philippe Vernier mit einem einzigen Satz zutreffend charakterisieren. Allerdings gelang das fast einem verärgerten Armeeoffizier. Zwar kann sein Freund die Tatsächlichkeit dieser Geschichte nicht beweisen, jedoch ist Vernier zu wahrheitsliebend, um sie zu leugnen. Es war etwa fünfzehn Jahre zuvor. Der Offizier hatte sein Bestes getan, diesen intelligenten, bescheidenen, vitalen, fröhlichen und freundlichen Gefangenen mit dem eisernen Willen dazu zu bringen, sich zu fügen. Die Armee hatte monatelang ohne Erfolg die alten Techniken bei ihm angewendet. Danach sollte dieser Offizier einen Schlussbericht anfertigen. Dahin, wo zu diesem Zweck in dem Formular Platz gelassen war, kritzelte er verzweifelt: „Unverbesserlich christlich.“


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.

„Lieber will ich sterben“

Im Oktober 1948 wurde in Sunchon, Südkorea, während eines Aufstandes der Kommunisten Dong-In in seinem Zimmer überfallen. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und Vorsitzender der „Y“ im dortigen College. Wegen dieses Postens wurde er von den Kommunisten geschlagen. Dann brachten sie ihn in eine Polizeistation, damit er dort erschossen würde. Sein neunzehn Jahre alter Bruder Dong-Schin, der auch misshandelt worden war, ging freiwillig mit.

Als Dong-In an die Reihe kam, schrie ihn ein Studienkamerad, der die Kommunisten anführte an, er solle seinem Glauben abschwören. „Wenn du das tust“, sagte er, „kannst du gehen.“
Aber Dong-In wollte lieber sterben. „Ich kann eher mein Leben als meine Religion aufgeben“, sagte er. Dann hörte er, wie sein jüngerer Bruder die Kommunisten darum bat, dass sie ihn statt Dong-In erschießen mögen. Da bat er sie, den Jungen nach Hause zu schicken. Bevor er niedergeschlagen wurde, betete er: „Nimm meine Seele auf und vergib mir meine Sünden.“

Das rettete aber Dong-Schin nicht. Der kommunistische Anführer war wütend darüber, wie er sich weiterhin zu seinem Glauben bekannte, und schrie: „Dieser Kerl ist ja noch schlimmer als sein Bruder!“
Bevor er neben seinem Bruder zu Boden fiel, hörte man Dong-Schin Gott für die, die ihn töteten, um Vergebung bitten.

Diese Einzelheiten können nicht verifiziert werden, aber ein mit dem Vater befreundeter Lehrer, der ein paar Tage später die Szene betrat, hat die Vorgänge rekonstruiert. Er hatte sich als Bettler verkleidet und war durch die Linien geschlichen, um herauszufinden, ob das Gerücht über die Hinrichtung der beiden auf Tatsachen beruhte. In der Nähe der Polizeistation fand er die Leichen der beiden Söhne zwischen anderen Leichnamen, begrub sie und kehrte mit der traurigen Nachricht zum Vater zurück. Dieser war unter dem Namen Pastor Sohn bekannt. Zur Zeit der Ereignisse leitete er einige Kilometer entfernt eine Schule für Leprakranke. Als er davon hörte, galt seine erste Sorge dem Kommunisten, der seine Söhne ermordet hatte.

Er würde den jungen Mann in seine Familie aufnehmen und er würde versuchen, aus ihm einen Christen zu machen. Er sollte Dong-Ins Platz einnehmen. Inzwischen war die Revolte zusammengebrochen, so dass nun das Leben des Jungen in Gefahr war. Deshalb schickte Pastor Sohn eine eilige Botschaft an seinen guten Freund Pastor Ra, der in Sunchon der Kirche diente, er möge zum Befehlshaber der Regierungstruppen gehen und ihn bitten, das Leben des Mörders zu schonen.
Pastor Ra sah sich unter den gefangenen Aufrührern um und fand schließlich, gerade noch rechtzeitig, den jungen Mann. Das Erschießungskommando wollte schon in Aktion treten. Es wurde von Studienfreunden der beiden Ermordeten dazu gedrängt, die „Gerechtigkeit“ forderten. Pastor Ra erklärte dem Anführer, dass er den Vater vertrat. „Pastor Sohn“, sagte er, „will nicht, dass dieser Gefangene getötet oder auch nur geschlagen werde. Er bittet sie, dass sie ihm die persönliche Verantwortung für ihn überlassen. Er will ihn an Kindes Statt annehmen und ihn zu einem christlichen Führer erziehen.“
Aber das sei übermenschlich, wandte der Offizier ein. Kein Vater könne zulassen, dass irgendjemand seinem Sohn ins Gesicht schlage!
„Dieser Vater kann das“, antwortete Pastor Ra.
Der junge Mann wurde nach Hause geschickt. Als Pastor Sohn ihn einige Tage später zur Rede stellte, gab er seine Schuld offen zu und bereute seine Tat aufrichtig.

„Ich vergebe dir“, sagte Pastor Sohn freundlich, „wie mir mein himmlischer Vater vergibt.“
Der Vater des Jungen bot Pastor Sohn seine vier Söhne an, um zu zeigen, wie er empfand. Aber Pastor Sohns Herz umschloss nur den einen. Seine Hoffnung sei, sagte er ohne Umschweife, dass der Junge zum Christen werde, das Werk seiner beiden eigenen Söhne fortsetze und auf diese Weise Gottes Willen erfülle. Aber der andere Vater ließ sich nicht abweisen. „Sie haben eine Tochter, die dieselbe Schule besucht wie eine meiner Töchter“, sagte er. „erlauben Sie, dass sie in unserem Hause lebt. Sie wird uns dabei helfen, das Christentum zu verstehen. Außerdem werden Sie, wenn ihre Tochter bei uns lebt, öfter zu uns kommen und mich unterweisen.“

Dong-Hi gefiel das zunächst durchaus nicht, dann aber wurde sie darauf hingewiesen, dass das ihre Gelegenheit war, Zeugnis für das abzulegen, wofür ihre Brüder hatten sterben wollen.
In Zeiten von Guerillakämpfen ist es schwierig, zuverlässige Informationen zu bekommen. Die Geschichte, wie ich sie bis hierher erzählt habe, wurde von Frau Geraldine Fitch weitergegeben, die sie aus einer koreanischen Broschüre ins Englische übersetzte. Für das Folgende verbürgt sich Alvin Bro, der im Außenministerium arbeitet. Am 4. April 1950 schrieb er begeistert aus Korea über eine Gemeinschaft, die weithin als Atomic Love (atomare Liebe) bekannt wurde. „In den letzten sechs Monaten“, so berichtet er, „veränderte sich das Leben vieler Menschen dort von Grund auf.“
Der Motor dieser verändernden Kraft, fügte er hinzu, sei ein koreanischer Pastor mit Namen Sohn, der einen großen Teil seines Lebens den Leprakranken in einer Inselkolonie in der Nähe von Sunchon gewidmet habe. Alvin Bro fasste das, worüber hier schon berichtet wurde, kurz zusammen und sagte, dass der Kommunist, der die beiden Studenten getötet hatte, als Sohn im Hause des Pastors lebte. Aber das war nicht alles. Die Tochter des Pastors hatte ihre eigene Familie verlassen, um bei der Familie des Mörders „als Tochter“ zu leben. Nach einigen Monaten wurde Pastor Sohns Dorf von den Kommunisten angegriffen. Als sie näher kamen, baten ihn wohl Freunde, das Dorf zu verlassen. Es muss eine schwere Entscheidung für den Leiter des Dorfes der Atomic Love gewesen sein: Korea würde Menschen wie ihn dringend brauchen. Aber was würde mit denen geschehen, die nicht fort konnten?

Pastor Sohn entschloss sich offenbar dazu, bei den leidenden Menschen zu bleiben. Er tat das und wurde erschossen. Man sagt, dass damals, als er durch den befreundeten Pastor erfolgreich für das Leben des Mörders seiner beiden Söhne, der schon vor dem Erschießungskommando stand, eingetreten war, ein Mitglied des Kommandos so tief vom vergebenden Geist des Pastors erschüttert war, dass er den Kolben seines Gewehrs auf den Boden stieß und ausrief: „Ist Jesus so gut? Dann will ich von nun an Christ sein.“
Wie dem auch sei, jedenfalls können wir sicher sein, dass diese Art Energie, die von der Familie Sohn freigesetzt wurde, immer noch eine „radioaktive“ Kraft in Südkorea ist. Und, wer weiß, vielleicht auch im Norden, wo der Totalitarismus sich immer noch behauptet.


Aus dem Buch: 
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
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Ein nicht hässlicher Amerikaner -

„In der Grundschule war ich eine Heulsuse“, gestand G. ganz offen dem Militäranwalt, der ihn befragte, um herauszufinden, ob G., als er einberufen worden war, der Status eines Kriegsdienstverweigerers zuerkannt werden sollte. In der Highschool dauerte es dann nicht lange, bis er herausfand, dass er daran etwas ändern musste, wenn er für die Friedensarbeit in der Welt von irgendeinem Nutzen sein wollte. Also trainierte er sich im Ringen.

Im College nahm er dann an Ringkämpfen teil und stellte sich vor, wie sich wohl sein Gegner fühlte. Wenn er ihn am Boden festhielt, flüsterte er ihm, bevor er ihm erlaubte, sich aufzurichten, etwas Ermutigendes zu, wie etwa „Dein Griff vorhin hat mir wirklich Mühe gemacht!“ Wenn der andere ihn selbst am Boden festhielt, dann gratulierte er ihm ganz aufrichtig dazu.

Monatelang weigerte sich die Einberufungsbehörde, seine ursprüngliche Einteilung zum I A-Kämpfer-Dienst in den Einsatz zum zweijährigen alternativen Zivildienst umzuwandeln, wie er beantragt hatte. Dieser Student sah nicht wie ein Fanatiker aus. Offensichtlich war er auch kein Muttersöhnchen. Warum wollte er also nicht riskieren, sich in der Luftwaffe oder bei der Infanterie den Hals zu brechen? Der Grund dafür sei, so versuchte G mit wenig Erfolg zu erklären, dass er glaube, es gebe einen besseren Weg, und er sei bereit, so gut wie jeden Preis dafür zu zahlen, diesen Weg auszuprobieren.

Schließlich ging man auf seinen Fall ein und teilte ihn schließlich einem Team von Eirene in Marokko zu. Die Lebensbedingungen dort waren genau so primitiv und stellten so hohe Ansprüche an ihn, wie er sie sich gewünscht hatte. Er unterrichtete algerische Flüchtlingswaisen in einem roh errichteten Schuppen. Am Morgen darauf in aller Frühe sollte er eine durch ein Erdbeben beschädigte Zisterne reparieren. Er wanderte also über einen Hügel, um die Betonierarbeiten zu überprüfen.
Als er gerade die andere Seite erreicht hatte, sauste ein Felsbrocken an ihm vorbei. Er war groß, etwa 5 Kilo. Wenn er nur ein paar Zentimeter näher gewesen wäre, wäre es ihm wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen, das was nun folgte, zu berichten.
G wollte natürlich wissen, woher der Felsbrocken gekommen war, und drehte sich gerade rechtzeitig um, um einen weiteren Brocken genau auf seinen Kopf zusausen zu sehen. Er duckte sich. Der Felsbrocken traf einen linken Arm und prallte ab.
G. war zwar erst seit ein paar Monaten im Land, aber er konnte schon etwas Französisch und Arabisch. „Warum“, fragte er in beiden Sprachen, „Warum tust du das?“
„Tahmout – Tahmout“, (du musst sterben, du musst sterben) schrie der andere.
G. stürzte sich auf ihn und ergriff seine Hand. Er wollte unbedingt herausbekommen, so schrieb er einen Monat später, „warum er so wütend war oder mich so sehr hasste. Er schlug seinen Kopf gegen meinen, deshalb ließ ich ihn los, da ich ja keine Gewalt anwenden wollte, und ich versuchte, mit ihm zu reden.“

In G.s Brief heißt es weiter: „Er schlug mir ein paar Mal mit der Faust ins Gesicht. Dann lief er, als er (vermute ich) sah, dass ich keine Angst hatte, ein Stück weit weg und nahm einen Felsbrocken auf, den er mir wieder an den Kopf warf. Ich hielt den Stein mit der Hand auf und versuchte dann, den Mann festzuhalten, aber er hatte schon einen weiteren Stein aufgehoben. Er schlug ihn mir auf den Kopf, so dass ich eine tiefe Wunde davon bekam. Nun gebrauchte ich meine Ringerfertigkeiten, ergriff ihn, drehte ihn herum und hielt ihn auf dem Boden fest.“
Das Spektakel erregte Aufsehen. G.s Angreifer wurde ins Gefängnis gesteckt und G. wurde in die Stadt gebracht, um medizinisch versorgt zu werden.

Zwei Tage danach erfuhr er, was geschehen war. Der junge Mann war verwirrt. Wenige Stunden, bevor er G. angegriffen hatte, hatte er zwei andere Menschen mit Steinen geworfen. Einer von ihnen war zu der Zeit, als G. den Brief über den Zwischenfall schrieb, noch im Krankenhaus. Zwar wollten die Beamten der lokalen Regierung, dass G. Anklage erhob, aber das wollte er nicht. Schließlich wurde der Kranke in die Psychiatrie in Casablanca geschickt.

„Zwei Tage nachdem ich von diesem Burschen verletzt worden war“, lesen wir
 weiter in seinem Brief, „war ich wieder in die Berge gegangen, um dort zu arbeiten (da wusste ich noch nicht, dass er krank war). Ich hatte nun vor allen Menschen dort Angst und traute ihnen so wenig, dass ich ihnen nicht den Rücken wandte. Ich denke, das war normal, aber nachdem ich erfahren hatte, dass er krank war, ging es mir besser. Vermutlich wurde ich darum nach diesem Erlebnis so ängstlich, weil ich den Grund dafür, dass er mich verletzt hatte und mich hatte töten wollen, nicht kannte. Am Tag nach diesem Ereignis wusste das ganze Dorf davon und sie testeten mich, denn sie hatten noch nie etwas von Gewaltfreiheit gehört. Sie hoben Felsbrocken auf, als wollten sie sie auf mich werfen. Sie verpassten mir eine und machten schnelle Bewegungen auf mich zu, , um zu sehen, ob mir das Angst machte. Ein Bursche packte mich am Halt (so, wie der Kranke es getan hatte) und tat so, als wollte er mich erwürgen. Ich zeigte ihm, wie ich mich dagegen wehren konnte und brachte ihn durch einen Trick, den ich einmal gelernt hatte, zum Aufgeben. Ein anderer tat so, als wollte er mir eins verpassen, als ich aus der Zisterne stieg. Ich wandte mich um, ergriff ihn und hielt ihn in die Luft. Das war ein einfacher Ringergriff, aber er veranlasste ihn, mich zu respektieren. Ich musste an diesem Tag den Leuten noch oft beweisen, dass ich keine Angst vor einem Kampf hatte, wenn er nicht im Ernst stattfand. Ich denke, ich bewies ihnen, dass ich kein Feigling war, nur weil ich den Jungen nicht verletzt hatte.“

G. bewundert die Geschicklichkeit, mir der diese Menschen Steine werfen. Damit, sagt er, hüten sie ihre Tiere. Er dankt Gott nicht nur dafür, dass er nicht von einem der 5 oder 6 Kilo schweren Felsbrocken erschlagen wurde, sondern auch dafür, dass er „(damals) keinerlei Furcht oder Hass empfand und dass er ihn nicht verletzte.“

„Ich muss wohl recht erregt gewesen sein“, fügt er hinzu, „denn alles ging mir so schnell durch den Kopf. Ich hatte damals keine Angst vor ihm und ich hasste ihn nicht. Aber etwas ging mir durch den Kopf, wofür ich mich schämte. Haben Sie das Buch Der hässliche Amerikaner gelesen? Ich dachte, mir könnte so etwas nicht passieren, weil ich ein Amerikaner bin. Ich denke, das war in meinem Unterbewusstsein. Mir gefällt das, was ich damals dachte, überhaupt nicht, aber ich bin wohl auch nur genau so schwach wie alle anderen.“

Aus dem Buch:
Instead of cowardice or hate
COURAGE IN BOTH HANDS
Dramatic stories of real men and women who accomplished more than they believed they could
Allan A. Hunter
Copyright © 1962 by Allan A. Hunter Printed in the United States of America
BALLANTINE BOOKS, INC.
101 Fifth Avenue New York 3, N. Y.